Christoph Hein - Verwirrnis

  • Klappentext (Quelle: Amazon):


    Friedeward liebt Wolfgang. Und Wolfgang liebt Friedeward. Sie sind jung, genießen die Sommerferien, fahren mit dem Fahrrad die weite Strecke ans Meer, und reden stundenlang über Gott und die Welt. Sie sind glücklich, wenn sie zusammen sind, und das scheint ihnen alles zu sein, was sie brauchen. Doch keiner darf wissen, dass sie mehr sind als beste Freunde. Es sind die 1950er-Jahre, sie leben im katholischen Heiligenstadt, und für die Menschen um sie herum, besonders für Friedewards strenggläubigen Vater, ist ihre Liebe eine Sünde. Käme ihre Beziehung ans Licht, könnten sie alles verlieren. Als sie zum Studium nach Leipzig gehen – Friedeward studiert Germanistik, Wolfgang Musik –, finden sie dort eine Welt gefeierter Intellektueller, alles flirrt geradezu vor lebendigem Geist. Und sie lernen Jacqueline kennen, die ihnen gesteht, dass sie eine heimliche Beziehung zu einer Dozentin hat. Zu viert besuchen sie die legendären Vorlesungen im Hörsaal vierzig, gehen ins Theater, tauchen gemeinsam ein ins geistige Leben der Stadt.Und da reift in den drei Freunden der Plan: Wäre es nicht die perfekte ›Tarnung‹, wenn einer von ihnen Jacqueline zum Schein heiraten würde?

    In seinem neuen Roman erzählt der große deutsche Chronist Christoph Hein bewegend von einer Liebe, die über Jahre hinweg allen Widrigkeiten trotzt und zeichnet zugleich ein lebendiges Panorama deutschen Geisteslebens.


    Allgemeine Informationen zum Buch:


    303 Seiten

    erschienen im Suhrkamp Verlag

    3. Auflage August 2018


    Mein Leseeindruck:


    Das Buch beginnt mit einer Liebesgeschichte: der engen Verbindung zweier Kinder, später junger Männer und den Schwierigkeiten, denen sie sich als homosexuelles Paar in den 50er Jahren ausgesetzt sahen. Im Mittelpunkt steht Friedeward Ringeling, geb. 1933, gestorben durch Suizid 1993. Wie seine Geschwister leidet er unter dem autoritären Regiment seines Vaters, dem er sich – anders als seine Geschwister - nicht entziehen kann. Der Vater wird mit dem passenden Vornamen Pius versehen und wird gezeichnet als bigotter und fanatischer Katholik, der die Erziehungsmethoden des wilheminischen Zeitalters (die Mutter heißt, ebenso passend, Wilhelmine) für pädagogisch wertvoll erachtet und daher seine Kinder mit dem sog. Siebenstriemer auspeitscht. Seine Motivation wird ausführlich durch seine eigene Biografie erläutert: der Siebenstriemer ist quasi ein Familienerbstück vom Großvater her, und nur ihm habe er, Pius, seiner Ansicht nach seine Standhaftigkeit sowohl während der Nazizeit als auch gegenüber der StaSi zu verdanken. Hier weitet der Erzähler also den Fokus und versucht, eine Begründung für das Verhalten des frommen Vaters zu liefern. Diese Seiten, auf denen Pius die körperliche Züchtigung verteidigt, um der Jugend ihre „Verirrungen“ auszutreiben, gehören zu dem beklemmendsten im Buch. „Es war wohlgetan“, sagt Pius.


    Als Pius Anzeichen der Homosexualität bei seinem Sohn entdeckt, züchtigt er ihn bis aufs Blut – und während der ganzen Geschichte bleibt Friedeward ein gequälter Mensch, verletzbar und erpressbar, religiös zutiefst verunsichert und voller Zweifel an der moralischen Richtigkeit seiner sexuellen Orientierung. Er sieht sich zu einem ständigen Versteckspiel gezwungen, und auch als in der DDR, früher als in der Bundesrepublik, die Kriminalisierung der Homosexualität beendet wurde, weiß er, dass er zwar nicht ins Gefängnis wandern muss, aber dass die soziale Ächtung ihm sicher ist.


    Die Geschichte Friedewards, der an der Uni Leipzig zu Amt und Würden kommt, verbindet sich mit der Geschichte der DDR. Hier rückt der Erzähler v. a. den Ausverkauf der Universitäten nach der Wende in den Fokus: die Entlassung von Tausenden von Wissenschaftlern, die Veränderung des Lehrenden : Lernenden-Verhältnisses (angeblich von 1 : 5 auf ca. 1 : 400) sowie die Enteignung der Universitäten.


    Dies alles wird erzählt in einer eher einfachen Sprache und in einem nüchternen, chronikhaften Stil, der nicht mit (ermüdenden) Einzelheiten spart.

    Der Erzähler psychologisiert nicht, und er erhebt auch keinen moralischen Zeigefinder. Diese Erzählweise macht das Erzählte vielleicht eindringlicher, aber auch unnatürlicher. Vor allem die fast peinlich hölzernen Dialoge irritieren.


    Und genau da liegt für mich der Knackpunkt, in dieser leblos-hölzernen Art, ein Schicksal und seine zeitpolitischen Bedingungen zu erzählen.

    Hier wird doch ein Mensch gezeigt, der sein Leben lang unter gesellschaftlichen Zwängen leidet bis hin zum Suizid – und das ganze Geschehen wird erzählt, so wie eine gut geölte Maschine arbeitet, alles rollt sich mechanisch vor dem Auge des Lesers ab, der nicht beteiligt wird. Mir ist durchaus klar, dass Hein hier einen Schlüsselroman um die Person seines verehrten Hans Mayer geschrieben hat – aber dem mochte ich nicht nachgehen, da ich von einem Roman erwarte, dass er auch als reine Fiktion überzeugt.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • so wie eine gut geölte Maschine arbeitet, alles rollt sich mechanisch vor dem Augedes Lesers ab, der nicht beteiligt wird

    Mir geht es ähnlich beim zuhören des Hörbuches. Obwohl Sylvester Gort als Sprecher überzeugt, es liegt an dem was der Autor mit dieser Geschichte macht.

    für pädagogisch wertvoll erachtet und daher seine Kindermit dem sog. Siebenstriemer auspeitscht.

    Erschütternd wie die familiäre Situation der Figuren gezeichnet sind, jedoch der Autor vermag es nicht, ihnen Persönlichkeit zu geben. Auch wie die beiden ersten Kinder das Haus verlassen - sie waren da - sie sind gegangen.

    Eigentlich sollte eine solche Geschichte ein ständiges Unwohlsein beim lesen/zuhören auslösen, leider ist das nur teilweise der Fall. Auch wenn man sich den körperlichen wie seelischen Blessuren von Friedward bewusst ist, sie vermögen durch die Sprache in welcher der Autor die Geschichte erzählt mich als Leser zu wenig berühren.


    Der Artikel in der NZZ hat mich bewogen dieses Buch zu lesen/hören - denn

    Zitat

    Heins neuer Roman heisst «Verwirrnis», und es ist eine grossartig leise Erzählung über das Geschrei und Gefuchtel der Moral.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • serjena Findest du, dass der Sprecher gut war? Ich fand ihn schrecklich. So monoton und hölzern, teilweise die Betonung irgendwie merkwürdig. Die Geschichte selber fand ich auch eher zum Einschlafen...

    Du bringst es auf den Punkt - hölzern und monoton - das liegt jedoch nicht am Sprecher - es ist die Geschichte, und somit finde ich liest er sie absolut richtig- mich überzeugt er. Gut lässt er jegliche Betonung aussen vor -das würde nicht passen.

    Die Geschichte selber fand ich auch eher zum Einschlafen...

    So kann es einem mit Romanen hin und wieder passieren :wink:

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • serjena Findest du, dass der Sprecher gut war? Ich fand ihn schrecklich. So monoton und hölzern, teilweise die Betonung irgendwie merkwürdig. Die Geschichte selber fand ich auch eher zum Einschlafen...

    Du bringst es auf den Punkt - hölzern und monoton - das liegt jedoch nicht am Sprecher - es ist die Geschichte, und somit finde ich liest er sie absolut richtig- mich überzeugt er. Gut lässt er jegliche Betonung aussen vor -das würde nicht passen.

    Ok so hab ich das jetzt noch gar nicht betrachtet :mrgreen:

  • Du siehst das alles sehr ähnlich! Das freut mich natürlich. Ich mag diese besondere Kargheit der Sprache Christoph Heins durchaus, aber hier fand ich sie einfach unangebracht.

    Erschütternd wie die familiäre Situation der Figuren gezeichnet sind, jedoch der Autor vermag es nicht, ihnen Persönlichkeit zu geben. Auch wie die beiden ersten Kinder das Haus verlassen - sie waren da - sie sind gegangen.

    Und was mich sehr abgestoßen hat: die Art und Weise, wie der Tod des Bruders Hartwig erzählt wird. Da rührt sich ja gar nichts bei dem Vater, bei der Mutter ansatzweise - aber der Tod hat weiter keine Bedeutung, weder für die Eltern noch für Friedeward.

    Das kann doch nicht sein.

    Und folglich rührt sich auch beim Leser nichts.


    "Persönlichkeit geben" - ich denke, dass er es beim Vater versucht, wenn er auf mehreren Seiten dessen Vorgeschichte vorstellt, mit allen Einzelheiten. Und wenn er ihm dann wieder Raum gibt, seinen Siebenstriemer zu rechtfertigen. Damit bindet der Erzähler den Vater in allgemeine Zeitläufe ein und zeigt ihn als Produkt seiner Zeit und seiner Erziehung - aber auch damit bin ich nicht so ganz zufrieden. Der Erzähler nimmt damit dem Vater die Chance der Reflexion, der Meinungsänderung, der Annäherung an seine Familie. Der Vater bleibt eine hölzerne, statische Figur, ohne jede Entwicklung.

    Na ja, vielleicht gibt es ja so Menschen.

    Aber in diesem Buch sind sie alle merkwürdig seelenlos.

    Und das bei diesem Schicksal...

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Christoph Hein - Verwirrnis

    Fliegen ist schön


    Dieses Buch ist ein Roman über das Leben eines homosexuellen Mannes. Friedeward Ringeling wurde am 1. September 1933 in Heiligenstadt als Sohn eines frommen Englischlehrers und einer Krankenschwester geboren. Er wuchs mit seinen beiden Geschwistern in einem recht lieblosen Elternhaus auf, dafür werden die Kinder kontrolliert und jede Unerzogenheit der Kinder wird bestraft, die Schwester Magdalena mit einem "Klaps auf den Hintern" oder einer "Kopfnuss", die beiden Brüder Hartwig und Friedeward bekommen schon den Siebenstriemer zu spüren. Die Folge ist, dass die beiden älteren Geschwister ihr Heil außerhalb des Elternhauses suchen. Friedeward ist recht gut in der Schule, sondert sich von den anderen ab, nur ein Junge findet Zugang zu ihm. Wolfgang Zernick, der Sohn des Pastors, ebenso gut in der Schule und ein Sonderling. Beide freunden sich an, werden unzertrennlich, fangen an Gefallen aneinander zu finden. In den Sommerferien fahren Beide mit den Fahrrädern an die Ostsee zum Zelten und da haben sie ihre ersten erotischen Erfahrungen miteinander. Aus Friedeward und Wolfgang werden Friedl und Wölfchen. Doch beide wissen, dass sie sich verstecken müssen, es ist nicht die Zeit für offene homosexuelle Handlungen. Darauf steht noch eine fünfjährige Gefängnisstrafe, eine Gefängnisstrafe für die Liebe ?!?! Sie versuchen es zu verbergen, Friedewards Vater bekommt es trotzdem heraus und sorgt durch Drohungen dafür, dass sich ihre Wege trennen, natürlich nicht ohne seinen siebzehnjährigen Sohn ein weiteres Mal mit dem Siebenstriemer blutig zu schlagen. Friedl und Wölfchen treffen sich später beim Studium in erst Jena/dann Leipzig wieder, hier in Leipzig treffen sie auf das lesbische Paar Jacqueline und Herlinde, und alle vier werden zu einer eingeschworenen Gemeinschaft, verstecken sich und ihre Neigungen weiter gemeinsam und schützen sich gegenseitig. Weiterhin ist dieser Roman ein guter Blick auf die Geschichte Deutschlands, besonders die Geschichte Leipzigs und seiner Universität und einige Größen dieser schönen Stadt, ein Blick auf die Geschichte Leipzigs bis 1993 führend. Und natürlich ein schöner Blick auf ein verstecktes Leben. Wobei ich mir und hier die Frage stelle, warum sollte sich Liebe verstecken müssen?


    Dieser Roman ist nicht gefühlsüberbordend geschrieben, fast nüchtern und etwas kühl. Ich hatte erst Angst ob ich Zugang zum Geschehen finden werde. Aber diese Ängste waren unbegründet. Den Zugang fand ich recht schnell und trotz des recht sachlichen Schreibstils berührte mich das Geschilderte tief. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, wieso Liebe, das Beste was Menschen anderen Menschen geben können, bestraft wird, weil Bornierte und Kleingeister unter uns das so möchten und gerade diese Liebe verdammen. Das ist einfach nur traurig und leider auch immer noch ein Thema. Die historischen Informationen des Romans fand ich aufschlussreich und interessant. Der Schreibstil entwickelt einen recht hohen Sog, ich hatte es an einem Tag durch und fand das Buch sehr schön.

  • Blutleer - wenn ich den Roman ganz kurz beschreiben müsste, fiele mir dieses Wort ein.


    Ich mag Bücher gern, die die Emotionen ihrer Figuren nicht laut und ausdrücklich beschreiben, sondern es mir als Leserin ermöglichen, sie zwischen den Zeilen zu entdecken. Aber in diesem Fall finde ich weder in noch zwischen den Zeilen etwas. Allenfalls die Szenen der Züchtigung durch Friedewalds Vater und dessen

    Rechtfertigung machen fassungslos und rufen Abscheu hervor.


    Das Ganze liest sich, als hätte Hein einen Zeitungsartikel über einen schwulen Mann verfasst, der lieber untergeht statt sich zu outen.
    Wenn sperrige Begriffe durch noch sperrigere ersetzt werden, geht auch der Rest Lebendigkeit flöten, z.B. wird „Sitzung des Lehrkörpers“ synonym für Lehrerkonferenz“ gesetzt.


    Von dem, was auf politischer Ebene passiert, erfährt man in Nebensätzen; die Sachverhalte werden erwähnt, aber es ist nichts zu spüren von der Euphorie des Mauerfalls und der Wiedervereinigung.


    Ein staubtrockener Roman. Manch ein Beipackzettel für Medikamente ist spannender.


    :bewertung1von5::bewertungHalb:

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)