Sarah Moss – Gezeitenwechsel / The Tidal Zone

  • Verlagstext

    Adam Goldschmidt lebt als hauptberuflicher Vater, nebenberuflicher Dozent und Ehemann einer überarbeiteten Ärztin in einem Vorort von Coventry. Seine Tage drehen sich um schmutzige Wäsche, vitaminreiche Ernährung und pädagogisch wertvolle Kindergeburtstage. Doch dann kommt der Morgen, an dem er einen Anruf aus der Schule seiner Töchter erhält. Er beginnt mit den Worten, von denen ein jeder hofft, sie niemals hören zu müssen: Es ist etwas passiert.

    Sensibel, humorvoll und mit einer Intensität, die unter die Haut geht, erzählt Sarah Moss von den Absurditäten eines Familienalltags in Großbritannien, von der Liebe zwischen Eltern und ihren Kindern, vor allem aber von den Momenten, die uns die Zerbrechlichkeit des Lebens vor Augen führen.


    Die Autorin

    Sarah Moss, 1975 geboren in Schottland, studierte und promovierte an der Oxford University. Heute unterrichtet sie an der University of Warwick. Sie ist die Autorin der Romane Schlaflos (2013), Wo Licht ist (2015), Zwischen den Meeren (2016) sowie des erzählenden Sachbuchs Sommerhelle Nächte: Unser Jahr in Island (2014).


    Inhalt

    Miriam Goldschmidt ist 15, als sie auf dem Schulgelände einen anaphylaktischen Schock mit Atemstillstand erleidet. Ihr Sportlehrer findet sie zufällig, seine Wiederbelebungsmaßnahmen retten ihr Leben. Miriam wird im Krankenhaus gründlich untersucht, der Auslöser ihrer Probleme jedoch nicht gefunden. Ein Allergen, Kälte, eine genetische Disposition sind denkbar. Welche Materialien sind in unserem Haus und in der Schule eigentlich verbaut, würden sich besorgte Eltern sicher fragen. Das Familienleben der Goldschmidts scheint von diesem Tag an stillzustehen. Die Familie wird gemeinsam zum Patienten unter der Fuchtel eines uneffektiven Gesundheitssystems, das die Eltern von nun an als „Mama“ und „Papa" anspricht. Die Angst vor einem erneuten Atemstillstand wird die Goldschmidts nicht mehr verlassen.


    Während Miriam noch im Krankenhaus ist, drängen bisher ignorierte Konflikte an die Oberfläche. Emma Goldschmidt ist als Allgemeinärztin schon immer mit den Vorwürfen ihrer Familie konfrontiert, sie arbeite zu viel und könne in ihrer knappen Freizeit nicht abschalten. Vater Adam sollte als Hausmann mit stundenweiser Lehrtätigkeit den Haushalt mit zwei Töchtern organisieren. Adam wirkt wie ein perfekter Vater aus dem Bilderbuch, der sich jedoch ständig selbst beweisen muss, dass er seine Sache gut genug macht. Obwohl die Töchter längst den ganzen Tag über in der Schule sind, scheint seine Hausarbeit nicht weniger zu werden. Für Akademiker, die wegen ihrer Familie ortsgebunden sind, gibt es keine Stellen – in dieser Haltung scheint Adam zu verharren. Das Leben der Goldschmidts wird von nun an von der Sorge um Miriam beherrscht. Wo ist sie, atmet sie, hat sie ihren Epi-Pen dabei. Für eine 15-Jährige, die bisher täglich dem verhassten Patriarchat die Zunge herausgestreckt hatte, geht das gar nicht. Ihre jüngere Schwester Rosa reagiert eifersüchtig auf die Patientin; sie möchte endlich eine Katze.


    Ein Anruf von Adams Vater lenkt den Blick auf die Familiengeschichte. Eli Goldschmidt kam aus den USA nach England, um dem Kriegseinsatz in Vietnam zu entgehen; Adams Mutter, eine geübte Schwimmerin, ertrank als junge Frau beim Schwimmen im Meer. Auch Elis Leben war bereits von “Gezeitenwechseln“ geprägt und offensichtlich von der folgenden Generation zu wenig beachtet. Überraschend für alle, wird es Eli sein, der die Familie von nun an stützt.


    Fazit

    Sarah Moss lässt einen Hausmann vom normal-verrückten Alltag mit schulpflichtigen Kindern erzählen. Die Ereignisse rückt sie durch den Rollenwechsel der Eltern in ein besonderes Licht., verfremdet sie an anderen Stellen durch einen märchenhaften Stil. Rückblenden lassen bis zum Schluss hoffen, dass für Miriams gesundheitliche Probleme doch noch ein Auslöser entdeckt wird. Ein dritter Handlungsfaden stellt eine Verbindung zur Zerstörung der Kathedrale von Coventry her, er könnte für die existenzielle Bedrohung stehen, aber auch für Adams Berufsidentität als Wissenschaftler, die lange zu kurz gekommen ist. Das Spiel mit wechselnden Erzählern und Tonlagen hat mich nicht unbedingt überzeugt, die stärkste Wirkung hatte die Botschaft: Lass Jugendliche sein wie sie sind, du kannst nicht jede Minute in ihrem Leben überwachen.


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Buchdoktor

    Hat den Titel des Themas von „Sarah Moss – Gezeitenwechsel / The Tidal Zon“ zu „Sarah Moss – Gezeitenwechsel / The Tidal Zone“ geändert.
  • Ein dritter Handlungsfaden stellt eine Verbindung zur Zerstörung der Kathedrale von Coventry her, er könnte für die existenzielle Bedrohung stehen, aber auch für Adams Berufsidentität als Wissenschaftler, die lange zu kurz gekommen ist.

    Eigentlich geht es ja schwerpunktmäßig um die Probleme bei einem zeitgemäßen Wiederaufbau derselben nach dem Zweiten Weltkrieg, wenn ich das richtig verstanden habe. So, wie um den Wiederaufbau eines vermeintlichen Familienglücks nach der Katastrophe des Beinahtodes Miriams.


    Adasm neigt immer wieder zu Abschweifungen und Exkursen und setzt seine eigene Krisensituation oft mit historischen oder auch zeitgenössischen Krisen in Beziehung, auch um so vielleicht sein eigenes Elend zu relativieren. Eine Vorgehensweise, die seine Frau und seine ältere Tochter des Öfteren mal irritiert - obwohl er seine Gedanken natürlich nicht so oft in Worte fasst, wie er sie denkt und damit der Leserschaft präsentiert. Man merkt ihm den Geschichtsstudierten auf jeden Fall sehr gut an.


    Aber diese Abschweifungen können einem auch zuviel werden und deswegen würde auch ich hier nur vier Sterne geben wollen.