Francesca Melandri - Alle, außer mir / Sangue giusto

  • Autorin: Francesca Melandri

    Titel: Alle außer mir

    Seiten: 604

    Verlag: Klaus Wagenbach Berlin

    Übersetzerin: Esther Hansen.


    Erster Satz: Heute ist Attilio Profeti gestorben, und sein Horoskop lautet: "Ein schöner und erfreulicher Tag erwartet Sie."


    Zitat von Amazon.de


    Der große Roman der römischen Autorin Francesca Melandri: eine Familiengeschichte, ein Porträt Italiens im 20. Jahrhundert, eine Geschichte des Kolonialismus und seiner langen Schatten, die bis in die Gegenwart reichen. Kennen Sie Ihren Vater? Wissen Sie, wer er wirklich ist? Kennen Sie seine Vergangenheit? Die vierzigjährige Lehrerin Ilaria hätte diese Fragen wohl mit »ja« beantwortet, und auch ihre Angehörigen glaubte sie zu kennen bis eines Tages ein junger Afrikaner auf dem Treppenabsatz vor ihrer Wohnung in Rom sitzt und behauptet, mit ihr verwandt zu sein. In seinem Ausweis steht: Attilio Profeti, das ist der Name ihres Vaters ... Der aber ist zu alt, um noch Auskunft zu geben. Hier beginnt Ilarias Entdeckungsreise, von hier aus entfaltet Francesca Melandri eine schier unglaubliche Familiengeschichte über drei Generationen und ein schonungsloses Porträt der italienischen Gesellschaft. Und sie holt die bisher verdrängte italienische Kolonialgeschichte des 20. Jahrhunderts in die Literatur: die Verbindungen Italiens nach Äthiopien und Eritrea bis hin zu den gegenwärtigen politischen Konflikten verknüpft Melandri mit dem Schicksal der heutigen Geflüchteten und stellt die Schlüsselfragen unserer Zeit: Was bedeutet es, zufällig im »richtigen« Land geboren zu sein, und wie entstehen Nähe und das Gefühl von Zugehörigkeit?



    Meine Meinung:

    Ich dachte immer, dass eine gute Geschichte, gut recherchiert und glaubwürdig zusammen mit einem hervorragenden Schreibstil, ein geniales Buch ergeben würden, aber dieses Buch ist das beste Beispiel dafür, dass es nicht immer so ist.

    Leider verliert sich dieses Werk in uninteressante Nebenhandlungen, die zwar grob zur Geschichte gehören, aber m.E. nicht notwendig sind. Diese führen aber dazu, dass der Lesefluß massiv gestört wird, weil wieder irgendein Charakter, der nur entfernt eine Rolle spielt und man schon vergessen hat (mindestens ich), auftaucht und sehr detailliert Dinge erlebt, auf die die Geschichte problemlos hätte verzichten können. Und von diesen "Nebendarstellern" gibt es einfach zu viele.

    Dazu kommt noch, dass die Familiengeschichte nicht chronologisch erzählt wird und immer wieder aus verschiedenen Perspektiven.

    Diese Tatsachen haben dazu geführt, dass mir das Lesen recht oft sehr schwer gefallen ist.

    Mit den Charakteren, bis auf einen, bin ich nicht warm geworden, aber das ist sicher so gewollt.

    Einfach nur schade. Dieses Buch hat Abschnitte, die so genial sind, dass ich gerne mehr Sterne vergeben würde, aber in der Gesamtheit verdient es nur :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:.


    Wer gerne gut recherchierte historische Romane liest, die unverblümt erzählen was gewesen ist und sich nicht davon abschrecken lässt, dass vieles zu genau und detailliert beschrieben wird, zu viele Charaktere eingeführt werden und die Chronologie nicht existiert, dann schenkt dieses Buch eine tolle sehr gut geschriebene Geschichte, die sehr berührt.


    Ich werde der Schriftstellerin eine 2. Chance geben.

    Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste.
    Heinrich Heine

  • Squirrel

    Hat den Titel des Themas von „Francesca Melandri - Alle, außer mir“ zu „Francesca Melandri - Alle, außer mir / Sangue giusto“ geändert.
  • Das richtige Blut


    Wow, was für ein Buch. Da wird die Geschichte einer Familie erzählt, in der Zeit vom ersten Weltkrieg bis heute. Aber eigentlich noch so viel mehr. Dabei werden die Personen der Familie charakterlich gut und ausgefeilt rübergebracht. Es werden ihre Gedanken mitgeteilt und auch die Konflikte, die sie mit sich und ihrer Umgebung ausfechten. Und dabei kommt das Menschliche in all seinen Facetten voll zur Geltung.


    Gleichzeitig wird aber auch die Geschichte Italiens beschrieben, und im Näheren teilweise auch eine jetzige Geschichte Roms. Es geht um die Machtergreifung des Mussolini und seiner Partei, es geht um seine Anhänger, es geht um Italiens Rolle im zweiten Weltkrieg, um Nationalismus, um Rassismus und Verblendung, es geht auch um den Sexismus, und seinen Einsatz im Krieg und gegen politische Gegner. Und es wird auch eine Geschichte Äthiopiens und Eritreas gezeichnet, ebenso teilweise erhält man Einblicke in die Geschichte Libyens. Es werden die politischen Verflechtungen der beiden Gebiete (Kolonialmächte, Kolonien) zum Thema gemacht. Die Macht der Kolonialmacht Italien und ihre Weiterführung auch nach dem Ende der Kolonialzeit. Die politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen mit den ehemaligen Kolonien die erhalten blieben, nur das jetzt auch einige Kreise in den jeweiligen Ländern etwas davon hatten.


    Und eigentlich ist hier Italien nur ein Beispiel. Ich denke in ähnlicher Weise könnten auch über einige andere Länder und ihre ehemaligen Kolonialstaaten berichtet werden. Das macht betroffen, aber nicht nur, man sollte sich auch fragen, in wie weit man das selbst mitträgt/mitgetragen hat. Denn es ist auch etwas was wir alle wissen. Vielleicht nicht im ganzen Ausmaß. Aber es ist dennoch bekannt.


    Es geht um die Macht, die Despoten über ein Volk haben können und was das bedeutet. Es geht um die Verantwortung der ehemaligen Kolonialmächte in ihrer politischen Stellung zu diesen Despoten. Und damit auch um eine Verantwortung Europas gegenüber seinen ehemaligen Kolonien.


    Und es geht um das heutige "Problem" der Flüchtlinge. Es wird beschrieben was so eine Flucht für Betroffene bedeutet. Und wie man sich an Flüchtlingen schadlos halten kann. Und wie diese Flüchtlinge auch eine Veränderung nach Europa tragen. Aber bedeutet Veränderung per se etwas Schlechtes. Es geht auch um den heutigen allgegenwärtigen Rassismus, wie er sich versteckt, aber trotzdem da ist. Und es wird auch etwas über die Rolle der heutigen Bewohner Europas gesagt. Ihre Rolle in der Flüchtlingsproblematik. Etwas über die Schuldfrage. Und jeder von uns sollte sich fragen wie er/sie zum Thema Rassismus denkt/fühlt/empfindet. Das geht uns alle an. Weil wir alle davon betroffen sind. Ich finde es ist ein Buch zur richtigen Zeit. Ich erhoffe mir sehr eine möglichst breite Leserschaft, dass möglichst viele Menschen sich über die Themen dieses Buches unterhalten/austauschen. Und möglichst auch Menschen, die sich von der Polemik gewisser politischer Strömungen beeinflussen lassen. Ein frommer Wunsch, ich weiß. Aber ohne Wünsche ist man doch gleich verloren. Und mir machen gewisse Prozesse in der Politik Angst. Weil ich nicht möchte, dass vergangene Zeiten wiederkommen. Und da wir alle Menschen sind, sollte uns das Thema Menschlichkeit/Menschsein doch angehen/interessieren/wach machen/politisch wach werden lassen. Und damit meine ich die positiven Seiten des Menschen, wie auch seine negativen. Ich will ja nicht verklärend auf den Menschen schauen.


    Bei den verschiedenen Mitgliedern der Familie sehe ich verschiedene Geisteshaltungen zu diesem ganzen Themenkomplex, was einen nachdenklich macht und die eigenen Gedanken dazu kritisch überprüfen lässt. Das Buch ist nicht chronologisch geordnet geschrieben, die Kapitel springen in den Zeiten und zu den verschiedenen Mitgliedern der Familie und wichtigen Personen ihrer Umgebung, trotzdem entsteht ein ganzheitliches Bild.


    Ein Bild, dass den Leser nachdenklich zurücklässt.


    Unbedingt Lesen !

  • Ein Buch aus dem Genre des Familienromans zu schreiben erlaubt es dem Autor, nicht nur eine Geschichte zu erschaffen, sondern ein Netz zwischen Figuren zu knüpfen, von denen jede Protagonist ihrer eigenen Story ist, und so einen prallvollen Schmöker zu entwickeln. Irgendwo läuft der rote Faden der Haupthandlung und daran entlang hangeln sich Nebenhandlungen, Rückblenden und andere Exkurse.

    So auch in diesem Buch, und trotzdem ist es anders. Real und schwer auszuhalten.


    Es geht um die Familie von Attilo Profeti, Bigamist, Soldat im Einsatzgebiet Äthiopien, nazifreundlich im Zweiten Weltkrieg, zu Ehren und Reichtum gekommen im Italien der Nachkriegszeit. Mit seiner ersten Frau hat er zwei Söhne und eine Tochter, einen jüngeren Sohn mit seiner Geliebten und jetzigen Ehefrau. Alt, dement und krank verbringt er die Tage im Rollstuhl.

    Im Mittelpunkt steht Tochter Ilaria, Lehrerin, politisch eher links verortet, die ein geheimes Verhältnis mit einem Politiker der Berlusconi-Regierung hat. Ihr Leben wird durcheinandergewirbelt, als ein Äthiopier auftaucht, der laut seinem Pass denselben Namen trägt wie ihr Vater und ihr Neffe zu sein scheint.


    Jede Generation trägt ihr Päckchen Gewalt, entweder als Täter oder als Opfer. Die italienischen Kolonialherren in Äthiopien, die ihren Rassismus aus abstrusen Forschungen herleiten und begründen – was sie aber nicht hindert, mit schwarzen Frauen zu leben. Die Mitläufer und Opportunisten zur Nazizeit und im Zweiten Weltkrieg. Später arrangiert man sich mit den wechselnden italienischen Regierungen bis Berlusconi und kommt dank Vetternwirtschaft, Korruption und Beziehungen auf seine Kosten.

    Dem gegenüber steht Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti, der in seinem Heimatland und auf den verschiedenen Stationen seiner Flucht immer wieder Gewalt erfahren musste, körperlich und psychisch.


    Es ist ein monumentales Werk, das die Autorin geschrieben hat. Anhand der exemplarischen Familie Attilo Profetis entrollen sich fast hundert Jahre italienischer Geschichte mit besonderem Blick auf Unrecht, Gewaltherrschaft und Unterdrückung.

    Als Leser braucht man einen langen Atem und muss sich eine dicke Haut zulegen, um die Wucht dieser Geschichte zu ertragen.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)