George Saunders - Zehnter Dezember / Tenth of December

  • Kurzmeinung

    Mojoh
    Sehr düstere, sozialkritische und literarisch ausgefeilte Kurzgeschichten. Nicht einfach zugänglich, aber sehr gut.
  • Kurzmeinung

    tom leo
    Stilistisch, sprachlich - vom Feinsten. Ausgefeilt ins Letzte. Jedoch meist sehr dunkel, gar pessimistisch?!
  • Klappentext:

    Niemand versteht es, so virtuos und ungewöhnlich über ganz gewöhnliche, unvollkommene Menschen zu schreiben, die sich mit einer nicht ganz gewöhnlichen, unvollkommenen Welt herumschlagen, wie George Saunders. Der unumstrittene Meister der zeitgenössischen Shortstory überzeugt mit seinen Erzählungen nicht nur die literarische Welt, in den USA gehört er auch zu den Bestsellerautoren. Denn seine brillanten, witzigen, unverfroren zärtlichen Geschichten sind von höchster sprachlicher wie gedanklicher Klarheit und Tiefe – diese Erzählungen vergisst man lange nicht. – Amazon


    Zum Autor:

    George Saunders wurde 1958 in Amarillo, Texas, geboren, lebt heute mit seiner Frau und zwei Töchtern in Oneonta, New York, und ist Dozent an der Syracuse University. Er hat mehrere Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht, erhielt u.a. 2013 den PEN/Malamud Award und 2014 den Folio Prize. Das Echo auf seinen ersten Roman »Lincoln im Bardo« war überwältigend: Man Booker Prize 2017, Shortlist für den Golden Man Booker Prize, Premio Gregor von Rezzori 2018, New York Times-Nr.1-Bestseller, SWR-Bestenliste Platz 1 und Spiegel-Bestseller. – Amazon


    Allgemeine Informationen:

    Originaltitel: Tenth of December

    Erstmals erschienen 2013 bei Random-House, New York

    Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Frank Heibert :love:

    10 Erzählungen, Danksagungen

    270 Seiten


    Die einzelnen Erzählungen:


    Sprung zum Sieg

    Soll Kyle eingreifen, als er sieht, dass das Nachbarmädchen entführt wird?


    Gestell

    Der Vater des Erzählers hat vor dem Haus ein Gestell aufgebaut, woran er wechselnde Dekorationen und Botschaften hängt.


    Welpe

    Die Familie der immerfröhlichen Marie möchte einen jungen Hund aus Callies Haushalt aufnehmen. Doch dort herrscht das Chaos.


    Flucht aus dem Spinnenkopf

    Die Teilnahme an einer medizinischen Versuchsreihe wird Jeff als Alternative zu einem Gefängnisaufenthalt geboten.


    Appell

    Abteilungsleiter Todd schreibt an seine Mitarbeiter, um ihre Motivation zur Arbeit anzufeuern.


    Al Roosten

    Al Roosten hängt ständig seinen Tagträumen nach, in denen er ein erfolgreicher, glücklicher und angesehener Mann ist. Zu handeln bereitet ihm mehr Probleme.


    Die Semplica-Girl-Tagebücher

    Der ich-erzählende Tagebuchschreiber wird vom Neid auf besser gestellte Leute geplagt. Als er im Lotto gewinnt, besorgt er sofort die angesagten Semplica-Girls.


    Zuhause

    Mikey, ein Kriegsveteran, kehrt nach Hause zurück.


    Mein Ritterfiasko

    Ted beobachtet den sexuellen Missbrauch an seiner Kollegin. Der Mann ist ihr gemeinsamer Chef.


    Zehnter Dezember

    Ein dicker Junge und ein todkranker Mann begegnen sich an einem zugefrorenen Weiher.


    Meine Meinung:

    Klingt ziemlich alltäglich bis banal? Ist es aber nicht.

    Saunders ist ein Geschichtenerzähler der besonderen Art. Er transportiert normalen Alltag in ein Science Fiction-Ambiente, er spinnt ein lapidares Was-wäre-wenn in einen technischen Zusammenhang, er entwickelt Szenerien, die beim Leser Grauen verursachen. Seine Figuren sind Gescheiterte, Super-Schlaue, Tagträumer, Deppen, Zu-kurz-Gekommene, Hyperaktive, Faulenzer, … – gemeinsam ist ihnen, dass ihre Gedanken und Gefühle fehl geleitet werden, dass ihnen die eigenen Motive unklar sind, und dass ihnen eine ehrliche Reflexion über das eigene Verhalten fehlt.

    Dennoch: Aus jeder Zeile ist eine innige Verbundenheit des Autors mit seinen Figuren spürbar, eine leise Ironie vielleicht, aber niemals führt er sie vor oder macht sie lächerlich.


    Und manchmal spielt er mit dem Leser; er verwehrt ihm die Eindeutigkeit und lässt ihm den Spielraum, eine Handlung weiter zu denken, anders zu denken oder zu drehen.

    Andererseits kommen gewisse Motive immer wieder vor, in anderen Zusammenhängen oder mit anderer Bedeutung.


    Saunders zu lesen ist eine Herausforderung, man könnte so weit gehen und sagen: Ein Abenteuer. Nichts ist, wie es scheint, und hinter der nächsten Kurve – dem nächsten Absatz – könnte der Abgrund lauern. Rechnet man mit dem Abgrund, kann man auf einer Blumenwiese landen. Alles scheint möglich.


    Bei meinem ersten Leseversuch vor ein paar Monaten bin ich gescheitert. Mein Glück, dass sich eine Leserunde fand. Stück für Stück öffneten sich die Erzählungen.

    Die Leserundler und diejenigen, die mitgelesen haben, wissen, was das Herzchen neben dem Namen des Übersetzers zu sagen hat. Alle anderen dürfen sich zur Befriedigung ihrer Neugier durch 30 Seiten Leserunde kämpfen. :P

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Marie

    Hat den Titel des Themas von „George Saunders - Zehnter Dezember“ zu „George Saunders - Zehnter Dezember / Tenth of December“ geändert.
  • Bei meinem ersten Leseversuch vor ein paar Monaten bin ich gescheitert.

    Daran knüpfe ich etwas an. Ich habe zwar alle Kurzgeschichten gelesen, konnte aber zunehmend weniger damit anfangen. Lediglich die erste Erzählung "Sprung zum Sieg" fand ich auch in der Erzählform klasse, aber aber alle übrigen Stories waren "schräg". Ich kann nicht mal ausmachen, was mich gestört hat, denn formulieren kann der Autor, auch die Wortschöpfungen sind super. Dass die Protagonisten Aussenseiter sind, stört mich sonst auch nicht - sie werden zudem liebevoll von Saunders skizziert. Und doch fehlt mir bspw der Witz einer Lucia Berlin. Saunders Geschichten sind meist verstörend und deprimierend, aber weniger beklemmend und absurd wie bspw bei Kafka. Vielleicht waren auch meine Erwartungen zu hoch, oder ich muss die Geschichten auch mehrmals lesen.

    Und manchmal spielt er mit dem Leser; er verwehrt ihm die Eindeutigkeit und lässt ihm den Spielraum, eine Handlung weiter zu denken, anders zu denken oder zu drehen.

    Ja, dieses Undeutliche hat mich wohl am meisten gestört. Lauter Geschichten, bei denen ich dachte, was soll das denn? Dazu muss man vielleicht auch in der richtigen Stimmung sein...

    Schade, hatte ich keine Zeit an der MLR teilzunehmen; ab und zu hatte ich mal mitgelesen - es war ja eine sehr produktive Runde mit hilfreichem Gedankenaustausch. Prima hat es Euch allen so gut gefallen. Ich behalte mir mal seinen Lincoln-Roman auf der Merkliste, aber vermutlich nicht für dieses Jahr.

  • Dass die Protagonisten Aussenseiter sind

    Und genau das geht mir noch im Kopf herum. Manche Situationen bzw. Charaktere sind derart schräg, dass man lachen könnte, aber dann gefriert einem das Lachen. Mir wurde erst bei der Heimkehrergeschichte "Zuhause" die sozialpolitische Dimension seiner Kurzgeschichten klar. Es geht um entwurzelte Existenzen, z. B. um Menschen, die strampeln, um nach oben in bessere Verhältnisse zu kommen und sich dennoch nicht lösen können bzw. denen die Lösung verwehrt wird.

    Das "Undeutliche", wie Du es nennst, fand ich auch besonders herausfordernd. Es blieb so vieles an Leerstellen offen, die man als Leser selber füllen musste.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Schade, hatte ich keine Zeit an der MLR teilzunehmen

    Wirklich schade. Vielleicht hättest Du dann einen Zugang gefunden. Ging mir nämlich so. Nach meinem ersten Leseversuch war ich sehr enttäuscht, weil mich der Lincoln über alle Maßen bewegt hatte und Saunders primär als Autor von Erzählungen gilt.

    (Aber - bitte - was ist das denn für ein Autor, dessen Literatur man nur in der Gruppe kapiert. :shock: :wink:)

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  • was ist das denn für ein Autor, dessen Literatur man nur in der Gruppe kapiert

    Ich denke, dass es eher die Form der Kurzgeschichte ist, die oft verrätselt oder parabelartig daherkommt. Die Handlung ist reduziert, das Personal beschränkt, der Text ist kurz und jedes Wort zählt - das macht das Verstehen schwieriger.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich war auch Teilnehmer der Leserunde und hätte sicherlich ohne den intensiven Austausch ebenfalls irgendwann die Flinte ins Korn geworfen. Sie hat den Zugang zu den Geschichten sehr erleichtert.

    Dadurch konnte ich auch in die Geschichten eintauchen und die meisterhafte Sprache, Ideen und Wortschöpfungen genießen und erleben. Saunders Stil ist wirklich einzigartig, geschliffen klar, da sitzt jedes Wort genau dort wo es hinsoll. Und daher war auch die Übersetzung von Herrn Heibert eine absolut geglückte Meisterleistung.

    Ich kann mich Marie s Eindrücken absolut anschließen, die es wirklich wunderbar auf den Punkt gebracht hat. :pray:


    Ich behalte mir mal seinen Lincoln-Roman auf der Merkliste, aber vermutlich nicht für dieses Jahr.

    Ein Wort hierzu: Den Lincoln fand ich unter Beibehaltung aller positiver Eigenschaften, die auch in Saunders Kurzgeschichten vorkommen deutlich zugänglicher und "einfacher" zu lesen. :thumleft:


    Was aber nichts über die Qualität der einen oder anderen Erzählform aussagen soll.

    "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


    "Chaos is found in greatest abundance wherever order is being sought. It always defeats order, because it is better organized."

    Terry Pratchett

    "The person, be it gentleman or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid."

    Jane Austen


    :study:

    Alex Haley - Roots

    Andrew Jefford - Whisky Island

    Randale Munroe - What if 2


    :bewertung1von5: 2024: 5 :bewertung1von5:

  • alle Teilnehmer der MLR die gleiche Bewertung

    Ja, das habe ich auch bemerkt. Und wenn Nungesser bei der MLR mitgemacht hätte, wären es sicher auch bei ihm ein paar Sterne mehr geworden. :-,

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  • Ja, da hast Du recht Marie . Bei einer Leserunde gewinnt man immer mehr Eindrücke zu einem Buch. Der Austausch beleuchtet den Inhalt aus allen Winkeln, und gerade bei so einem Erzählband beschäftigt man sich viel intensiver mit dem Gelesenen als als „Einzelkämpfer“. Umgekehrt könnte man aber auch vermuten, Ihr MLR-Teilnehmer habt Eure Leserunde bewertet, den Spass dabei und hätte jeder für sich gelesen, dann hätte mancher evtl ein bisschen weniger Sterne vergeben :wink:

  • hätte jeder für sich gelesen, dann hätte mancher evtl ein bisschen weniger Sterne vergeben

    Da stimme ich Dir zu. Nachdem ich das Buch zum ersten Mal gelesen hatte, war ich nah an der :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:-Bewertung.

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  • Ich habe ja zeitgleich „Bountyland“ gelesen, das wurden auch 4,5 Sterne.

    Du hattest wahrscheinlich durch die MLR so viel Anlauf, dass Dir der Sprung auf Anhieb gelang. :wink::)

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  • Marie hat das Ganze toll zusammengefaßt! Danke! Von meiner Seite nur der Kommentar, dass ich dem Buch durchaus sprachlich, stilistisch, ideenreichtumsmäßig... volle fünf Sterne gegeben hätte. Die bei aber doch fast allen vorherrschende - zumindest habe ich es so gefühlt - sozusagene Zweideutigkeit macht einen etwas kirre im Kopf. Ja, okay, gegebenfalls gut so, aber auch sehr anstrengend.


    Erstaunt und positiv beeindruckt war ich dann von jenem kleinen Satz aus den Danksagungen, dass diese und jene Saunders "an das Gute im Menschen glauben lassen". Das verwundert dann fast schon.


    Es war eine tolle Leserunde, und wie auch für die anderen, würde ich beipflichten, dass eben durch das gemeinsame Lesen erst manches entschlüsselt wurde. Vielleicht, nein: sicher, hätte ich vieles nicht wahrgenommen, oder wäre an der "ersten Variante" stehengeblieben...