Harry Parker - Anatomie eines Soldaten / Anatomy of a Soldier

  • Verlagstext

    Captain Tom Barnes leitet einen Einsatz der britischen Armee, als er auf eine Landmine tritt. Zwei einheimische Jungen werden in den Konflikt hineingezogen, kaum ahnend, was dort geschieht. Auf allen Seiten verändert Gewalt das Leben von Grund auf. - In diesem ungewöhnlichen Roman erzählen die Gegenstände des Krieges: Turnschuhe, Soldatenstiefel, Helm, ein paar Dollar, eine Drohne, ein Fahrrad, ein militärischer Orden, ein Glas Bier, eine Schneeflocke, medizinisches Gerät und eine Landmine. - Anatomie eines Soldaten ist bewegend, aufwühlend und visionär: über den Krieg, tiefe Wunden und das Überleben. - Eine Tour de Force. In seinem brillanten und verführerischen Roman entblößt Harry Parker die geheimen Kräfte des Krieges. Diese Seiten sind gefährlich, aber sie enthalten Mitgefühl und Trauer. Man kann sich nur wundern, dass Menschen sich das gegenseitig antun. Der Krieg wird hier durch die Lupe betrachtet, aber ist doch völlig real.

    Nadeem Aslam

    -> Guardian-Artikel


    Der Autor

    Harry Parker, aufgewachsen in Wiltshire, ging mit 23 Jahren zur britischen Armee und war im Irak und Afghanistan im Einsatz. Heute lebt er als Schriftsteller und Künstler in London.


    Inhalt

    Captain Tom Macintosh ist im Einsatz in Afghanistan schwer verwundet worden. Erzählt wird seine Geschichte von 45 Gegenständen und damit aus ebenso vielen unterschiedlichen Perspektiven. Zeugen der Ereignisse sind Ausrüstungsgegenstände wie Toms Kampfstiefel, alle mit seiner Personenkennziffer markiert, medizinische Geräte, die bei seiner Rettung und Rehabilitation zum Einsatz kommen, aber auch für das Leben in Afghanistan charakteristische Gegenstände. Die Handlung läuft nicht linear ab; die Szenen wirken beliebig gemischt und aneinandergereiht. Harry Parker hat nach eigener Aussage seine Kapitel so verfasst und angeordnet, dass sie in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können. Aus unterschiedlichsten Mosaikstückchen wird die Kausalkette der Ereignisse in Afghanistan allmählich zusammengefügt.


    In einigen Kapiteln wird zunächst noch nicht deutlich, um welchen Gegenstand es sich handelt, und die eigene Vermutung muss evtl. später korrigiert werden. Angesichts der blutigen Details von Toms Verwundung wirkt das verzögerte Erkennen der Abläufe für die Leser des Romans wie ein Schutzfilter. Die Gegenstände sind eindeutig den beteiligten Fronten zuzuordnen; sie gehören der britischen Armee, Zivilpersonen oder Aufständischen, die die unerwünschten Fremden erbittert mit Sprengfallen bekämpfen. Aus unterschiedlichsten Mosaikstückchen wird die Kausalkette der Ereignisse in Afghanistan allmählich zusammengefügt.


    Die ausländischen Truppen haben das ohnehin harte Leben im Land noch härter gemacht, halten sich aber für die Retter der Landbevölkerung. Drei Parteien stehen sich im Kampf gegenüber, zwei davon nehmen zögernd Verhandlungen miteinander auf. Tom Macintosh als Vertreter des Britischen Militärs wird aufgrund seiner Jugend und seiner geringen Erfahrung an diesem Einsatzort von den Einheimischen nur zögernd als Verhandlungspartner akzeptiert. Der prowestlich orientierte Kushan Hhan hat früher einmal die Bewässerung der Felder organisiert und will durch Zusammenarbeit mit den Briten erreichen, dass endlich wieder die zerstörten Häuser und Kanäle instandgesetzt werden und die Bauern ihren Lebensunterhalt verdienen können. Aktar führt eine Rebellengruppe, die wie er nicht aus der Gegend stammt.


    Der Gegensatz zwischen den beiden afghanischen Parteien wird in den beiden Jugendlichen Feridun und Latif erneut aufgenommen, die eher zufällig auf die Seite der Einheimischen und der Aufständischen geraten sind. Beide sind praktisch noch Kinder, denen gerade die ersten Barthaare wachsen. Die Jungen haben sich nicht bewusst für eine der Seiten und deren Weltanschauung entschieden, sondern Feridun will seiner Familie dienen und dem Vater gehorchen; Latif will ebenfalls mit seiner Tätigkeit zum Familieneinkommen beitragen.


    Mich hat zunächst verblüfft, dass Munition z. B. ein Bewusstsein davon haben kann, dass mehrere Exemplare von dieser Art existieren oder ein Schuh wissen kann, dass er selbst und sein spiegelbildliches Gegenstück beide zusammen ein Wir bilden. Ein Teppich, auf dem einheimische Wortführer mit britischen Militärangehörigen verhandeln, wird zum wichtigen Zeugen des Gespräches. Wer außer dem Dolmetscher würde mehr über ein so wichtiges Treffen wissen als der Teppich? Wer zweifelt, ob unbelebte Gegenstände Bericht erstatten können, wird mit dem Buch vermutlich nicht glücklich. Mit den Gegenständen als Gedächtnisstütze fand ich die ungewöhnliche Erzählweise sehr wirkungsvoll. „Anatomie eines Soldaten“ wird mir von allen bisher gelesenen Kriegsromanen sicher eindringlich im Gedächtnis bleiben. Tom ist dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen. Durch das gesamte Buch hindurch hat mich die Frage nach menschlichen Fehlern begleitet. Welche Fehleinschätzungen sind Tom unterlaufen? Wie hätte es sein Schicksal beeinflusst, wenn Befehlsgeber oder Mediziner anders entschieden hätten? Kann eine ausländische Macht mit militärischen Mitteln in einem Land wie Afghanistan überhaupt etwas erreichen? Was können Fremde bewirken, die keinen Schimmer von der regionalen Kultur haben und die ohne Dolmetscher und deren Interpretation der Lage kaum handlungsfähig wären? Hätte es für die beiden afghanischen Jungen andere Handlungsmöglichkeiten gegeben?


    Fazit

    Niemand kann diesen Kampf gewinnen, hat Hhan bereits zu Anfang festgestellt. Und das ist sicher die entscheidende Erkenntnis aus diesem bemerkenswerten Buch.


    Zitat

    Und dann war er gegangen. Er sah seinen Vater nie wieder, aber ein Mann war gekommen, um seine Mutter zu sprechen, und sie hatte geschluchzt. Da er nicht gewusst hatte, was zu tun war, war er mit seinen Freunden spielen gegangen. Es war ein anderer Krieg, aber derselbe Kampf. Vielleicht war auch seine Mutter jetzt tot. Es war egal.“ (Seite 13)


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