Ruth Schweikert - Wie wir älter werden

  • Verlagstext

    Unser ganz normales, brüchiges Leben – ein berührender Zeit- und Familienroman der Schweizer Autorin Ruth Schweikert

    Wie spät ist es? Draußen liegt Schnee. Drinnen bereitet der 87-jährige Jacques wie jeden Morgen das Mittagessen für seine pflegebedürftige Frau Friederike vor. Neun Jahre lang lebte er zwischendurch mit einer anderen Frau zusammen, dann aber kehrte er in seine alte Ehe zurück. Auch im Leben der erwachsenen Kinder und Enkelkinder gibt es immer wieder Trennungen und Wandlungen, Abschiede und Aufbrüche, getrieben von der Sehnsucht nach Freiheit und Verlässlichkeit zugleich. In wechselnden Perspektiven umkreist ›Wie wir älter werden‹ die Geschichten dreier Generationen, die vom Zweiten Weltkrieg bis in die unmittelbare Gegenwart reichen. Ein Familienroman über das Vergehen der Zeit und die verschlungenen Wege der Liebe.


    Die Autorin

    Ruth Schweikert wurde 1964 in Lörrach geboren und ist in der Schweiz aufgewachsen. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Zürich und ist als Schriftstellerin und Theaterautorin tätig. Von ihr erschien 1994 der vielbeachtete Erzählungsband „Erdnüsse. Totschlagen“ und 1998 ihr erster Roman „Augen zu“. 1994 erhielt sie beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb das Bertelsmann-Stipendium und 1999 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung. Zuletzt erschien 2005 ihr Roman „Ohio“.


    Inhalt

    Vom Altern der Babyboomer

    Jacques und Friederike sind kürzlich in eine altengerechte Wohnung gezogen. Das Leben des betagten Paars ähnelt dem vorsichtigen Balancieren auf einem Seil, das jederzeit mit dem Absturz in die Pflegebedürftigkeit enden kann. Friederike nimmt in Raten Abschied von Kompetenzen; wegen ihrer brüchigen Stimme hat sie ihren geliebten Chor aufgegeben. Nicht zu fallen, absorbiert einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit. Friederike braucht keine Anregungen mehr von außen, sie ist sich selbst Last genug. Wer keine kalten Füße kennt, mag Friederikes braune Wollsocken als Inbegriff von Spießigkeit sehen. Ehemann Jacques scheint das verletzlich wirkende Arrangement noch zusammenzuhalten, auch wenn ihn beschäftigt, wie er einmal sterben wird. Zwischen beruflichen Terminen eilt Tochter Kathrin zu Kurzbesuchen herbei, die ihren Eltern keine wirkliche Unterstützung bieten. Rhetorische Manöver sollen beide Seiten beruhigen, doch längst ist nichts mehr zu beruhigen. Der bedrückenden Momentaufnahme konnte ich mich nur schwer entziehen.


    Ruth Schweikert faltet komplizierte Familienverhältnisse auf, die sich über drei Generationen erstrecken. Die Patchwork-Struktur ließ mich ab und zu innehalten, um mich zu fragen, von wessen Tochter mir da gerade erzählt wird. Den zeitlichen Rahmen bilden historische Ereignisse, weitausholend von Friederikes deutschem Vater als Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs, über die Mondlandung (1968) bis zum Attentat von Utøya (2011). Dem spürbaren Altern des Elternpaars im Prolog folgt das Schicksal der als Babyboomer geborenen Generation und ihrer Nachkommen. 1964, im Jahr von Kathrins Geburt, hat Jacques mit seiner Geliebten Helena eine weitere Tochter gezeugt, die von ihrem leiblichen Vater zunächst nichts weiß. Kathrin und ihre Halbschwester gehören zu einem starken Geburtsjahrgang, der einem sich abzeichnenden „Pflegenotstand“ entgegen altert. Helena ist bereits verstorben, in beiden Familien gibt es erwachsene Enkel.


    Das Altern der mittleren Generation war für mich das eigentliche Thema dieses Familienromans. Kathrin ist mit rund 50 Jahren beruflich zwar auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs und ihrer Leistungsfähigkeit angekommen. Sie hat lange vor der Lebensmitte bereits den frühen Tod Gleichaltriger erlebt, den Abschied von Träumen und den Punkt, von dem an alles nur noch abwärts zu gehen scheint. Ein roter Faden im Buch war für mich die finanzielle Abhängigkeit dieser mittleren Generation von den Eltern. In beiden der von Jacques begründeten Familienzweige scheitert die folgende Generation daran, sich und ihre Kinder aus eigener Kraft zu ernähren. Erst Brennan, Iris Sohn, distanziert sich von der finanziellen Abhängigkeit und will unabhängig von seiner Mutter leben. Die Kinder scheinen nicht erwachsen zu werden, ihre Eltern können in hohem Alter immer noch nicht aufhören, sich um sie zu sorgen. Bezeichnend für die Unselbstständigkeit der Nachkommen sind deren Umzüge zurück in den sicheren Kokon des Heimatorts, die vordergründig der Sorge um die Eltern dienen. Doch der Kokon zeigt erste Risse. Eine Gesellschaft von Erben, die Demokratie und Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht selbst erkämpft hat, ruht sich auf den von den Eltern gewonnenen Lorbeeren aus, zu kraftlos, um für sich selbst zu sorgen. Die Symbolik einer kindlich-fordernden, gefräßigen Göre als amerikanische Noch-nicht-Schwiegertochter verursachte mir eine Gänsehaut. Das vaterlose Aufwachsen von Kindern setzt sich in Jacques Clan über die Generationen fort. Kindern werden Lügen über ihre abwesenden Väter erzählt; Heimlichkeiten, Süchte, Selbstzerstörung und psychische Krankheiten prägen die Familienbeziehungen.


    Ruh Schweikerts Bilder und Symbole haben mich sehr nachdenklich zurückgelassen: Der fast verlassene Ort in Italien, in den die ausgewandern Bewohner nur noch in den Ferien zurückkehren, die Figur des Hausarztes, der einst als Flüchtling in die Schweiz kam; das Bild eines Elternhauses, das alles für einen aufbewahrt, das die eigenen Kinder einmal brauchen könnten – oder auch nicht.


    Fazit

    In „Wie wir altern“ erzählt Ruth Schweikert sehr dicht, mit origineller Symbolik und liebevoll beobachteten Details aus einer Familie, deren Kinder zu den letzten geburtenstarken Nachkriegsjahrgängen gehören. Für mich war es einer der besten Romane des Jahres 2015.


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