Gunnar Cynybulk - Das halbe Haus

  • Verlagstext

    Geschichte geht durch diese deutsche Familie, die eigentlich eine halbe ist: Großmutter, Vater, Sohn. Krieg und Vertreibung haben sie zersplittert. Obwohl sie vom Schwarzen Meer stammt, zieht es sie in Zeiten des Kalten Krieges in den Westen. Vor allem der Vater, Frank Friedrich, träumt von den Brücken in Paris. Er drängt seine Mutter Polina, im Dezember 1981 aus der DDR in die Bundesrepublik überzusiedeln, und hofft auf die spätere Zusammenführung der Familie. Sein Sohn Jakob hat einen anderen Traum: die Kinder- und Jugendsportschule. Dann passiert das Unglück: Frank verliebt sich in die schöne Eva, die zu eng mit dem System verbunden ist. Dennoch treibt er sein Freiheitsprojekt voran. Im März 1983 wird er verhaftet. Das halbe Haus ist ein grandioser Familienroman, der drei Generationen und die wechselvollen Kapitel deutscher Geschichte umspannt. Er handelt von Menschen, die um ihre Würde bitter kämpfen müssen. Von Zeiten, in denen die Liebe und die Freiheit angefeindet werden. Warmherzig und mit viel Humor erzählt Gunnar Cynybulk von einem Kind, das die Zugvögel beneidet, weil diese zurückkehren können. Doch nur im Akt des Erzählens ist Rückkehr möglich.


    Der Autor

    Gunnar Cynybulk wurde 1970 geboren und wuchs in Leipzig auf. Mit vierzehn verließ er die DDR und zog nach Bayern. Er studierte Literatur, Geschichte und Philosophie in Berlin, wo er in einem Buchverlag arbeitet. „Das halbe Haus“ ist sein erster Roman.


    Inhalt

    Der Junge, der mit dem Autor des Romans Geburtsjahr und Wohnort gemeinsam hat, trainiert streng nach Plan für die Aufnahme auf die Sportschule. Als Leichtathlet will er in 7 Jahren Olympiasieger sein. Am Ende der Geschichte werden Jakobs Träume geplatzt sein; denn Sport ist eine politische Angelegenheit. Jakob gehört zu den Menschen, die außer ihrer Muttersprache zusätzlich eine Großmuttersprache haben und einen Wortschatz beherrschen, den andere nur in Büchern finden. Die Mutter des Jungen ist früh gestorben und er wächst in Leipzig bei seinem Vater und seiner Großmutter auf. Als Jakob in der Grundschule schreiben lernen soll, stolpert er darüber, dass er Wörter üben muss, die keinen Bezug zu seinem Leben haben. „Der Vater ist Arbeiter,“ müssen die Schüler schreiben. Jakobs Vater ist jedoch Chemieingenieur und seine Großmutter Polina arbeitet bei der Post. Auch Polina ist mit dem Lehrstoff nicht einverstanden und nimmt es selbst in die Hand, ihrem Enkel Wörter wie „Necessaire“ oder „Trottoir“ beizubringen. Später wird Jakob auch im Kinderlexikon Erklärungen finden, die sich nicht mit dem decken, was er zu Hause hört. Polinas Widerstand gegen die sprachliche Gleichmacherei des DDR-Regimes lässt sich nur aus ihrer Familiengeschichte erklären. Sie wuchs in Oloneschti (westlich Odessa) am Schwarzen Meer auf, als der Ort noch zum Zarenreich zählte, und heiratete einen Mann, dessen Familie Feze für den Export in die Türkei produziert hatte. In Polinas Jugend in Bessarabien hießen Männer Waldemar oder Herrmann und man sprach ein ausdrucksvolles, heute altmodisch klingendes Deutsch.


    Jakobs Vater Frank empfindet die DDR wie eine falsche Haut. Der junge Staat hat sich Frank zum Feind gemacht, indem er ihn am Tag nach dem Tod seiner Frau tief mit der Auskunft kränkte, als Witwer mit Kind habe er keinen Anspruch auf eigenen Wohnraum und solle bei seiner Mutter wohnen bleiben. Die tiefsitzende Kränkung macht Frank zum Querulanten und führt zu einem dilettantisch vorbereiteten Fluchtversuch über die verminte Grenze - mit Jakob an der Hand. Polina wird mit dem Erreichen des Rentenalters die DDR verlassen, um aus der Bundesrepublik die „Familienzusammenführung“ mit Sohn und Enkel zu beantragen. Wie Polina selbst zu Franks Fluchtplänen steht, erschließt sich erst indirekt aus ihrer eigenen Geschichte. Der sozialistische Einheitsstaat hat es offensichtlich nicht geschafft, Menschen wie Polina zu integrieren, in deren Leben die Diktatoren und politischen Systeme kamen und gingen. Auch Frank und Jakob scheinen wenig über Polinas Leben zu wissen und darüber, warum sie drei Söhne von drei verschiedenen Männern bekam.


    Fazit

    Polina mit ihren eigenwilligen Ansprüchen an den Wortschatz ihres Enkels hat mich sofort in diese Familiengeschichte in drei Generationen gezogen. Polina benutzt das friderizianische Vokabular des 18. Jahrhunderts. Ihr Staat jedoch fordert von seinen Untertanen, die er Bürger nennt, dass sie bruchlos zwischen der Muttersprache in den eigenen vier Wänden, der öffentlich akzeptierten Sprache und einer verschleiernden bürokratischen Kunstsprache wechseln können. Ähnlichkeiten sind nicht zu übersehen mit der kaum 30 Jahre vorher gescheiterten Diktatur der Nationalsozialisten, die bereits die deutsche Sprache verhunzte. Geschichten wie die mit den sorbischen Ostereiern müssen spätestens jetzt erzählt werden; denn schon bald werden sie sonst denen, die sie selbst erlebt haben, von der folgenden Generation nicht mehr geglaubt werden.


    Zitat

    Frank klopft und denkt, dass jener Axel recht hat: Immerzu wartet man hierzulande – auf ein Auto, auf Apfelsinen, auf eine Wohnung, auf einen Menschen, dass der Sozialismus zum Kommunismus wird, dass das Leben beginnt oder einfach etwas passiert. Und so viele Parolen, immerzu soll man sich den Worten beugen.“ (Seite 320)

    -----


    Fazit

    Gunnar Cynybulk entlarvt mit seinem Roman listig-ironisch sprachliche Feinheiten und damit zugleich den Kontrast zwischen Schein und Sein im damaligen Ostdeutschland, das gern DDR genannt werden wollte. Cynybulk führt seine Leser, die die DDR selbst nicht mehr kennenlernten, in ein (sprachlich gesehen) fremdes Land, das seine Nachbarn im Westen als NSA bezeichnete - Nichtsozialistisches Ausland. Herausgekommen ist ein sprachlich brillianter Familienroman dreier deutscher Generationen. Auch meiner Großmutter mit dem friderizianischen Wortschatz - in sprachlichen Fragen ebenso renitent wie Polina - hätte er unbedingt gefallen.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

    :musik: --


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow