Sabine Friedrich - Epilog mit Enten

  • Verlagstext

    Die Geschichte einer großen, unmöglichen Liebe

    „Berlin, 1976: ein Jahrhundertsommer. Ich war achtzehn, eine Schülerin aus dem Westen, du fünfundzwanzig, ein kleiner Dealer. Es begann, wie solche Lieben eben beginnen, besessen, verrückt, als ein großer Rausch.“ Fast vierzig Jahre später blickt sie zurück: auf die Reisen auf dem Hippie Trail durch Indien und Afghanistan, auf Versöhnungen, Trennungen, die Ehe in Norwegen, die Geburt der Tochter. Sie verlieren einander aus den Augen, doch dann erkrankt er an Krebs. Und sie versuchen ein letztes Mal, ihre gemeinsame Geschichte zu einem guten Ende zu führen.


    Die Autorin

    Sabine Friedrich, 1958 in Coburg geboren, studierte Germanistik und Anglistik und promovierte 1989 in München. Seit 1996 lebt sie mit ihrer Familie wieder in Coburg. Ihr erster Roman „Das Puppenhaus“ wurde 1997 veröffentlicht. Weitere Romane folgten, darunter „Familiensilber“ (2005) und „Immerwahr“ (2007). Im Jahr 2012 erschienen Sabine Friedrichs umfangreicher Roman über den Deutschen Widerstand: „Wer wir sind“ sowie ihr Werkstattbericht über die Entstehung dieses Romans.


    Inhalt

    Im Jahr 2013 trägt die Icherzählerin Sylvie ihren Exmann und Vater ihrer Tochter nach schwerer Krankheit zu Grabe. Für sie und ihre Tochter ist Gabos von ihm jahrelang angekündigter Tod eine langersehente Befreiung. Als sie Gabo 1976 in Berlin begegnete, war sie 18 und folgte gemeinsam mit ihrer Cousine dem Drang aus der fränkischen Provinz in die geteilte Stadt. Coburg war damals an drei Seiten von der Grenze zur DDR umgeben, ein Wochenendtrip durch die „Zone“ nach Berlin eine aus heutiger Sicht komplizierte Aktion, für die man einen Reisepass benötigte. 1976 war das Jahr, in dem sich die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof das Leben nahm, in dem Der Herr der Ringe auf Deutsch erschien und in dem Sylvie und ihre Clique Musik von Yes hörten. Sylvies Eltern stammten aus kleinen Verhältnissen, die Mutter wurde als Flüchtlingskind gewohnheitsmäßig ausgegrenzt, der Großvater hatte noch eine lupenreine Arbeiterbiografie. Als Lebensentwurf für Frauen war bis dahin nur die Ehe mit einem Partner „aus gutem Hause“ denkbar. Sylvie entdeckt, dass Rollenbilder aus Romanen nicht auf sie passen. Sie hat im Jahr vor ihrem Abitur exakt drei Vorsätze: sie sucht ihren Prinzen, will ein Buch schreiben und auf dem Landweg nach Indien reisen. Aus Indien sind gerade ein paar ältere Jungen ihrer Clique zurückgekehrt, pünktlich zum Semesterbeginn.


    Sylvies Reise auf dem Hippie-Trail wird völlig anders verlaufen, als Nebenhandlung einer zerstörerischen, alles verschlingenden Beziehung zu Gabo. Der einige Jahre ältere Gabo hatte bis dahin in Berlin vom Drogenhandel gelebt und bereits vor der Reise Sylvie auf manipulative Art in eine Beziehung gezwungen, in der die Partner nicht miteinander und nicht ohneeinander leben konnten. Wie Gabo den eigentlichen Reisepartner ausbootet, ist ein starkes Stück und erst der Anfang dieser lebenslang verschlingenden Beziehung. Sylvie schafft das Abi, studiert an die Indienreise anschließend, arbeitet, promoviert, knickt jedoch wieder ein, indem sie Gabo heiratet und ein Kind von ihm zur Welt bringt. Doch Gabo bleibt in den 70ern stecken, entwickelt sich nicht weiter, neidet im Gegenteil Sylvie ihre Entwicklung und ihr Mutterglück. Als Gabo mit Mitte 50 schwer erkrankt, ist Sylvie in zweiter Ehe verheiratet. Gabo gelingt es in seiner unnachahmlich manipulativen Art, sich als schwer Kranker in diese Familie zu drängen und sie auszunützen, bis ihre Zerstörung unmittelbar bevorsteht. In der Auseinandersetzung mit Gabo klingt der Ton voller Wut und schwer zu unterdrückendem Groll. Gabos Impulsivität, seine unrealistischen Pläne, sein ständiges Scheitern, durch das er wiederum Menschen mit Helfersyndrom gnadenlos ausnutzt, wirken wie ein extremer Fall aus dem Lehrbuch der Psychiatrie. Doch Sylvie ist erst 19, als sie nach Indien reist, Strategien gegen einen meisterhaften Manipulator konnte ihr ihre Erziehung nicht vermitteln. Zuvor ist sie zwar schon in Europa gereist; auf die Organisation dieser Traumreise hat sie ihr bisheriges Leben jedenfalls nicht vorbereitet. 1978 beginnt der Afghanistan-Konflikt – und danach sind Sylvies Erinnerungen leider nur noch eine gedankliche Abschiedstournee zu Orten, die sie so bald nicht wiedersehen wird.


    Sabine Friedrichs Roman setzt sich aus mehreren Ebenen zusammen, Reiseerlebnissen, einer erstickenden Partnerbeziehung, dem historischen Hintergrund der späten 70er (ein Jahrzehnt, das in Rückblenden aus heutiger Sicht hinter den magischen 80ern ins Hintertreffen zu geraten scheint), und der Entwicklung der Icherzählerin zur Autorin. Die Erzählerin richtet sich in ihrem Rückblick streckenweise direkt an Gabo, schafft Distanz, indem sie aus der Handlung heraustritt und von „der Frau“ und „dem Kind“ schreibt. Sie betrachtet aus dem Off heraus die ferne Neunzehnjährige, die sie damals war. Sylvie weist darauf hin, dass ihre Tagebücher nicht die Ereignisse nacherzählen, sondern ein eigenes Medium darstellen. Es sind unzuverlässige Quellen, deren Existenz verdeutlicht, dass Friedrichs Roman Fiktion ist, auch wenn die biografischen Eckpunkte im Leben der Autorin und ihrer Icherzählerin einige Gemeinsamkeiten zeigen. Die Bilder dieser Reise und die Landkarte von Sylvies Leben erhalten erst in der Erinnerung Substanz. Einige Erinnerungen lassen sich jedoch nachträglich nicht mehr verifizieren.


    Fazit

    Mich hat stets verblüfft, dass Länder oder Städte, die man mit 19, 20 Jahren bereist, häufig zu Lieblingsorten oder Herzensstädten werden. Sylvies magisches Alter für prägende Eindrücke hat mich in diesem Roman deshalb besonders interessiert. Die Verknüpfung von Reiseerzählung, Entwicklungsgeschichte und Analyse der Beziehung zu einem unverbesserlichen Narzissten hat mich hier äußerst positiv überrascht.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Weber - Bannmeilen (Paris)

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow