Michel Houellebecq - Serotonin / Sérotonine

  • Kurzmeinung

    Hypocritia
    ein verlorener Charakter in einer Gesellschaft, die Individualismus und Glück durch monetäre u sexuelle Stimuli verheißt
  • Klappentext (Quelle: amazon):


    Als der 46-jährige Protagonist von SEROTONIN, dem neuen Roman des Goncourt-Preisträgers Michel Houellebecq, Bilanz zieht, beschließt er, sich aus seinem Leben zu verabschieden – eine Entscheidung, an der auch das revolutionäre neue Antidepressivum Captorix nichts zu ändern vermag, das ihn in erster Linie seine Libido kostet. Alles löst er auf: Beziehung, Arbeitsverhältnis, Wohnung. Wann hat diese Gegenwart begonnen? In der Erinnerung an die Frauen seines Lebens und im Zusammentreffen mit einem alten Studienfreund, der als Landwirt in einem globalisierten Frankreich ums Überleben kämpft, erkennt er, wann und wo er sich selbst und andere verraten hat.

    Noch nie hat Michel Houellebecq so ernsthaft und voller Emotion über die Liebe geschrieben. Zugleich schildert er in SEROTONIN den Kampf und den drohenden Untergang eines klassischen Wirtschaftszweigs in unserer Zeit der Weltmärkte und der gesichtslosen EU-Bürokratie.

    Mein Leseeindruck:


    Der Protagonist mit dem ungeliebten Namen Florent ist ein gebildeter Mann in den besten Jahren. Er hat keine Freunde, keine Hobbies, und er tritt uns gleich zu Beginn mit seiner Selbstcharakteristik entgegen: ich war nichts anderes, war nie irgendetwas anderes gewesen als ein substanzloses Weichei.

    Für Waffen und Autos scheint er sich allerdings zu interessieren, da er sie genau beschreibt und ihre Marken kennt. Ebenso interessiert er sich für Supermärkte, deren Angebot er beschreibt. Und er interessiert sich sehr für sich und seine Befindlichkeiten, die er in einer Mischung aus Larmoyanz und kritischer Distanz beschreibt und die die Einnahme eines neuen Antidepressivums notwendig macht.

    Florent ist also ein merkwürdiger Protagonist, der wohl niemanden zur Identifikation einlädt.

    Er ist verheiratet mit Yuzu, einer puppenhaften Japanerin, die er zutiefst verachtet, und er entwickelt Pläne, sie aus dem Fenster zu werfen. Von diesem Plan kommt er jedoch und beschließt, seine Freiheit zu retten und spurlos zu verschwinden.

    Und nun nimmt die Geschichte Fahrt auf.

    Florent zieht sich in die normannische Provinz zurück und zugleich in seine Erinnerungen. Er erinnert sich an seine Frauen. Und die beurteilt er einseitig nach ihren sexuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die er dem Leser freigebig mitteilt, bis hin zur Sodomie bzw. Zoophilie.


    Hier habe ich mich zum ersten Mal gefragt, ob Houellebeqc seinen Leser nicht auf den Arm nimmt und austestet, wie weit er gehen kann – der öffentliche Applaus scheint ihm ja sicher zu sein.

    Ebenso verhält es sich mit den sehr eigenwilligen Urteilen über andere Menschen. Beispiel: Frauen sind grundsätzlich Schlampen. Auch andere Nationalitäten werden kurz und bündig bewertet wie z. B. die Niederländer: "die Holländer, das waren wirklich Schlampen, ein Volk polyglotter Kaufmänner und Opportunisten, diese Holländer, man kann es gar nicht oft genug sagen“.

    Diese grob strukturierten Urteile können einen erheitern oder auch nicht. Auf alle Fälle ist es so, dass sie durch die Tatsache, dass der Sprecher unter dem Einfluss seines Medikamentes und einer gehörigen Menge an Alkohol steht, gebrochen werden – meiner Meinung nach ein bewundernswerter Kunstgriff des Autors.

    Gegen Schluss erfolgt eine irritierende Volte: er wendet sich der Religion zu: „Gott kümmert sich tatsächlich um uns, er denkt in jedem Augenblick an uns, und manchmal gibt er uns sehr genaue Weisungen.“

    Das Buch hätte ich abgebrochen, aber zwei Dinge haben mich bei der Stange gehalten:


    - Immer wieder packt den ansonsten seelisch verarmten Ich-Erzähler ein echter Schmerz: die Trauer um seine verlorene große Liebe. Dass ein Begriff wie „große Liebe“ überhaupt nicht zu dem Erzähler und vor allem dem Erzählten passt, befremdet und berührt zugleich. Vielleicht nimmt uns der Autor hier wieder auf den Arm.

    - Die Beschreibungen seiner Einsamkeit sind sprachlich einfach gelungen. Hier zeigt uns der Autor einen Menschen, voller Lebensüberdruss, isoliert, eingesponnen in seine eigene Welt, leidend – das war nicht immer leicht auszuhalten.


    Fazit: ein trostloser und provokanter Roman.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Kann mir jemand erklären, was es mit den beiden Titeln auf sich hat? :-k


    drawe , Du hast schon mehrmals geschrieben, dass es sich bei diesem Buch um eines handelt, das "Serotonin" heißt, während auf dem Buchdeckel "Ohne Titel" zu lesen ist. Aber ich komme nicht dahinter, wie es dazu kommt. ?(

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Kann mir jemand erklären, was es mit den beiden Titeln auf sich hat? :-k


    drawe , Du hast schon mehrmals geschrieben, dass es sich bei diesem Buch um eines handelt, das "Serotonin" heißt, während auf dem Buchdeckel "Ohne Titel" zu lesen ist. Aber ich komme nicht dahinter, wie es dazu kommt. ?(

    Soweit ich unterrichtet bin wurde der Titel erst recht spät entschieden, bzw geheimgehalten als das Buch an sich aber schon fest angesetzt war zur Veröffentlichung. Die französische Version wurde Sérotonine und die deutsche Fassung ist dem "später" dann gefolgt. Einstweilen war auf den bis dato schon verlinkten Ausgaben die tatsächlich wortwörtlich zu nehmende Ankündigung zu lesen "Titel folgt"!


    Ist das so richtig, drawe?


    Ich habe das Buch schon im Haus, und würde es gerne später noch lesen - mal sehen! Hinter der provokanten Art Houllebecqs vermute ich etwas mehr als man zuerst mal annehmen könnte. Hört man sich den Kerl an, hat er etwas zu sagen...

  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Michel Houellebecq - Serotonin“ zu „Michel Houellebecq - Serotonin / Sérotonine“ geändert.
  • Ist das so richtig

    Soweit ich weiß, ja. Inzwischen hat das Buch aber längst den "richtigen" Titel, und daher vermute ich, dass

    es hier im BT noch nicht verlinkt ist.


    Ja, lies das Buch mal und berichte.

    Der Ich-Erzähler jongliert in einer Art und Weise mit Philosophen und anderen Geistesgrößen, dass mir ganz schwindlig wurde. Und dann lässt er wieder Despektierliches z. B. über Goethe raus (er bezeichnet ihn sinngemäß als Dampfplauderer), dass man wieder lachen muss über seine Demontagen.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).