Anita Brookner - Ein Start ins Leben / A Start in Life

  • Dr. Ruth Weiss ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet am zweiten Band ihres Werks über die Frauenfiguren in Balzacs Romanen. Als es ihren Eltern – für Ruth überraschend – gesundheitlich schlechter geht, wird sie aus Paris in ihr Elternhaus zurückgerufen, um sich um George und Helen zu kümmern. Im Rückblick entfaltet sich Ruths Aufwachsen bei distanzierten Eltern, die in ihren mittleren Jahren zumeist untätig zuhause herumlagen und sich dabei selbst bemitleideten. Ruth mochte keine anderen Kinder und flüchtete sich früh wie besessen in das Familienleben, das zwischen Buchdeckeln stattfindet. Ruth liest über Landbesitzer, Bergarbeiter und Pfarrhäuser; die Bibliothek ist ihr ganz großes Glück. In der Literatur lebt sie ein künstliches Leben, für das sie das Haus nicht verlassen muss. Im wirklichen Leben muss Ruth die Rolle der Erwachsenen ausfüllen, die ihre Eltern verweigern. Ihre Mutter Helen gibt ihre Tätigkeit als Schauspielerin auf, als ihr nur noch Rollen als Mutter der Hauptfigur angeboten wurden. Auch George, der Vater, zieht sich aus seinem Handel mit nicht näher definierten antiquarischen Büchern zurück. Die Familie lebt offenbar vom Erbe von Georges Mutter, das auch Ruth ihr Studium und einen Paris-Aufenthalt ermöglicht. George und Helen liegen in ihrem dekadenten, leicht verstaubten Haushalt meist ermattet herum und lassen sie sich von ihrer Haushälterin Mrs. Cutler bedienen. Nachdem Mrs. Cutler ein spätes Glück gefunden und den Haushalt verlassen hat, wird Ruth abrupt aus der Welt der Literatur gerissen und der Kreis zur Anfangsszene schließt sich.


    Gäbe es bei den Weiss keinen Fernseher und keinen Nierentisch, könnte die Handlung zu einer beliebigen Zeit nach Dickens spielen. Ruth empfand sich schon als Kind als Störenfried im Leben ihrer Eltern und macht für ein ängstliches Kind aus bohèmehaften Verhältnissen eine erstaunliche Karriere. Von George und Helen könnte ich mich selbst ermattet fühlen, wäre da nicht Anita Brookners spitzzüngiger Humor, mit dem sie den Haushalt der Weiss schildert, und wäre da nicht ihre Liebe zum Detail, mit der sie z. B. Ruths Start in ihr Leben in Paris in einem Dienstmädchenzimmer unter dem Dach beschreibt.


    Fazit

    Ein Highlight ist zweifellos das vorangestellte Interview von Julian Barnes mit der Autorin (voller Hochachtung für die Booker-Prize-Trägerin). Barnes spricht unverblümt an, dass Romanen über Frauen Mitte 40, geschrieben von einer Frau Mitte 40, im Literaturbetrieb gern unterstellt würde, der Text sei biografisch und überhaupt könnten Frauen nur biografisch schreiben. Warum das 40 Jahre nach Erscheinen dieses bemerkenswerten Romans noch immer so ist, sollte nach der Lektüre von „Ein Start ins Leben“ dringend diskutiert werden.

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: --

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Ich habe diesen Roman über eine junge (und dann etwas ältere) Frau im Literaturbetrieb gern gelesen, obwohl ich ihn unterm Strich als ziemlich düster wahrgenommen habe. Als autobiografisch hätte ich ihn jetzt nicht empfunden und wundere mich über eine derartige Unterstellung, habe aber die damalige Debatte nicht verfolgt.


    Beim Lesen habe ich viel über die Fragen nachgedacht, inwiefern man eigentlich selbst definiert oder aber - von wem auch immer - definiert bekommt, was ein Leben erfüllt und erfüllend macht, wann ein Leben als „gelebt“ bezeichnet werden darf oder wann es einfach in den Startlöchern steckengeblieben ist, wessen Schuld das dann ggf. ist und in welcher Hinsicht dies alles Ansichtssache sein kann oder nicht. Was hatte Ruth selbst in der Hand, wo war sie in äußeren Umständen gefangen oder von anderen Menschen getrieben? Welche Anforderungen im Leben kann oder muss man annehmen und welchen darf man sich guten Gewissens verweigern? Da wünsche ich den LeserInnen dieses Buches, dass sie sich immer mal anders entscheiden würden als Ruth. :lol: Falls es das ist, was die Autorin bezwecken wollte, nehme ich den Ausgang des Romans als gelungen wahr.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: Jutta Aurahs - Katzen :cat:

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :musik: Satoshi Yagisawa - Die Tage in der Buchhandlung Morisaki

    :montag: Dietrich Krusche (Hg.) - Haiku (Reread)

    :montag: Deb Olin Unferth - Happy Green Family (Reread)





  • Ich habe diesen Roman über eine junge (und dann etwas ältere) Frau im Literaturbetrieb gern gelesen, obwohl ich ihn unterm Strich als ziemlich düster wahrgenommen habe. Als autobiografisch hätte ich ihn jetzt nicht empfunden und wundere mich über eine derartige Unterstellung, habe aber die damalige Debatte nicht verfolgt.

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    Mit dem Thema, ob Frauen überhaupt literarisch schreiben können, war u. a. die junge Margaret Atwood konfrontiert. Sie hatte mit 25 das erste Romanmanuskript in der Schublade. In Interviews und bei Lesungen wurde ihr unverhohlen unterstellt, dass sie Variationen ihres eigenen Lebens beschreiben würde, nicht nur von männlichen Journalisten, sondern auch von Leserinnen ihrer Bücher. Atwoods erster Roman erschien 1969. Das Thema hat sich seitdem ganz und gar nicht erledigt. Auf die Unterstellung, Frauen würden nur Biografisches verarbeiten (können), stoße ich immer noch und immer wieder.

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  • Auf die Unterstellung, Frauen würden nur Biografisches verarbeiten (können), stoße ich immer noch und immer wieder.


    Ich werde bei der Lektüre von hochintellektuellen Buchbesprechungen im Feuilleton mal darauf achten. :lol:


    EDIT: Mir schwirrt ein Interview zum Thema "Autobiografisches in Romanen" im Kopf herum, wo der befragte Autor / die befragte Autorin (ich komme leider zum Donnerdrummel nicht darauf, wer das war) meinte, dass natürlich nahezu JEDE/R AutorIn Elemente der eigenen Biografie verwenden würde, aber eben nur scheibchenweise, anders zusammengewürfelt, auf unterschiedliche Figuren verteilt, in andere Zusammenhänge gestellt usw. - wer war das nur? :-k

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  • Anita Brookner * 16. Juli 1928 in London; † 10. März 2016 war eine britische Schriftstellerin und Kunsthistorikerin. Anita Brookners Eltern – Newson Bruckner und Maud Schiska – flüchteten vor den Pogromen in ihrer Heimat Polen und ließen sich in London nieder. Dabei änderten sie auch ihren deutsch klingenden Namen „Bruckner“ in „Brookner“.

    Ihre Schulzeit absolvierte Anita Brookner an der privat geführten James Allen's Girls' School in Dulwich. Anschließend studierte sie Kunstgeschichte am King’s College London und erwarb dort 1949 einen Bachelor of Arts. Zu ihrem Promotionsstudium wechselte sie auf Initiative von Anthony Blunt an das Courtauld Institute of Art der Universität London und konnte dieses 1953 erfolgreich abschließen. Im Anschluss daran absolvierte sie ein dreijähriges postgraduales Studium an der Universität von Paris.

    :study: Ich bin alt genug, um zu tun, was ich will und jung genug, um daran Spaß zu haben. :totlach: na ja schön langsam nicht mehr :puker:

  • Als Beitrag zum Thema "Schreiben Frauen nur biografisch?" ist mir die Diskussion um Lize Spit eingefallen. Junge Autorin, in einem kleinen Dorf aufgewachsen, schreibt ein Buch über ein kleines Dorf, ihr Roman kann demnach nur autobiografisch sein ...

    Lize Spit

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