Steve Tasane - Junge ohne Namen / Child I

  • Junge ohne Namen - Steve Tasane


    Fischer Sauerländer

    144 Seiten

    Lebensbuch

    Einzelband

    27. Februar 2019


    Inhalt:


    So nennen sie uns – Kind A, Kind E, Kind I usw.

    Weil wir nicht nachweisen können, wie wir richtig heißen. Ich bin Kind I.


    I hat weder Familie noch Papiere, das Einzige, was er hat, ist ein Buchstabe, I – so wird er genannt.

    Er lebt in einem Camp für Flüchtlinge, und als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling gehört er zu jenen, deren Zukunft am unsichersten ist. Doch die Kinder halten zusammen, und jeder Tag ist eine Zukunft für sich. Und I hofft.

    Auf einen neuen Namen oder sogar – einen Platz im Leben.


    Meinung:


    Uff. Ich gestehe, ich habe irgendwie mehr erwartet als das, was mir „Junge ohne Namen“ erzählt hat.

    Und trotzdem gab mir diese Schlichtheit, diese kindliche Geschichte ohne viel Schnickschnack doch irgendwie viel.

    Schwer zu beschreiben was ich davon halten soll.


    I ist 10. Glaubt er zumindest. Genau weiß er es nicht.

    Er erinnert sich noch an die Namen seiner Eltern und Geschwister, an ein paar schöne Zeiten.

    Doch das Leid, die Bomben, die Schreie, der Krieg sind ihm ebenfalls geblieben. Aber I lebt jetzt woanders.

    Zusammen mit L, V und E in einem Lager, das man kaum Zuhause nennen kann.

    Und sie kommen dort nicht fort. Stecken fest im braunen Schlamm, der jetzt ihr Leben ist, weil sie keine Pässe haben.

    Keine Papiere. Keine Familie.


    Der Autor erzählt eine wahre Geschichte.

    Und wahre Geschichten haben oft keine Spannungsbögen, keine aufregenden Kicks, keine ruhigen Minuten.

    I ist und bleibt ein Kind und so wird dieses Buch auch erzählt.

    Da findet man keine sprachlich gewieften Formulierungen, keine großen Gesten, keinen „gewollten“ Entwicklungsstrang.

    „Junge ohne Namen“ ist eine der Geschichten, die man direkt aus dem Leben gegriffen und aufgeschrieben hat.

    Einfach so. Zack, da. Und das Leben als Flüchtlingskind ist hart.


    Ich weiß, dass Kinder in solchen Lagern leiden.

    Dass sie hoffen und bangen. Dass sie hungern und weinen.

    Was ich aber nicht wusste - und das spricht für das Buch, weil ich es dem Autor, I, voll abgenommen habe - ist, dass die Kinder ja noch nicht viel von der Welt um sie herum verstehen.

    I weiß, was richtig und falsch ist, gut und böse und er ist trotz seiner recht ausweglosen Situation optimistisch.

    Spielen und Lachen sind gut.

    Hunger und Gestank sind es nicht.

    Also wird Ersteres bevorzugt und Letzteres versucht zu vermeiden.

    So einfach ist das. Und doch so schwer zu begreifen.


    Fazit:


    Ich will jetzt nicht sagen, dass mich das Buch über die Maßen berührt hat.

    Das wäre gelogen. Aber es hat irgendwas getan und sei es nur mich mit seiner Authentizität zu überzeugen. „Junge ohne Namen“ lässt den Leser einen Blick in das Leben von Kindern werfen, die kaum noch Perspektiven haben.

    „Junge ohne Namen“ urteilt nicht. Es zeigt nur auf. Es ist.

    Bar jeder Wut, aber mit den Augen eines Kindes.

    Ich konnte den Funken für die fünf Sterne nicht finden, aber vielleicht hätte ich einfach tiefer in dem braunen, stinkigen Brackwasser buddeln müssen.


    Bewertung:


    ⭐️⭐️⭐️⭐️ (4/5)

  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Steve Tasane - Junge ohne Namen“ zu „Steve Tasane - Junge ohne Namen / Child I“ geändert.
  • Heute ist der Schlamm trocken und verkrustet und weht in meine Augen. Heute habe ich Geburtstag. … “ Die Geschichte beginnt, atemlos, gleich auf dem Buchdeckel und setzt sich auf dem Vorsatzpapier fort. Kind I (im Original Child I), hat es eilig, der junge Erzähler muss heute noch seine Geschichte aufschreiben, ehe er sie vergessen haben könnte – und Papier scheint knapp zu sein. Wenn niemand aus deiner Familie mehr lebt, du keine Geschichten aus deiner Kindheit erzählt bekommst, verschwindet deine Familie aus der Erinnerung. Sein Onkel hat den Jungen in das Boot eines Schleppers gesetzt, er nickt ein, hat kein Geld und keinen Pass mehr, als er aufwacht. Ein Pass erzählt die Geschichte eines Menschen – Biografie, Erinnerung und Identität vereinen sich hier. Wer keinen Pass hat, hat damit kein Buch seines Lebens und auch keinen Geburtstag – darum ist der zehnte Geburtstag des Jungen genau heute.


    Der Junge I lebt in einem Flüchtlingslager und bildet mit den Kindern L, E und V eine eingeschworene Gemeinschaft. Die Buchstaben signalisieren ihre Zusammengehörigkeit. Wachleute sollen die Geflüchteten daran hindern, weiter in den Norden zu reisen. Wer wollte, könnte in sein Heimatdorf zurück – nur sind die Dörfer zerstört und die Bewohner getötet. Wenn Hilfsgüter geliefert werden, drängen Erwachsene die Kinder zur Seite, so dass sie nicht jeden Tag etwas zu essen bekommen. Der Junge I schließt sich einer freiwilligen Helferin an, die in einem Doppeldeckerbus einen Treff für Frauen und Kindern organisiert. Verantwortung für andere bringt wenigstens etwas Abwechslung in den öden Alltag im Lager. Auch wenn Schule hier sinnlos zu sein scheint und jeder eine andere Sprache spricht, wer seine Geschichte aufschreiben will, muss unbedingt Schreiben lernen.


    Steve Tasane erzählt Geschichten, die in Flüchtlingslagern genauso passiert sind. Er gibt den namenlosen Kindern ihre Geschichte zurück und motiviert damit andere, ihre Geschichte zu erzählen.


    Volle Sternezahl, weil ich das Zusammenspiel von Pass, Identität und Erinnerungen sehr gelungen finde.

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Gut, dass ausgerechnet L I V (und) E zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammengefunden haben. :thumleft:

    "Outside of a dog, a book is man's best friend. Inside of a dog, it is too dark to read."
    - Groucho Marx

  • Gut, dass ausgerechnet L I V (und) E zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammengefunden haben. :thumleft:

    Viel schöner finde ich auch L O V (und) E ;)

    Und es ging ja sogar noch weiter, als der Sohn der freiwilligen Helferin, C, dazu kam. Ab da hatten wir einen ganzen Satz, der meiner Meinung nach eine der Botschften dieses Buchs zusammenfasst:


    I C L O V E

    / I see love /


    Auch ohne "Lebensbuch", Heimat und Geschichte, erschaffen sich die Kinder doch eine Gemeinschaft, die auf Liebe und Zusammengehörigkeitsgefühl fußt.


    Ein starkes Buch und Plädoyer, sich mit den Ursachen und Auswirkungen von Flucht auseinanderzusetzen.

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +