Elena Ferrante - Frau im Dunkeln / La figlia oscura

  • Leda ist Ende vierzig, geschieden und Universitätsprofessorin für Anglistik in Florenz. Als ihre beiden erwachsenen Töchter zu ihrem Vater nach Kanada ziehen, mietet sie für die Sommerwochen eine kleine Wohnung in einem süditalienischen Küstenort. Sie möchte lesen, die Sonne und das Meer genießen, vor allem aber ihre neugewonnene Freiheit.
    Bereits in den ersten Ferientagen wird Ledas Aufmerksamkeit auf eine laute neapolitanische Großfamilie gelenkt, die sich am Strand neben ihr ausgebreitet hat, darunter eine junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter. Fasziniert beobachtet sie die beiden, erst wohlwollend und voller Sympathie, doch allmählich schlägt ihre Stimmung um. Erinnerungen an ihre eigene Mutterrolle, aber auch an ihre Kindheit drängen unaufhaltsam hervor und verderben ihr die unbeschwerten Urlaubstage.
    Einem plötzlichen, unerklärlichen Impuls folgend, tut sie dem kleinen Mädchen und ihrer Familie etwas Verstörendes an.


    Mit ihrem Debütroman aus dem Jahre 1992 hat Elena Ferrante ein beeindruckendes Zeugnis ihres schriftstellerischen Könnens vorgelegt. Von Anfang an hat mich die atmosphärisch dichte Sprache vollkommen in ihren Bann gezogen, gebannt bin ich Ledas Gedankengängen und Handlungsweisen gefolgt.
    Erzählt wird die Geschichte einer gebildeten jungen Frau, die sich frühzeitig aus den Fängen ihrer eigenen Großfamilie befreit, um sich alsbald in denen einer frühen Mutterschaft wiederzufinden. Während Ledas Mann seine eigene Karriere unbeirrt weiterverfolgt, fühlt sie sich mit der Erziehung der beiden gemeinsamen Töchter weitgehend alleingelassen. Ständige Müdigkeit ist das Resultat der Überforderung, ihre eigene wissenschaftliche Arbeit bleibt auf der Strecke.

    Zitat

    Ich war zu müde, um zu arbeiten, zu denken, zu lachen, zu weinen, diesen Mann zu lieben, der zu intelligent war, zu verbissen damit beschäftigt, seine Wette mit dem Leben zu gewinnen, zu abwesend. Liebe erfordert Energie, und die hatte ich nicht mehr.

    Schonungslos hinterfragt die Autorin die Selbstverständlichkeit, mit der Mutterliebe nicht nur im engsten Familienkreis, sondern auch von der Gesellschaft eingefordert wird. Eine Frau, die Mutter ist, hat in ihrer Aufopferung keine Schwächen zu zeigen, keine eigenen Bedürfnisse anzumelden, muss sich dem Nachwuchs lebenslang in inniger Liebe verbunden fühlen. Leda leidet nach der Abreise ihrer Töchter jedoch unter keiner verzehrenden Sehnsucht, sie empfindet vor allem eines: Erleichterung. Endlich ist sie von aller Fürsorge befreit, hat für niemanden mehr Verantwortung zu tragen, ist nur mehr sich selber verpflichtet. Doch augenblicklich meldet sich das schlechte Gewissen, stellt sich die Frage, ob Leda, da sie anders als erwartet reagiert, vielleicht gar keine gute Mutter war?
    Sehr geschickt verknüpft Elena Ferrante die Welt ihrer Protagonistin mit derjenigen einer italienischen Großfamilie, die als Sinnbild für die Rolle der Frau und Mutter schlechthin steht. Leda fühlt sich durch deren lautes, ruppiges, teilweise sogar ordinäres Verhalten einerseits an die Familie erinnert, der sie entstammt, mit der sie am liebsten aber nichts mehr zu tun haben möchte. Andererseits wird ihr jedoch auch das eigene Versagen als Mutter besonders deutlich vor Augen geführt, wenn sie die junge Frau im Umgang mit ihrer Tochter beobachtet.
    Erst als sie dem kleinen Mädchen Kummer bereitet, werden Risse in der Fassade sichtbar, droht die heile Welt einzustürzen. Der nähere Kontakt mit der Mutter macht Leda klar, dass auch sie nicht nur für ihre Tochter lebt, dass auch sie heimliche Sehnsüchte und unerfüllte Wünsche hegt.
    Neben der beeindruckenden Hauptfigur, die durch ihre Ehrlichkeit sich selber gegenüber besticht, hat mir die Charakterisierung der neapolitanischen Großfamilie besonders gut gefallen. Hübsche Frauen haben sich dem Diktat kleiner stämmiger Männer mit dicken Bäuchen zu fügen, junge Männer verhalten sich laut und rüpelhaft, kleine Mädchen sind nicht nur reizend und wohlerzogen. Streitigkeiten brechen immer wieder aus, doch letzten Endes halten sie alle zusammen. Wer sich gegen diesen Clan wendet, hat schon von vorne herein den Kürzeren gezogen, das muss auch Leda schmerzlich erfahren.
    Auf nur 155 eBook-Seiten erzählt Elena Ferrante eine inhaltlich und stilistisch gleichermaßen beeindruckende Geschichte, die mich mit ihrer Offenheit und Aussagekraft von Anfang bis Ende zu begeistern vermochte.


    Tiefgründige :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Vielen Dank für die ansprechende Rezension. :thumleft:


    Ich hatte mit der Neapolitanischen Saga so meine Schwierigkeiten (Band 1 enttäuscht beendet, Band 2 entnervt abgebrochen). Die Geschichte hier spricht mich inhaltlich aber sehr an, dass ich gewillt bin, der Autorin noch eine letzte Chance zu geben. Wir werden sehen, ich habe mir das Buch gerade in der Bücherei vorbestellt. O:-)

    :montag: Judith Hermann - Daheim


    "Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam."
    (Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen)


  • Vielen Dank für die ansprechende Rezension.

    Sehr gerne! :winken:Ich fand die Geschichte wirklich faszinierend, obwohl ich den 1. Band der Neapolitanischen Saga als Hörbuch ebenfalls abgebrochen habe. Eine Chance soll "Meine geniale Freundin" aber trotzdem noch bekommen. Vielleicht war's gerade nicht der richtige Zeitpunkt.

  • Debütroman aus dem Jahre 1992

    Sicher? Ich dachte, es wäre "Lästige Liebe" ("L'amore molesto"). :-k In meinem Exemplar steht als Erscheinungsjahr für das Original auch 1992, während für "La figlia oscura" das Jahr 2006 angegeben wird.


    serjena , kannst Du die Sache aufklären? Du hast bekanntlich sprachlichen Zugang zu italienischen Seiten, der mir fehlt.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Sicher?

    So steht es zumindest in meinem eBook als Information zum Buch:

    Zitat

    Elena Ferrante hat sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahr 1992 für die Anonymität entschieden.

    "Lästige Liebe" wird unter "frühere Romane" ohne Jahreszahl angeführt.

    Mehr weiß ich leider auch nicht! :-?

  • Debütroman aus dem Jahre 1992

    Sicher? Ich dachte, es wäre "Lästige Liebe" ("L'amore molesto"). :-k In meinem Exemplar steht als Erscheinungsjahr für das Original auch 1992, während für "La figlia oscura" das Jahr 2006 angegeben wird.


    serjena , kannst Du die Sache aufklären? Du hast bekanntlich sprachlichen Zugang zu italienischen Seiten, der mir fehlt.

    Tatsächlich ist "L'amore molesto" der Debütroman von Elena Ferrante erschienen 1992 mit welchem sie den Premio Procida - Isola di Arturo - Elsa Morante gewann und welcher verfilmt 1995 unter dem gleichen Titel.


    Man muss sehr aufpassen, denn durch den Hype welche "Die neapolitanische Saga" ausgelöst hat, :wink: werden alle ihre Bücher nochmals neu aufgelegt - und da kann ein solcher Schnitzer dem Verlag schon mal unterlaufen.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter