Zum Inhalt:
Arsènes Kindheit endet an dem Tag, an dem ihn seine Großmutter fortschickt. Ein hastig gepackter Koffer, kein Blick zurück: Für den achtjährigen Jungen beginnt die Flucht von Ruanda nach Europa. Im fernen Paris wächst er heran, findet neue Eltern, geht zur Schule und kommt doch nie an. Bis er der Schriftstellerin Suzanne begegnet, die ihre eigene Heimatlosigkeit in den Augen des Jungen gespiegelt sieht. Endlich bricht Arsène sein Schweigen, und im Erzählen verbinden sich für ihn Vergangenheit und Zukunft.
(Quelle: amazon.de)
Meine Meinung:
Ich bin zwiegespalten, was meine Meinung zu dem Buch betrifft.
Zunächst einmal: Ein Buch über Ruanda! Das nehme ich immer gerne und mit großem Interesse wahr. Man kann m.E. über den unsäglichen Völkermord gar nicht genug schreiben, wenn man einen Funken Hoffnung behalten will, dass die Weltgemeinschaft so etwas nicht noch einmal sehenden Auges geschehen lässt und nicht eingreift.
Aber ich finde an dem Roman leider auch viel zu kritisieren:
Zunächst einmal die Erzählform. Die Autorin gibt vor, die Geschichte aus zwei Perspektiven zu schreiben - der der Schriftstellerin Suzanne und der Arsènes. Da sie für den letzteren Strang aber die ungewöhnliche Du-Form einsetzt (von Suzanne an Arsène gerichtet), wird recht schnell deutlich, dass es sich dabei dann doch wieder nur um Suzannes eigenen Blick auf Arsène und ihre Interpretation seines Schicksals handelt. Es lässt den Jungen stumm werden, der doch angeblich im Laufe der Geschichte lernt, endlich für sich selbst und über sich selbst zu reden; es stellt diese behauptete Entwicklung daher im Prinzip wieder in Frage und belässt Arsène in der Opferrolle.
Die Geschichte von Arsènes Flucht und die Rolle, die sein Koffer dabei (und auch später) für ihn spielt, hat mich sehr bewegt und wird mich sicher auch noch eine Weile beschäftigen. Es wird in bewegenden Bildern angedeutet, was so eine Flucht, mutterseelenallein, für ein Kind emotional bedeuten kann. Hier hätte ich mir jedoch viel mehr Tiefe und mehr Details gewünscht, auch an früherer Stelle im Roman ein paar mehr Hinweise auf den Genozid in Ruanda. Wer die entsetzlichen Geschehnisse 1994 nicht auf dem Schirm hat, wird vielleicht lange brauchen, um zu verstehen, auf welchem Hintergrund sich diese Flucht überhaupt abspielt - das Buch gibt da erst sehr spät ein paar konkretere Einblicke.
An der Geschichte über den Tod von Suzannes Vater und die Bedeutung der alten Wohnung für sie hatte ich weniger Interesse; dies lag zum einen daran, dass diese Thematik nicht sonderlich neu ist, v.a. aber wurde sie aus meiner Sicht viel zu breit ausgewalzt. Die (gewollten oder vom Lektorat übersehenen?) Wiederholungen und sogar Textdopplungen führten dazu, dass Suzanne meiner Wahrnehmung nach in diesem Strang penetrant um sich selbst und ihren Verlust kreiste, was ich angesichts des parallel geschilderten Schicksals von Arsène als recht befremdlich empfunden habe.
Problematisch fand ich es also zum einen, dass diese beiden Verlustgeschichten auf eine Weise miteinander verflochten werden, die sie ebenbürtig oder zumindest vergleichbar erscheinen lassen soll - zumindest hat es auf mich persönlich beim Lesen so gewirkt. Hier wird meiner Ansicht nach allerdings das Leid der Opfer eines Völkermordes herabgewürdigt, wenn ihr vollständiger Verlust von Familie und Heimat, der aus purem wahnsinnigen Hass entstanden ist und die Betroffenen ihrer kompletten Identität zu berauben droht, mit einem Schicksalsschlag (Todesfall) in einem ansonsten eher behüteten Leben gleichgestellt wird, der für die Betroffene sicher auch tragisch ist, aber im Leben nunmal leider vorkommt. Sicher hinterlässt auch so ein Verlust Traumata und Ängste, aber ich finde es nicht recht, diese Schicksale durch eine derartige Verknüpfung einander gleichzusetzen - und dieser Eindruck ist bei mir im Laufe der Lektüre entstanden, zumal die Suzanne-Kapitel mehr Raum einnehmen als nötig angesichts der Tatsache, dass in ihnen letztendlich so wenig passiert. Verstärkt wird mein Befremden über diese Kapitel noch von dem Unstand, dass es sich dabei offenbar um biografische Elemente der Autorin selbst handelt, die hier auf der Folie eines Flüchtlingsschicksals ihr eigenes Lebenstrauma aufzuarbeiten scheint. Dagegen wird in den Arsène-Kapiteln ein Großteil des Geschehens nur angedeutet und oberflächlich gestreift, wo ich mir als Leserin viel, viel mehr Informationen und Eindrücke gewünscht hätte. Einen Lichtblick stellte das einfühlsame Verhalten seiner Stiefeltern dar - auch dieser interessante Aspekt hätte von der Autorin gern ausgebaut werden können.
Die Erzählweise wirft zum anderen bei mir vor allem die Frage auf, wozu die Autorin den Anschein erweckt, aus zwei Perspektiven zu schreiben - und dafür extra diese oben schon erwähnte ungewöhnliche Du-Form bemüht - , um dann faktisch doch beide Handlungsstränge nur aus Suzannes Perspektive zu beleuchten. Auch erzähltechnisch kreist mir das Buch also viel zu sehr um Suzanne, während die eigentlich spannende Figur für mich Arsène ist.
Fazit: Dies ist sicher ein Buch, das in Erinnerung bleiben wird, da mir das Bild vom Jungen im Koffer sehr nahegegangen ist. Gleichzeitig finde ich furchtbar schade, dass die Autorin hier die Chance nicht genutzt hat, mehr aus der Idee zu machen, indem sie einfach die Schwerpunkte anders gesetzt hätte.