Der Roman erschien im Original unter dem Titel „Outerbridge Reach“ im Jahr 1992 bei Ticknor & Fields in New York. Im Jahr 1994 kam eine französische Übersetzung von Gérard Piloquet und Anne Paumier-Gintrand im Verlag Editions de l'Olivier unter dem Titel „L'autre côté du monde“ in die Läden. 1995 wurde die deutsche Übersetzung von Denis Scheck und Joachim Körber unter dem (etwas zu viel verratenden) Titel „Das zweite Logbuch“ beim Rowohlt Verlag in Reinbek bei Hamburg veröffentlicht. Diese Hardcover-Ausgabe mit Schutzumschlag umfasst 521 Seiten. Eine deutsche Taschenbuchausgabe scheint es nicht gegeben zu haben.
Es gibt Romane, die transportieren eine große, schöne Wahrheit, beispielsweise dass man alles erreichen kann, wenn man nur will, meinetwegen auch „klein, aber oho!“ oder dass die Liebe alles besiegt. Solche Romane sind wie kugelrunde, glatte Bälle, die der Leser in den Händen halten kann, um sich an ihrer Wärme wie an einer guten Tasse Tee zu ergötzen.
Und dann gibt es Romane, die scheinen mehrere Wahrheiten zur gleichen Zeit auf den Leser loszulassen. An allem Ecken tauchen neue Facetten, weitere Ansätze und Störgeräusche auf. Aus der Kugelform ragen spitze Stacheln und Kanten hervor. Der Leser kann diese Roman nicht brav in den Händen halten, um sich daran zu wärmen. Immer piekst etwas, immer stört etwas das Gesamtbild, bringt das im Laufe der Handlung erfahrene Wissen in Unordnung. So ein Roman ist „Das zweite Logbuch“. Eine Einteilung in gutes und schlechtes Verhalten, in die richtige und falsche Moral fällt ausgesprochen schwer.
Ich vermute, bei diesem Absatz könnte es sich um einen Schlüsselsatz zum Verständnis des Romans handelt:
ZitatEs kam darauf an, sich am Wissen um die Wahrheit zu erfreuen und es dem Rest der Welt vorzuenthalten. Das war die Macht, von der die biblischen Geschichten kündeten. Die Macht zur Beherrschung der Wirklichkeit bestand darin, in ihr Wesen eingeweiht zu sein und dieses Wissen als einziger zu besitzen. (S. 460)
Die Wirklichkeit beherrschen oder mit dem Leben zurecht kommen, wenn möglich besser als andere, um eine Grundzufriedenheit aufzubauen. Wenn man dann aber feststellt, dass alles Wissen um die Wahrheit, das einen sein Lebtag bisher aufrecht gehalten hat, eine Selbsttäuschung gewesen ist, bekommt man ein verdammt großes Problem. Und mit existenziellen Problemen bekommen es die Figuren in diesem Roman en masse zu tun. Insofern finde ich es einigermaßen albern, dass etliche kritische Leserstimmen bei Goodreads den Roman als Ansammlung von „Rich White People Problems“ abtun. Dann sollten auch die Königsdramen von Shakespeare keinen größeren Wert mehr für heutige Leser haben, es sei denn, sie wären selber königlichen Blutes. Als Leser sollte man fähig sein, in konkreten Lebensumständen – auch wenn sie den eigenen fremd sind – allgemeinere Tiefgründigkeiten des Menschseins erkennen zu können, die über das Jahreseinkommen der Romanfiguren hinausgeht. Und als Schriftsteller dünkt es mit ebenfalls doch ziemlich interessant, den Brüchen und Widersprüchen in gegenwärtigen Lebensstilen nachzuspüren. Man muss kein Wohlstandsbürger sein, um über Spießer zu schreiben, oder um als Leser daraus gewinnbringend schöpfen zu können. Ich will ja nicht nur Bücher lesen, die meinen eigenen Bauch pinseln.
Die Lebenskrisen eines Einhandseglers sollten auch Landratten interessieren können, solange dessen Probleme nicht nur nautischer Natur sind. In diesem Fall haben sie mit einem Gefühl der Verlorenheit zu tun, wenn man in der Mitte des Lebens merkt, dass man nicht weiß, was da noch kommen soll. Dass man sein ganzes Leben lang nur ein Bündel an Möglichkeiten gewesen ist, die nicht in die Tat umgesetzt wurden. Was sicherlich alles jeweils durch Zwänge des Alltags zu erklären ist, aber doch irgendwie hohl ist. Eingesponnen in ein Netz aus Notwendigkeiten, sehnt sich Hauptfigur Owen Browne danach, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Eine Singularität im Weltall, nur ein Mann für sich allein auf dem Meer, ähnlich vereinzelt und einzigartig wie ein Stern am Firmament, der ihm zur Navigation dient. Ansonsten ohne weiteren Bezugspunkt. Alle Verbindungen gekappt. Aber ist das nicht doch eine Unverschämtheit, wenn man Frau und Tochter zuhause hat?
Daheim setzen auch seine Finanziers auf Owen, der mit seiner Teilnahme an der Einhand-Segelregatta um die ganze Welt das Image des angeschlagenen Segelsport-Unternehmens aufpolieren soll. Im Zuge dessen wird der renommierte, "unbequeme" Dokumentarfilmer Ron Strickland damit beauftragt, einen Dokumentarfilm über Owen zu drehen, wobei Owen mit kleinem Video-Equipment alleine auf See filmen soll und Strickland mit Kamera und Tonmann alle Zuhause-Szenen übernimmt. Der stotternde Zyniker Strickland, der die Menschen vor der Kamera so lange reden lässt, bis sie sich selbst bloßlegen, der Leute auflaufen lässt, um zum "wahren Kern" vorzudringen. Ein faszinierender Charakter, der sich immer stärker in die Browne-Familie hineindrängt. Eine nicht wirklich sympathische Figur, bei der mir immer etwas unbehaglich war. Die sich aber dennoch wahrscheinlich den klarsten Durchblick aller Figuren des Romans bewahrt. Gleichzeitig ist er aber auch ein großer Narziss – und man weiß ja, was das bedeutet: Zu sehr von der eigenen Person geblendet, erkennt man sich selbst nicht mehr. Aber erkennen sich auch die anderen Figuren des Romans überhaupt? Will Anne, Owens Ehefrau, nicht wahrhaben, dass ihre Ehe eine laue Veranstaltung ist, in der vor allem sie selbst verkümmert? Oder ist sie zu einer selbstlosen Loyalität fähig, die sie in der Ehe hält, was andere – wie Strickland – nicht vermögen?
So oder so lässt sich an der Figur des Dokumentarfilmers schön erzählen, wie die Wirklichkeit geformt werden kann, ein Strang, den Owen Browne auf See mit eigenen Mitteln aufgreifen wird (mehr wird nicht verraten!) Owens Vorbereitungen zur Regetta und Stricklands Vorbereitungen seines Dokumentarfilms werden in der ersten Hälfte des Romans schön multiperspektivisch vor dem Leser ausgebreitet. Der zweite Teil, wenn Owen auf See ist, sorgte bei mir zunächst für einen leisen Dämpfer des Lesevergnügens, da sich die Figur Owen interessanterweise auf diese Weise ein wenig aus der Handlung des Romans hinausstiehlt. Es kommt auch gar nicht zu allzu großen, zugespitzten Szenen, in denen sich ein Mensch gegen die Kräfte des Meeres stellen muss (wie ich es stärker vermutet hatte). Das Hauptaugenmerk richtet sich vielmehr auf die „Heimatfront“, die sich bald als ein recht heißer Kriegsschauplatz herausstellen wird, bei dem Lebenswirklichkeiten gehörig auf den Kopf gestellt werden.
"Das zweite Logbuch" ist ein ungeheuer komplexer, ruhiger Roman über Menschen, die über sich hinauswachsen wollen, um sich selbst zu finden. Was wahrscheinlich schief gehen muss. Oder wie es der Klappentext so treffend schreibt: Man erliegt dabei seinen eigenen Klischees. Über die Neuausrichtung des eigenen Lebens fällt das Kartenhaus des eigenen Lebensstils in sich zusammen. Eine Studie des Auseinanderbrechens, ein Roman über moralische Leerstellen. Menschen, die andere täuschen und dabei nicht bemerken, dass sie sich damit auch selbst täuschen. Schon das halbe Leben lang. Faszinierend, wie es Robert Stone in seinen Romanen immer wieder schafft, nicht interessante Situationen durch dazu passende Figuren zu erhellen, sondern wie er Situationen durch interessante Figuren interessant macht. Als Leser muss man sich völlig in der Hand des Literaten begeben. Wohin es einen dabei treibt, ist meistens ungewiss. Mancher Leser mag das unbefriedigend finden, weil man ohne Vorausschau auf kommende Attraktionen und ohne allzusehr auf Stereotype zu setzen, vermeintlich langweilig auf den Moment zurückgeworfen ist. Ich finde das ungeheuer fokussiert, überraschend und lebensecht.