George Saunders - Zehnter Dezember: Stories/Tenth of December : Stories (ab 5. März)

  • Als erstes stand Verwirrung am Anfang bei mir. Ich hatte das Gefühl keinen der Personen auch irgendeinen Glauben schenken zu können. Es hat eine Weile gedauert (vermutlich auch meiner schlaflosen Nacht geschuldet), dass ich verstanden habe, genau so fühlt sich Mike. Er fühlt sich verloren, unverstanden, kann niemanden vertrauen usw usf.. Eine Heimat, ein heim kommen so gut wie unmöglich. Ich konnte seine Wut so nachvollziehen.


    Hat er nicht einen Prozeß gehabt?

    Ja, so habe ich das auch gelesen. Er wurde ja mehrmals eindringlichst gefragt, "ob er wirklich"? Wobei man ja darüber spekulieren darf (also auch hier wieder ein offen lassen für uns Leser, wie schon gewohnt), was da passiert und ob es gerechtfertigt war, dass er vor Gericht gestellt wurde.

    Und dann noch all diese Floskeln, die schon taliesin erwähnt hat. Das macht einem so wütend, wenn man nur daran denkt.


    Das erinnerte mich von Ferne dann auch an einen Wolfgang Borchert

    Stimmt! Da hätte ich nicht daran gedacht. Aber ja, das passt.

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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  • Uns bleibt es letztlich verborgen, was genau passiert ist,..:

    Hat er nicht einen Prozeß gehabt?

    Ja, so habe ich das auch gelesen. Er wurde ja mehrmals eindringlichst gefragt, "ob er wirklich"? Wobei man ja darüber spekulieren darf (also auch hier wieder ein offen lassen für uns Leser, wie schon gewohnt), was da passiert und ob es gerechtfertigt war, dass er vor Gericht gestellt wurde.

    ... aber ich dachte an die berechtigten Vorwürfe im Zusammenhang mit der Irakinvasion und den Skandalen in dortigen Gefängnissen, siehe zB:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Abu-Ghuraib-Folterskandal


    In ungefähr diesem Umfeld situiere ich mal die Story...?!

  • tom leo Das habe ich völlig verdrängt, weil es so absolut schrecklich war.


    Und es gab auch noch so viele andere Vorfälle, bei denen unschuldige Zivilisten umgekommen sind. Irgendwas mit einer Schule oder einem Krankenhaus habe ich noch im Hinterkopf. Ich muss leider ehrlich zugeben, irgendwann verdränge ich all die Schrecklichkeiten, weil sie mir so nahe gehen.


    Stellt sich echt mal die Frage, wie geht ein Land mit ihren Veteranen um? Krieg ist ein schmutziges Geschäft. Was macht es aus den Soldaten? Wie geht man als Gesellschaft mit deren Traumatisierung um? Wie geht man mit denen um, die im Krieg (der ja per se schon brutal ist) über ihre Befehle hinweg töten. Bewusst auf Zivilisten schießen. Und wie gruselig ist es, dass ich hier von Befehle spreche. Wer nimmt sich das Recht darauf überhaupt Befehle geben zu dürfen, bei denen andere Menschen sterben werden?


    Ich muss an der Stelle leider Schluss machen. Herr Farast und unser Sohn kommen gerade nach Hause. Ich werde die Geschichte auch noch einmal lesen.

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  • Zunächst der Gedanke: Hier treten ausschließlich Leute auf, die entweder lügen, blenden, übertreiben oder, im besten Fall, dummes Zeug erzählen. Also die gesamte Palette unzuverlässiger Figuren. Daher nahm ich an, dass auch Mikes Heimkehrerstatus möglicherweise Phantasie ist. Seine Mutter hat sich die Position es Sohnes zurecht gebastelt, um für sich selbst irgend etwas herauszuschlagen: Wenn es ihre Wohnungssituation nicht verbessert, dann sind ihr als Soldatenmutter zumindest ein höherer Status und mehr Respekt sicher.

    Am Ende wären mir Lüge und Phantasie fast lieber gewesen.


    Das ständige Händeschütteln und die Floskeln der Dankbarkeit triefen natürlich vor Ironie. Mikes Zustand - Krieg, nach der Heimkehr keine Rückkehr in das Leben davor möglich, keine Unterstützung von irgendwem - erinnern mich an Figuren wie Lieutenant Dan in "Forest Gump" oder Bücher von Sabine Bode über die "vergessene Generation", die Kriegskinder der 1940er in Deutschland.

    Ich denke, Saunders hat Mikes Krieg absichtlich keinem konkreten Krieg zugeordnet. Amerika ist / war eigentlich ständig in Kriege und Kämpfe in einigen Ländern auf der Welt verwickelt.


    Weiterhin muss ich zugeben, dass sich meine Angst vor und um Mike im Lauf der Erzählung bis ans Ende steigerte. Einerseits ist er der bemitleidenswerte Mann, der haltlos zwischen Beziehungen und Nicht-mehr-Beziehungen schwankt, andererseits ist eine innere Enttäuschung und Wut spürbar, die ihn zur Gefahr für sich selbst und andere werden lassen könnten (Phantasie um das Baby seiner Schwester). Irgendwie habe ich die ganze Zeit gewartet, dass er anfängt Amok zu laufen. Die Frage bleibt: Wie lange hält ein Mensch das aus?

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


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  • Irgendwie habe ich die ganze Zeit gewartet, dass er anfängt Amok zu laufen. Die Frage bleibt: Wie lange hält ein Mensch das aus?

    Hier klinke ich mich auch mal ein. Mir ging es genauso wie dir Marie , das war auch meine Erwartung nach der Szene, als Mike seine Mum und deren Lebensgefährten anzündet oder zum Schluss,als er alle auf der Veranda versammelten taxiert.

    Eine sehr deprimierende Kriegsheimkehrergeschichte, die universell termimierbar ist. Alles was ihr bisher gesagt habt sehe ich genauso.

    Soweit mein Beitrag aus der Ferne, schöne Grüße aus Somerset :winken:

    "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


    "Chaos is found in greatest abundance wherever order is being sought. It always defeats order, because it is better organized."

    Terry Pratchett

    "The person, be it gentleman or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid."

    Jane Austen


    :study:

    Alex Haley - Roots

    Andrew Jefford - Whisky Island

    Randale Munroe - What if 2


    :bewertung1von5: 2024: 5 :bewertung1von5:

  • Ich bin erst gestern dazu gekommen, die Geschichte zu lesen.


    Was ist denn das für eine Ansammlung merkwürdiger Personen...

    Der Anfang ist schon beklemmend: "Wie in der guten alten Zeit..." und schon weiß man, dass die aktuellen Zeiten nicht mehr gut sind. Und die Reaktion der Mutter ist wohl auch wie in der guten alten Zeit, wenn der Junge vom Spielen nach Hause kam: "Komm rein, du." Ich habe erst mit Verzögerung gemerkt, dass der Sohn Krieg und anderes Übles hinter sich hat.

    Und wie sieht die "gute alte Zeit" aus?

    Schmutz, Unordnung, desolate Familienverhältnisse, Lügen, Aufschneidereien und Großmäuligkeit, Phrasendrescherei, Drohungen, Verschuldung, Arbeitslosigkeit, keine Loyalität, jeder spielt jeden gegen den anderen aus. Die gute alte Zeit ist offensichtlich nur das, was man gewohnt war.


    Die Schwester Renee versucht offenbar, aus diesen Verhältnissen aus- und aufzusteigen, zumindest scheint sie finanziell besser gestellt zu sein - aber der Dialog ihrer Schwiegereltern ist ausgesprochen beklemmend. Da wird menschliche Hilfe zum Statussymbol...


    Am beklemmendsten finde ich die Mutter, die mit dem Kriegseinsatz ihres Sohnes protzt und überall und pausenlos einen Sonderstatus einfordert. Der Sohn selber und seine Traumatisierung scheint ihr ziemlich egal zu sein - sie interessiert sich nur für sich.


    Und der Sohn - eine Zeitbombe. Schwer traumatisiert durch die Kriegsereignisse, ohne menschliche/therapeutische Hilfe. Der letzte Absatz kommt mir wie eine furchtbare Drohung vor. Da sieht er seine versammelte Familie, die sich offensichtlich gegen einen vermuteten Gewaltausbruch seinerseits verschanzt hat, und er bezeichnet sie als "Meute von Nichtswissern" (S. 214).


    "Okay, okay, ihr habt mich losgeschickt, jetzt holt mich wieder zurück. Findet einen Weg, mich zurückzubringen, ihr Wichser, oder es wird euch leidtun, ihr Missgeburten, so leid, das hat die Welt noch nicht gesehen" (S. 214).


    Da wird nicht nur das Versagen einer Familie thematisiert (die sicherlich überfordert war), sondern das Versagen einer ganzen Nation, die ihre jungen Männer in den Krieg schickt und für die Folgen nicht geradestehen will.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • das Versagen einer ganzen Nation

    Nicht nur das. Gibt es irgendeinen, der sich von Herzen freut, dass Mike es geschafft hat, den Krieg zu überleben und nach Hause zu kommen?

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  • Gibt es irgendeinen, der sich von Herzen freut,

    Nein - mal nicht die Mutter, von der man das am ehesten erwarten könnte. Ihre Begrüßung "Komm rein, du" wirkt nebensächlich und banal.

    Sie hat ihn offensichtlich nicht weiter vermisst. Mit ein Grund, dass ich sie so beklemmend finde.


    Und sie wäre ihn auch gerne wieder los. Im Gespräch mit dem Sheriff (S. 201) verpetzt sie ihn, und auch ihr Freund Harris erhebt Anschuldigungen. Der Sheriff verweigert sich allerdings einer Verhaftung, sondern begnügt sich mit einer Verwarnung.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

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  • Die nächste Geschichte "Mein Ritterfiasko" beschäftigt mich ziemlich und wühlt mich auf. Das ist so der Moment wo man gerne als Leser in eine Geschichte schlüpfen möchte um (vor allem!) Martha zu helfen und Ted aufzurütteln.

    Ich kann nur aus ganzem Herzen hoffen, dass sich niemals nie ein Mensch derartig ausgeliefert fühlen muss. Und gleichzeitig weiß ich, dass es gerade irgendwo auf dieser Welt geschieht. :(

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  • Hallo liebe Leute, ich melde mich zurück aus dem Urlaub. Schön wars. Ich glaube, England wird mein neues Lieblings - Urlaubsland. Ich hoffe, Dir hat es genauso gut gefallen, Mojoh .


    Die vorherige Geschichte hatte ich gelesen, aber leider keine Zeit gefunden, etwas dazu zu schreiben.


    Die aktuelle habe ich gerade beendet. Hat jemand von Euch „Bounty-Land“ gelesen? Ich dachte im ersten Moment, „Mein Ritterfiasko“ wäre identisch mit „BürgerKriegsLand“, denn beide spielen im Szenario eines Freizeitparks.

    Bilde ich mir das deshalb nur ein, dass Saunders viele Motive wieder verwendet oder aufgreift? z.B. hier das registrierte Medikament, wie sie zuhauf im „Spinnenkopf“ vorkamen.

    In „Zuhause“ erinnerte mich das offene Ende („Wird es zum Gewaltausbruch kommen oder nicht“) an „Sprung zum Sieg“ („Hat Kyle den Mann getötet oder nicht?“).

    Und was ich noch bezüglich der „Simplica Girls“ - Geschichte vergaß, dort hieß es am Ende: „Leeres Gestell in Garten sieht im Mondschein komisch aus.“, was mich an das Gestell aus der gleichnamigen Geschichte denken ließ, das am Ende leer und nutzlos auf dem Müll landet.


    Im „Ritterfiasko“ lernt man, dass die vermeintlich guten alten Zeiten, in denen ein Ritter edel handelte und dieses Handeln belohnt wurde, vorbei sind. Nur mit Hilfe einer Pille ist es möglich, so zu reden und zu agieren wie es einem Edelmann geziemt. Nur sind leider das Rittertum ebenso wie der damit einhergehende Mut Teds ein einziger Fake, eine Illusion, entstanden in einem künstlich angelegten Freizeitpark, in dem selbst die Schweine und ihre Scheiße nicht echt sind.

    Mir gefällt übrigens, wie sich Teds Sprache besonders am Ende an seine Bewusstseinszustände anpasst.

  • ich melde mich zurück aus dem Urlaub

    Willkommen zurück :winken:


    Hat jemand von Euch „Bounty-Land“ gelesen?

    Noch nicht, aber ich konnte ein Exemplar recht günstig erhaschen.


    Bilde ich mir das deshalb nur ein, dass Saunders viele Motive wieder verwendet oder aufgreift?

    Das ist mir auch schon aufgefallen, fast schon wie der berühmte rote Faden. Ist das bei "Bounty-Land" ähnlich?

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  • Willkommen zurück, SiriNYC!!! Ach, das macht mich ein wenig neidisch...


    Das waren tolle Beiträge! Danke! Man kann sich einschmeissen auf Ted, klaro. Ich denke aber auch an den Chef, der bewußt die Fäden zieht, seine Macht "mißbraucht", um die ein und den anderen durch Bevorteilung mundtot zu machen... In gewissem Sinne - wenn auch daneben! - entgeht Ted dieser Logik durch die Bloßstellung. Doch bloßgestellt wird, wie so oft, eher das "Opfer" als der Täter, und der Dreck bleibt an der falschen Person.


    Ich sah jetzt auch die inhaltlichen Bezüge was die Medikamente anbetrifft; die anderen noch nicht von selbst. Wo ich die Parallelen sehe und sah, dann bei dem Gebrauch der Doppeldeutigkeit, des innerlichen Schwankens etc... Irgendwo läßt Saunders uns die ganze Zeit auf Morast stehen? Oder wie soll ich es ausdrücken?

  • Das genialste an dieser Geschichte ist ihr Titel. Ein Ritter - das ist doch der Mann ohne Furcht und Tadel, der edle Jungfrauen beschützt, Drachen tötet und seinem Herrn treu ergeben ist. Wo findet er heutzutags aber eine edle Jungfrau, die sich beschützen lässt? Sie lässt sich lieber bezahlen. Und die treue Ergebenheit gegenüber dem Herrn? Zu dumm, wenn man Pillen dagegen nimmt. Bleibt nur eins: Hoffnung auf den Drachen.


    Was Saunders Lieblingsmotive angeht: Jeder Künstler hat sie, jeder Schriftsteller, jeder Maler, jeder Architekt, jeder Musiker. Warum erkennt man beispielsweise Mozarts Musik aus allen anderen heraus? Warum kann man bei manchen Gemälden auf den ersten flüchtigen Blick sagen: Ein van Gogh (Monet, Brueghel, Chagall, ...)? Denkt mal an die Motive bei Agatha Christie, bei Nora Roberts, bei Fitzek.

    Ach, ich glaube, wir müssen gar nicht so weit gehen, auch in unserm Alltag finden wir Wiederholungen und Aufgewärmtes. Warum gibt es Leute, in deren Kleiderschrank nur zwei, drei Farben zu finden sind? Warum gibt es Leute, deren Speiseplan sich in regelmäßigen Abständen wiederholt? Warum gehen wir wenn möglich immer zum selben Friseur, zum selben Zahnarzt, in dieselben Geschäfte, lesen immer wieder dieselben Autoren, ... ich könnte die Liste bis ins Unendliche fortführen. Warum also sollen Autoren nicht zu Motiven greifen, mit denen sie sich wohlfühlen und routiniert umgehen können?

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  • Teds Sprache besonders am Ende an seine Bewusstseinszustände anpasst

    Das finde ich direkt genial - auch vom Übersetzer. Auf dem Höhepunkt seiner Ritterrede macht sogar der Drucker mit und setzt "arbeyt" (S. 224)!

    Ich habe nach dem ersten Lesen dieser Geschichte lachen müssen - dieses Szenario! die Sprache! "Jemand hat in den Hain der Trauer gekotzt" (S. 217)! Aber dann ist mir das Lachen vergangen.


    Da ist erst einmal die Vergewaltigung, die der Chef mit einem einzigen Wort mindert: "Frauen, sagte er" (S. 216). Da schwingt für mich ein Unterton mit, der sagt: Frauen stellen sich einfach an. Sind hysterisch. Verstehen keinen Spaß. Ist doch alles nicht so schlimm.

    Und diese Auffassungen zur Vergewaltigung kennen sicher die meisten von uns. Da könnte ich hier aus dem tiefen Niederbayern Geschichten erzählen...Ein Bekannter von uns, Anwalt!, sprach immer von "Vergewohltätigung"...


    Der Chef zahlt Schweigegeld (Geld + beruflicher Aufstieg + Angelausflug), und Martha und Ted lassen sich korrumpieren. Und warum sind sie korrumpierbar? Weil sie in Verhältnissen leben, die sie dazu zwingen.

    Das Gespräch mit Martha ist für mich wie eine zweite Vergewaltigung, in der er sie zwingt, seine Worte zu wiederholen, sie verbessert und erneut zur Wiederholung zwingt. Sehr beklemmend, finde ich, diese sprachliche Gewalt.


    wenn man Pillen dagegen nimmt.

    Alle nehmen Pillen, finde ich merkwürdig - Mutter + Vater gegen Schmerzen und die Schwester gegen "Schüchternheit".

    Was mag mit Schüchternheit gemeint sein? Sie saugt Schnee auf, weil das Dach offenbar nicht ist; ist sie selber auch nicht ganz dicht?



    Doch bloßgestellt wird, wie so oft, eher das "Opfer" als der Täter, und der Dreck bleibt an der falschen Person.

    Ja. Ist das nicht schlimm? Das habe ich auch in meinem aktuellen Buch gerade gelesen, das im irakischen Kurdistan spielt. Die Opfer bleiben immer Opfer, sie werden verhöhnt, sozial deklassiert, ausgestoßen - - - das ist schwer zu lesen.

    Es ist wohl so: "Müssen die Schwachen auf ewig ungeschützt über diese schöne Erdenrund wandeln?"

    Bleibt nur eins: Hoffnung auf den Drachen.

    :)

    Eigentlich war der Chef der Drache, der die "Jungfrau" bedroht hat und den unser Ritter auch tapfer bekämpft, mit Worten eben. Und der dann doch beide gefressen hat.


    Saunders zeichnet wieder ein übles Bild unserer Gesellschaft: Anstand gibt es nur in einer Scheinwelt mit künstlichen Schweinen und künstlichen Szenarien; im realen Leben wird er zum Bumerang, der die Schwachen weiter schwächt. Gerechtigkeit? Gibt es nicht.

    Das erinnert mich an die Dreigroschenoper von Brecht: "Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so."


    dass sich niemals nie ein Mensch derartig ausgeliefert fühlen muss.

    Tja...


    An einer Stelle hat mich die Übersetzung irritiert: S. 224 unten heißt es: "Ich saß voll Blut und Wunden", ein direktes Zitat aus dem Paul-Gerhardt-Text. Mit dieser religiösen Assoziation kam ich nicht richtig klar. Soll Ted so was wie ein Messias sein? Kann doch nicht sein.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • "Voll Blut und Wunden"

    In dem Gerhardt-Text fallen in den nächsten Zeilen Wörter wie "Hohn" und "Spott". Das würde ja passen...?

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


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  • Soll Ted so was wie ein Messias sein?

    Bevor Jesus zum Messias wurde, war er zunächst ein leidender gequälter Mensch. Darauf habe ich den Satz bezogen und dann passt er. Ich habe an Bach und seine Matthäus-Passion gedacht, weniger an Gerhardt.


    Der Chef als Drache ist mir auch kurz eingefallen, aber ich habe mich gezügelt, weil ich dachte, dass die Interpretation über die Stränge schlägt. Aber wenn zwei den gleichen Gedanken haben. ...


    Dass man beim Lesen die Faust in der Tasche ballt - klar, wird jeder machen, der sich schon einmal mit der Machtstruktur sexueller Übergriffe und dem Druck zur Geheimhaltung befasst hat. Doch leider: Ist diese Geschichte nicht ganz schrecklich alltäglich?

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  • Matthäus-Passion gedacht, weniger an Gerhardt.

    Da habe ich auch die Melodie im Ohr, die ist von Bach - und der Text ist von Paul Gerhardt. Wir denken also an dasselbe.

    Aber ist das nicht etwas überzogen, unseren Ritter Ted mit Jesus zu vergleichen? Bzw. der Passion?


    Passion - Ted wurde geprügelt, "unter grausamen Hohngelächter" (S. 224), und statt Dornenkrone hat er einen gefiederten Hut, dem sie übel zusetzen.

    Auf alle Fälle hat er seine persönliche Passion und wohl den Glauben an Ehre, Anstand und "Wahrheit" (S. 226) verloren.

    Also keine Erlösung.


    Der Chef als Drache

    Deine Assoziation passt doch gut, finde ich? Ein Kapitalismus-Drache!

    Und auch die Jungfrau ist keine reine Jungfrau mehr, es ist alles schäbig und heruntergekommen. So wie die ganzen Rittertugenden ja auch nicht mehr funktionieren. Es geht nicht um Ehre und so weiter, es geht ums Überleben der Schwachen.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


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  • unseren Ritter Ted mit Jesus zu vergleichen

    Das hat doch schon jemand vor uns gemacht, entweder Autor oder Übersetzer. Wir können uns nur daran halten, welche Assoziationen Worte bei uns hervorrufen. Wenn ich bei den Worten "Blut und Wunden" sofort anfange, eine Melodie aus der Passion zu summen, hat mir ein anderer die Steilvorlage dazu gegeben. Man hätte statt "Wunden" auch "Verletzungen" schreiben können, dann hätten wir sicher nicht bei Bach gesucht.


    Im Moment drehe ich die Worte Ritterlichkeit / Menschlichkeit / Aufopferung in meinem Kopf; sie passen alle, sind aber im Zusammenhang der Erzählung pervertiert.

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  • Zitat von Farast

    Das ist mir auch schon aufgefallen, fast schon wie der berühmte rote Faden. Ist das bei "Bounty-Land" ähnlich?

    Ja, das Freizeitpark - Motiv zieht sich durch, ebenso die Toten, die nicht zur Ruhe kommen können wie in „Lincoln im Bardo“ und die missbrauchten Frauen.

  • Wenn ich bei den Worten "Blut und Wunden" sofort anfange, eine Melodie aus der Passion zu summen, hat mir ein anderer die Steilvorlage dazu gegeben.

    Ja, das sehe ich auch so, dass diese Assoziation bewusst hervorgerufen wird. Trotzdem überlege ich, ob das nicht bisschen überzogen ist. Aber egal wie: diese Assoziation hat für mich die Aussage noch verschärft.

    Oder macht sich Saunders lustig...?

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