George Saunders - Zehnter Dezember: Stories/Tenth of December : Stories (ab 5. März)

  • Aber ist das nicht allzu menschlich, dass man, wenn man einmal mit einigem Aufwand sich eine Meinung gebildet hat, schwer von einer anderen zu überzeugen ist ?

    Was spricht denn gegen Deine Auffassung?

    Jeder von uns sieht das in dem Text, was er meint - entscheidend ist doch nur, dass wir dem

    Text dabei keine Gewalt antun.

    Neinnein, das war auch gar nicht als klagende Beschwerde gemeint, ich finde ja auch, dass nichts und vor allem niemand gegen meine Auffassung spricht. :wink:

    Und selbst wenn, ich bin da voll deiner Meinung, dass jeder die Geschichte für sich selbst interpretieren soll und muß - denn gerade da zeigt sich ja die Parallele, die wir schon in der ersten Geschichte erörtert haben: Bei so offenen Erzählungen sagt die Interpretation mindestens genauso viel über den Interpretierenden wie über die Geschichte aus.


    Achja und was diese Meinung angeht,

    Variante 2: Vater hat viel schlimmere, ungesagte Dinge getan.

    bin ich ganz klar auf dieser Seite: Der Vater hat es nämlich meines Erachtens offenbar zeitlebends nicht auf die Kette bekommen, eine persönliche Beziehung / Bindung zu seinen Kindern aufzubauen und bittet deshalb flehentlich um Verzeihung und Liebe.

    "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


    "Chaos is found in greatest abundance wherever order is being sought. It always defeats order, because it is better organized."

    Terry Pratchett

    "The person, be it gentleman or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid."

    Jane Austen


    :study:

    Alex Haley - Roots

    Andrew Jefford - Whisky Island

    Randale Munroe - What if 2


    :bewertung1von5: 2024: 5 :bewertung1von5:

  • Zitat

    Variante 2: Vater hat viel schlimmere, ungesagte Dinge getan.

    Ich schliesse mich einerseits dieser Variante an im Sinne von "Schuld war da". Aber es muss sich mE nicht unbedingt um "schlimmere, ungesagte Dinge" handeln. Es gibt dieses "ordinäre, gewöhnliche Böse", das in einer Form der Selbstverständlichkeit, oder auch grummelnder Vorwürfe daherkommt. Manchmal passiert da viel Schlimmeres als bei einem "ausrutschendem Akt". Gestern musste ich in diesem Zusammenhang - allerdings handelt es sich da um einen Ausdruck, der anderweitig besetzt ist und andere Assoziationen eröffnet - an die "Banalität des Bösen". Ist es eine Unmöglichkeit, über lange Jahre hinweg, nämlich die entscheidenden für die Kinder (?), sich nicht mit einem Wohlwollen äußern zu können? Und diese Form der Verschlossenheit kann Gefängnis sein und erzeugen...?

  • Ich bleibe bei meinem Seelenbild: die "Stangenkreuze", die er neben dem Gestell einsetzt, also seine Kinder, sind genau so

    seelisch verkümmert wie er selber: harte, leblose "Stecken", von denen er keine Vergebung erwarten kann.

    Also wenn der Satz, ich zitiere "Wir zogen zu Hause aus, heirateten, bekamen selber Kinder und stellten fest, dass die Saat der Bosheit auch in uns aufging"

    nicht ironisch gemeint ist, dann könntest Du mit Deinem Seelenbild recht haben. Ich hoffe allerdings noch immer, dass dem nicht so ist.

    ☆¸.•*¨*•☆ ☆¸.•*¨*•☆ La vie est belle ☆¸.•*¨*•☆☆¸.•*¨*•☆

  • Ich bleibe bei meinem Seelenbild: die "Stangenkreuze", die er neben dem Gestell einsetzt, also seine Kinder, sind genau so

    seelisch verkümmert wie er selber: harte, leblose "Stecken", von denen er keine Vergebung erwarten kann.

    Ich finde diese Sichtweise auch durchaus schlüssig. Beim ersten Lesen des Textes habe ich bewusst nur auf die Stimmung, auf die

    Erzählweise geachtet. Im Text wirkt der Erzähler so vollkommen emotionslos, so bar jeden Gefühls, dass es wirkt als würde er

    ein Kochrezept wiedergeben. Da ist keine Beteiligung, kein Mitleid, keine Vergebung und auch keine Abscheu, kein Hass zu spüren.

    Es ist der Vater über den eines der Kinder berichtet, aber da ist nichts als Kälte spürbar. Das ist schon sehr hart und auch sehr traurig.

    Harte, leblose Stecken ist da eine sehr treffende Formulierung.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

    :study: Matt Ruff - Ich und die anderen

  • Bei so offenen Erzählungen sagt die Interpretation mindestens genauso viel über den Interpretierenden wie über die Geschichte aus.

    So ist es - es sind ja unterschiedliche Saiten, die die Geschichte in uns anrührt (wenn ich das mal so poetisch sagen darf).


    Zu Deinem Spoiler:


    nicht ironisch gemeint ist

    Ich habe das nicht ironisch aufgefasst - mir kam der ganze Text so bitter und emotional kalt vor, ohne jede Leichtigkeit, wie gehämmert, wie ein Stakkato in der Musik - aber es gibt ja auch diese fast zynische Ironie.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Und diese Form der Verschlossenheit kann Gefängnis sein und erzeugen...?

    Du meinst, dass der Vater selber ein Gefangener ist? Dann wäre die Tatsache, dass er sein Innerstes nach außen trägt und dieses Symbol der Stecken dafür wählt (passt ja auch zum Bild eines Gefängnisses) eine Art Fluchtversuch in dem Sinne, dass er die Kommunikation sucht, sich mitteilen will und diesem inneren Gefängnis entkommen will?

    bittet deshalb flehentlich um Verzeihung und Liebe.

    Ich habe das Schild "Liebe" so aufgefasst, dass er derjenige ist, der liebt - er hat es zwar nie zeigen können, aber er kann es jetzt aufschreiben und plakativ aufhängen.

    Ist aber egal, wie man das sieht, passt alles, denke ich.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Wertlosigkeit, Ärmlichkeit,

    Das würde doch passen als Übersetzung von meanness, meine ich? Die Saat der Wertlosigkeit im Sinne von Nicht-geschätzt- und-geliebt-Werden?


    bewusst in Richung Bibel erinnern soll. Passt ja auch zum Thema >Kreuz<.

    Wo seht Ihr religiöse Aspekte? Im Bereich Schuld und Vergebung?

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich bleibe bei meinem Seelenbild: die "Stangenkreuze", die er neben dem Gestell einsetzt, also seine Kinder, sind genau so

    seelisch verkümmert wie er selber: harte, leblose "Stecken", von denen er keine Vergebung erwarten kann.

    Also wenn der Satz, ich zitiere "Wir zogen zu Hause aus, heirateten, bekamen selber Kinder und stellten fest, dass die Saat der Bosheit auch in uns aufging"

    nicht ironisch gemeint ist, dann könntest Du mit Deinem Seelenbild recht haben. Ich hoffe allerdings noch immer, dass dem nicht so ist.

    Ich hoffe auch inständig, dass du dich irrst, drawe aber man darf nicht vergessen, wer hier handelt. Der Vater sieht bzw. definiert seine Kinder als diese Kreuze, dh. allenfalls sieht er sie als harte, leblose Stecken.

    Aber möglich ist es natürlich, dass es sich um die besagte “Saat des Bösen“ handelt, die der Vater an seine Kinder weitergibt, die Gefühlskälte, das Nicht-Lieben oder Nicht-Verzeihen Können. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, dass die das von ihrer Mutter gelernt haben.


    "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


    "Chaos is found in greatest abundance wherever order is being sought. It always defeats order, because it is better organized."

    Terry Pratchett

    "The person, be it gentleman or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid."

    Jane Austen


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    Randale Munroe - What if 2


    :bewertung1von5: 2024: 5 :bewertung1von5:

  • Ich hoffe auch inständig, dass du dich irrst

    Oh - das hoffe ich auch, aber anders kriege ich die Textaussagen nicht unter ein Dach.

    Sehr deprimierend und desillusionierend.


    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

    :study: Matt Ruff - Ich und die anderen

  • :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • drawe  taliesin

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  • An dieser Stelle muss ich bekennen, dass ich bislang gedacht hatte, dass serjena es sich mit der LR anders überlegt hat. Nun habe ich erst in einem anderen Fred gesehen, dass sie sich teils aus dem Forum zurückgezogen hat, und ich ihr somit auch gerade keine PN habe zukommen lassen können. Ich habe keine Ahnung, was wo passiert ist, doch fände es traurig, wenn gerade Du Dich aus einem ärgerlichen Grund zu einem Rückzug gedrängt fühlst. Ging mir öfter so. Ich bin bislang geblieben.


    Ganz herzliche Grüsse, falls Du das hier liest!

  • Ich habe keine Ahnung, was wo passiert ist, doch fände es traurig, wenn gerade Du Dich aus einem ärgerlichen Grund zu einem Rückzug gedrängt fühlst.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


    "Chaos is found in greatest abundance wherever order is being sought. It always defeats order, because it is better organized."

    Terry Pratchett

    "The person, be it gentleman or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid."

    Jane Austen


    :study:

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    :bewertung1von5: 2024: 5 :bewertung1von5:

  • wenn gerade Du Dich aus einem ärgerlichen Grund zu einem Rückzug gedrängt fühlst. Ging mir öfter so. Ich bin bislang geblieben.

    :thumleft: Gut so!

    Was Serjena angeht: vielleicht hat sie wieder gesundheitliche Probleme.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich habe keine Ahnung, was wo passiert ist, doch fände es traurig, wenn gerade Du Dich aus einem ärgerlichen Grund zu einem Rückzug gedrängt fühlst.

    Das sehe ich ganz genauso und dabei ist es grundsätzlich egal, um wen es sich handelt, in diesem Fall halt serjena .

    Niemand sollte bei einer sachlichen und auch kontroversen Diskussion die Ebenen verwechseln und es zu einem persönlichen Streit kommen lassen. Daher ist es immer schade, wenn sich jemand aufgrund einer Diskussion über Bücher zum Rückzug gedrängt fühlt. Aus einer Diskussion kann man sich ja zurückziehen, wenn man meint, alles gesagt zu haben, aber doch nicht aus dem ganzen Büchertreff. ?(


    Wenn es die gesundheitichen Probleme sein sollten - Gute Besserung ! :wink:

    "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


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    Terry Pratchett

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  • Ich habe Antwort vom Übersetzer bekommen. :bounce:


    Liebe Frau L,


    danke für Ihre Mail. Ich freue mich immer über genaue LeserInnen, und besonders freut es mich, wenn Sie offenbar den Rest der Übersetzung, bis auf dieses eine Wort, gut fanden, das ließe sich ja aus Ihrer Mail schließen.

    Warum habe ich "meanness" so übersetzt? Zunächst ist die Bedeutung "geizig" für "mean" ja nur eine von sehr vielen, und sie wird vorwiegend im britischen Englisch so gebraucht, deshalb finde ich diese Deutung nicht so naheliegend. Aber daran sehen Sie, es geht immer auch um Interpretation, jede Übersetzung interpretiert, setzt inhaltliche Akzente oder Zusammenhänge ein bisschen anders. Für mich war dieser Satz deutlich allgemeiner zu verstehen, bei "mean" geht es nach meinem Verständnis um den menschlichen Gegensatz von Gut und Böse. Ich hatte sogar überlegt, mit dem Substantiv "das Böse" zu operieren, fand das dann aber zu stark moralisch aufgeladen und habe es bei "Bosheit" belassen.


    Mit herzlichen Grüßen, auch an Ihre gesamte Leserunde,


    Ihr

    Frank Heibert

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Antwort vom Übersetzer

    Das ging ja schnell.

    Ich habe seine Übersetzungsarbeit bei "Lincoln" mehr als bewundert, und bei so vieldeutigen Texten wie diesen Kurzgeschichten wächst mein Respekt noch mehr.

    Trotzdem kann ich mit dem Bedeutungsinhalt "Böse" oder "Bosheit" so wenig anfangen - ist denn der Vater böse? Ich für mich habe ja schon seine Schuld relativiert, weil er auch nur in einer Generationenkette steht. (Ich gebe zu: das will ich so...)


    Trotzdem vielen Dank für Deinen Elan und das Nachfragen!

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


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