George Saunders - Zehnter Dezember: Stories/Tenth of December : Stories (ab 5. März)

  • Die Geschichte ist wirklich sehr verrätselt....


    Da haben wir diesen Mann, und ja, er ist knauserig, aber mir kommt es so vor, als sei diese Knauserigkeit keine Sparsamkeit (bzw. Geiz) im finanziellen Sinn, sondern eine innere Armut, eine Art emotionale Armut. Er gönnt sich keinen "Übermut", also keinen Spaß, keinen Tanz, keine Lebensfreude außerhalb und vor allem innerhalb seiner Familie, und das gibt er an seine Familie weiter. Er gönnt sich selber nichts, also gönnt er seiner Familie auch nichts - er kann nicht anders.


    Das Gestell im Garten, dieses karge, harte, metallische Ding, kommt mir vor wie ein Bild seiner Seele, wie sein Innerstes. Und dort bringt er pflichtschuldig die Dekorationen an, die (so vermute ich) von einem aufrechten US-Amerikaner erwartet werden.

    Für mich wuchs die Frage, ob nicht jedes Gebilde da am Stangenkreuz eine Art Projektion ist, eben auch dessen, was den Vater bewohnt.

    Ich glaube, Tom Leo hatte einen ähnlichen Gedanken...?


    Diese Dekorationen haben aber wenig mit ihm selber zu tun, sie sind nur aufgesetzt, vielleicht um dem Mainstream zu folgen? um sich als angepasst zu zeigen? um sich als amerikanischen Patrioten zu zeigen? um dem american way of life zumindest äußerlich zu folgen?


    Mich hat das Bild dieses innerlich so einsamen Mannes irgendwie berührt.


    Über den Ausdruck "Saat der Bosheit" bin ich allerdings immer wieder gestolpert. "Bosheit" passt nicht.

    Mir kommt der Ausdruck so archaisch vor - ist das vielleicht ein Bibelzitat?

    Auf alle Fälle wird ein archaisches Problem angesprochen: die Schuld der Väter, die bis ins dritte oder vierte Glied gerächt wird, wie es im Buch Moses im Alten Testament heißt.

    Die Frage der Schuld wird aber hier relativiert: der Mann (Vater) ist schließlich auch nur ein Glied in einer Kette, und seine Schuld besteht wohl darin, dass es ihm nicht gelungen ist, diese Kette zu unterbrechen. Daher das Schild "Vergebung" mit einem Fragezeichen.

    Na ja - das Problem kennt wohl jeder, der Kinder erzieht oder erzogen hat. Da ist man jahrelang ein freischaffender Künstler und erkennt erst später die zugrunde liegenden Muster.


    Und der Mann versucht nun Beziehungen herzustellen - er verbindet diese armseligen Seelenbilder mit Bindfäden, hängt Zettelchen dran, d. h. er bemüht sich um eine Kommunikation zu einem Zeitpunkt, wo es zu spät ist, er will Verbindungen und Gemeinsamkeiten herstellen - also ich finde das alles sehr sehr traurig.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich hatte auch das Gefühl, das "Saat der Bosheit " ein Zitat ist, bin aber bei der Recherche nicht weitergekommen. Vielleicht erinnert es mich einfach an "die Saat des Bösen ", was zumindest ein Titel eines Films ist...mein Mann meinte auch, dass es ein biblisches Zitat sein könnte, aber da kenne ich mich gar nicht aus...

    :study: Junge mit schwarzem Hahn- Stefanie vor Schulte


    No two persons ever read the same book (Edmund Wilson)

  • dass es ein biblisches Zitat sein könnte, aber da kenne ich mich gar nicht aus...

    Na ja, ich bin studien- und berufsbedingt leicht bibelfest - sie bietet einfach unendlich viele archetypische Motive, ähnlich wie die antiken Sagen - aber hier :scratch::scratch::scratch: Der Ausdruck ist so pathetisch, das passt irgendwie nicht zum Resttext, finde ich.


    oder vielleicht nur ein Übersetzungsproblem?

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • oder vielleicht nur ein Übersetzungsproblem?

    Wohl eher ein Übersetzungsproblem. Mojoh hat es, glaube ich, schon einmal erwähnt. Im amerikanischen Englisch heißt es >Bösartigkeit<.

    Ansonsten gibt es die Wahl aus: Niedrigkeit, Wertlosigkeit, Ärmlichkeit, Schäbigkeit, Gemeinheit und sogar Geiz.

    Bosheit ist schon eine eigenwillige Übersetzung, die vielleicht sogar bewusst in Richung Bibel erinnern soll. Passt ja auch zum Thema >Kreuz<.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Haruki Murakami - Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

    :study: Joseph Roth - Hiob (MLR)

  • "Der Saat der Bosheit" und mit den von taliesin erwähnten Übersetzungsmöglichkeiten habe ich jetzt auch kein entsprechendes Bibelzitat gefunden. Ich habe hier bei "BibleServer" nachgeschaut. Wobei ich die fremdsprachigen Übersetzungen ausgelassen habe. Aber ihr könnt gerne noch mal selbst schauen. Ich kann es ja auch übersehen haben.


    Die kleinen Kreuze stellen seine Kinder (und seine Frau?) dar und die Bindfäden dazwischen deuten Beziehungen an. Die Frage bleibt: Hat er gemerkt, dass er diese Beziehung nicht wirklich gelebt hat ? Bedauert er , dass er diese Beziehung nicht (mit)gestaltet hat ? Bittet er um Vergebung ? Ich glaube schon.

    Mir gefällt der Gedanke mit den kleinen Kreuzen und der Verbindung zu seinen Kindern. Und ich bin auch der Meinung, dass er er das alles bereut und letzten Endes um Vergebung bittet.


    "meanness" bedeutet sowohl Gemeinheit/Niederträchtigkeit als auch Geiz/Knauserigkeit was für mich zwei total unterschiedliche Welten sind und beides durchaus denkbare Übersetzungen, die der Geschichte jeweils eine völlig andere Bedeutung geben.

    Unglaublich wie ein einziges Wort den Sinn verändern kann. Das lässt sich ja dann fast gar nicht übersetzen. Es würde mich interessieren ob der Übersetzer mit dem Autor zusammengearbeitet hat.

    Ich tendiere übrigens auch so in Richtung Geiz/Knauserigkeit wie Marie .

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


    SuB-Leichen-Challenge 2024: Alle Bücher bis inkl. 2022 [-X

    Klassiker-Challenge 2024


  • Ich glaube, wir gehen in die falsche Richtung, wenn wir uns an einem Wort der Übersetzung aufhalten; in dem Fall fangen wir nämlich an, die Interpretation des Übersetzers zu interpretieren statt nach dem zu fragen, was der Autor sagt.


    Natürlich wäre es interessant zu fragen, warum Frank Heibert hier "Bosheit" statt "Geiz" übersetzt, aber das ist eigentlich nicht unser Thema.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Natürlich wäre es interessant zu fragen, warum Frank Heibert hier "Bosheit" statt "Geiz" übersetzt, aber das ist eigentlich nicht unser Thema.

    Stimmt, wir weichen vom Kernthema ab, aber manchmal reizt es halt, der zuweilen durchaus eigenwilligen Übersetzung von Heibert

    ein paar Worte zu widmen. Aber du hast Recht, wir verheddern uns sonst. Ab ins Thema..............:ergeben:

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Haruki Murakami - Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

    :study: Joseph Roth - Hiob (MLR)

  • Ich habe gerade eine Mail geschrieben


    Lieber Herr Heibert,

    in einer Lesegruppe des Forums BuecherTreff.de lesen wir gemeinsam das Buch "Zehnter Dezember" von George Saunders. Einige von uns lesen das Original, andere die französische, bzw. die deutsche Ausgabe, die Sie übersetzt haben.

    In der Erzählung "Gestell" irritiert uns eine Stelle: We left home, married, had children of our own, found the seeds of meanness blooming also within us. Sie haben "meanness" mit "Bosheit" übersetzt. Warum? Drückt nicht dieses Wort der Figur des Vaters einen unangemessenen Stempel auf? Wäre ein Wort wie "Geiz" nicht text-immanenter und wertungsfreier?

    Falls Sie an unsern Überlegungen interessiert sind, können Sie hier hineinsehen: George Saunders - Zehnter Dezember: Stories/Tenth of December : Stories (ab 5. März)

    Mit freundlichen Grüßen

    Marie


    Ich lasse Euch wissen, ob eine Antwort kommt und wie sie lautet.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Toll, Marie .


    Dann gehe ich nochmal zurück zur Geschichte als solcher.


    Was ich an der Diskussion interessant finde, ist, dass wir uns teilweise mehr Gedanken um das Gestell als um die Person machen, die dahintersteht.


    Warum lautet der Titel „Gestell“ und nicht „Dad“ oder „John“ oder wie immer die Hauptperson heißen mag?


    Der Vater/Mensch versteckt sich hinter einer Sache/Gegenstand und auch Saunders präsentiert uns vordergründig diesen Gegenstand. Wir erfahren detailliert, wie dieser aussieht.

    Wir wissen allerdings nicht, ob der Vater klein oder groß ist, welche Haarfarbe er hat, welchen Beruf er ausübte, usw.

    Ist es Saunders Intenion, dass wir als Leser es schaffen, hinter die Fassade/das Gestell zu blicken und herausfinden, wer dieser Mann gewesen sein könnte?

  • Ich bin nicht Herr Heibert, aber meanness ist mE ziemlich klar Bösartigkeit, Gemeinheit. Was ist dahinter aber das Problem? Tut es uns weh, widerspricht es uns, etwas von dem anzuerkennen? Etwa: davon auszugehen, dass "Saaten der Bösartigkeit" in den Nachkommen oder - pojizieren wir da nicht ängstlich auf uns??? - auch in uns selbst vorhanden sein könnten? Okay, vielleicht will das keiner hören, und ich werde keinen zwingen, das für sich so übernehmen.

    Ich für meinen Teil, obwohl ich wahrscheinlich nach außen hin als relativ lieber Mensch angesehen werde, muss zugeben - falls ich wirklich in meine Tiefen und Abgründe schaue - dass es tatsächlich auch Saat, und zuindest das, von Bösartigkeit in mir gibt. Ist Euch anscheinend nie passiert? Oder ist das gegen die Etikette? Ja, irgendwo dadrinnen schlummern doch Monster und Ungeheuer. Im übrigen sage ich das hier von mir. Aber insofern stellt mir dieses Wort, oder eine solche Feststellung nicht ein solches Problem wie Euch!

    Und, ja: ich erkenne manchmal die Gemeinheiten (unzulänglichkeiten) meiner Ahnen wieder. Natürlich mit Erschrecken.


    Zu "Saat des Bösen" - so sehe ich darin auch eine biblische Anspielung. Es könnten mehrere zugleich sein. Die bekannteste neutestamentliche wäre wahrscheinlich Matthäus 13, circa Vers 25. Wo zB ganz klar wäre, dass es natürlich neben dieser Saat des Bösen eben ganz ausdrücklich zunächst und vor allem die Saat des Guten gibt (die auch die Obhand gewinnen wird). Auch die vorhergehende Perikope passt zum Thema.

  • Der Vater/Mensch versteckt sich hinter einer Sache/Gegenstand

    Besonders eigenartig: Dass sein Sohn nicht mehr über ihn sagt als die wenigen Sätze über seinen Kontrollzwang und seinen Geiz.


    Tut es uns weh

    Für mich ist eher die Frage entscheidend: Was gibt der Text her?

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ist es Saunders Intenion, dass wir als Leser es schaffen, hinter die Fassade/das Gestell zu blicken und herausfinden, wer dieser Mann gewesen sein könnte?

    Ich glaube genau das ist nicht seine Intention, die sehe ich einen Schritt vorher: Ich glaube Saunders möchte, dass wir VERSUCHEN herauszufinden, wer dieser Mann gewesen sein könnte, nicht dass wir es SCHAFFEN. Der Weg ist viel interessanter als das Ergebnis. Dafür ist die Geschichte zu offen gehalten, auch wenn wir aus Saunders Statement erfahren, dass er schon eine Vorstellung davon hatte, wie der Mensch hinter dem Gestell tickt und was seine Beweggründe sind.


    Aber er ist sich auch darüber bewußt, wie unterschiedlich die Dinge interpretiert werden können. Ich hatte mich nach meinem ersten Lesen und nach dem überprüfenden Nachlesen ziemlich auf die Sucht-Biografie eingeschossen und merke jetzt bei jedem Interpretationsversuch, den ich hier lese bzw. den ich auch selber weiterhin versuche, dass ich automatisch überprüfe, ob er immernoch zu meiner Theorie passt. :wink: (Bisher war das so.)


    Aber ist das nicht allzu menschlich, dass man, wenn man einmal mit einigem Aufwand sich eine Meinung gebildet hat, schwer von einer anderen zu überzeugen ist ?


    Aber deinen Gedanken, SiriNYC , dass sich alles um das Gestell dreht und sich der Vater dahinter versteckt, bzw. dahinter in Unschärfe bleibt gehe ich absolut mit. Der eigentliche Protagonist bleibt ja aber der Vater, über den wir durch den Erzähler, durch das Gestell Informationen erhalten. Zweifache Übertragung, Übertragungsfehler (wie bei Stille Post) nicht ausgeschlossen, sondern erwünscht.

    Wobei der Erzähler sich ja relativ zurückhält mit Interpretationen über seinen Vater. Die Frage die ich mir als Leser außerdem stelle ist die nach der Beziehung zu seinen Kindern und somit auch zum Erzähler, wie gut kannten diese ihren Vater überhaupt oder hat er auch mit ihnen weitestgehend über das Gestell kommuniziert ?


    Dazu würde ja dann auch die Aussage von Marie passen:

    Besonders eigenartig: Dass sein Sohn nicht mehr über ihn sagt als die wenigen Sätze über seinen Kontrollzwang und seinen Geiz.

    "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


    "Chaos is found in greatest abundance wherever order is being sought. It always defeats order, because it is better organized."

    Terry Pratchett

    "The person, be it gentleman or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid."

    Jane Austen


    :study:

    Alex Haley - Roots

    Andrew Jefford - Whisky Island

    Randale Munroe - What if 2


    :bewertung1von5: 2024: 5 :bewertung1von5:

  • Ich für meinen Teil, obwohl ich wahrscheinlich nach außen hin als relativ lieber Mensch angesehen werde, muss zugeben - falls ich wirklich in meine Tiefen und Abgründe schaue - dass es tatsächlich auch Saat, und zuindest das, von Bösartigkeit in mir gibt. Ist Euch anscheinend nie passiert?

    Ich würde mal soweit gehen, zu behaupten, dass das jeder kennt. Sowohl, die Erkenntnis der eigenen ich nenne sie mal "Schattenseiten" als auch die Dinge, die man von seinen Eltern vererbt bekommen hat.


    Gibt es nicht auch eine Bibelstelle, die sinngemäß sagt, es kann das Gute nie ohne das Böse geben ?


    Aber ich würde auch nicht soweit gehen, zu sagen, dass es sich um einen Übersetzungsfehler handelt. Ich glaube, dass Saunders aus dem Grunde so schwer zu übersetzen ist, weil er so offene Geschichten schreibt, die unendlichen Platz für Interpretationen lassen. Und gerade beim Übersetzen muß man sich ja früher oder später für eine Interpretation entscheiden, wenn man unser Erkenntnis von weiter oben berücksichtigt, dass ein einzelnes Wort so sinngebend für eine Geschichte sein kann.

    "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


    "Chaos is found in greatest abundance wherever order is being sought. It always defeats order, because it is better organized."

    Terry Pratchett

    "The person, be it gentleman or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid."

    Jane Austen


    :study:

    Alex Haley - Roots

    Andrew Jefford - Whisky Island

    Randale Munroe - What if 2


    :bewertung1von5: 2024: 5 :bewertung1von5:

  • Aber du hast Recht, wir verheddern uns sonst

    Ich weiß nicht - für mich eröffnen sich beim Blick und auch bei der Diskussion über die Übersetzung

    andere Bedeutungsfacetten. Allerdings will ich mich auch nicht festbeißen und damit den Blick auf die Geschichte

    verlieren.

    Aber ist das nicht allzu menschlich, dass man, wenn man einmal mit einigem Aufwand sich eine Meinung gebildet hat, schwer von einer anderen zu überzeugen ist ?

    Was spricht denn gegen Deine Auffassung?

    Jeder von uns sieht das in dem Text, was er meint - entscheidend ist doch nur, dass wir dem

    Text dabei keine Gewalt antun.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Der Vater/Mensch versteckt sich hinter einer Sache/Gegenstand

    Ja, genau das meinte ich oben auch, und dieser Gegenstand ist so etwas wie ein Stellvertreter.

    Er spiegelt das Innere des Vaters wieder.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Zitat von drawe
    Zitat
     Zitat von Mojoh Aber ist das nicht allzu menschlich, dass man, wenn man einmal mit einigem Aufwand sich eine Meinung gebildet hat, schwer von einer anderen zu überzeugen ist ?

    Was spricht denn gegen Deine Auffassung?

    Jeder von uns sieht das in dem Text, was er meint - entscheidend ist doch nur, dass wir dem Text dabei keine Gewalt antun.

    Ich habe gerade festgestellt, dass ich über den Vater im letzten Teil eine recht klare Meinung habe - er sucht Vergebung, schafft es nicht, dies zu artikulieren (das sehen wir wohl tendenziell alle so).


    Schwieriger ist für mich der erste Teil - verachtet er die amerikanischen Werte oder hängt er an ihnen? Er ist für mich hier wie ein Vexierbild. Diesen Vergleich hat Marie übrigens, soweit ich mich erinnere, schon in der Diskussion zur Geschichte der letzten Woche herangezogen.


    Ebenso rätselhaft für mich ist nach wie vor seine Persönlichkeit im Mittelteil, in der seine schlechten Angewohnheiten geschildert werden und der wichtige Satz mit der „Saat“ vorkommt. Wie Du, drawe , finde ich, hier ist ein Bruch in der Sprache bzw. im Erzählstil angelegt.


    Daher frage ich mich, waren die geschilderten Knauserigkeiten, die Kommunikationsarmut und seine Skurrilität im Bezug auf das Gestellt die einzigen Punkte, wegen denen ihn der Ich - Erzähler „anklagt“ oder steckt, wie cyphella vermutet, doch mehr dahinter?

  • Noch zur Ergänzung:

    Je nachdem, für welche Variante ich mich im Mittelteil entscheide:

    Variante 1: Vater war gar nicht sooo schlimm, er hatte nur ein paar Macken wie jeder andere Vater auch.

    oder

    Variante 2: Vater hat viel schlimmere, ungesagte Dinge getan.


    wirft das auch ein komplett anderes Licht auf die Figur des Ich-Erzählers.

    Var.1: Wieso kann er ihm nicht vergeben?

    Var.2: Es ist klar, dass er ihm nicht vergeben kann.


    taliesin : Langsam verstehe ich, wieso sich ganze US - Schulklassen wochenlang mit dieser kurzen Geschichte beschäftigen können :lol:.

  • Je nachdem, für welche Variante ich mich im Mittelteil entscheide:

    Variante 1: Vater war gar nicht sooo schlimm, er hatte nur ein paar Macken wie jeder andere Vater auch.

    Mit Variante 1 könnte ich mich gar nicht anfreunden. Allein schon aufgrund dieses Satzes:

    Zitat


    (...) and taped to the string letters of apology, admissions of error, pleas for understanding all written in a frantic hand on index cards.

    Das klingt nicht nach einem Vater mit kleinen Macken und Fehlern, sondern nach einer flehentlichen Bitte um Verzeihung, nach Reue

    aufgrund auf ihm lastender Schuld.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Haruki Murakami - Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

    :study: Joseph Roth - Hiob (MLR)

  • Das klingt nicht nach einem Vater mit kleinen Macken und Fehlern, sondern nach einer flehentlichen Bitte um Verzeihung, nach Reue

    aufgrund auf ihm lastender Schuld.

    Mein erster Eindruck war ein Vater mit kleinen Macken und Fehlern, aber jetzt würde ich auch eher meinen, dass Variante 2 zutrifft.


    Variante 2: Vater hat viel schlimmere, ungesagte Dinge getan.

    ☆¸.•*¨*•☆ ☆¸.•*¨*•☆ La vie est belle ☆¸.•*¨*•☆☆¸.•*¨*•☆

  • sondern nach einer flehentlichen Bitte um Verzeihung, nach Reue

    aufgrund auf ihm lastender Schuld.

    --- die ihm nicht erteilt wird, trotz seiner Liebesgaben.


    Ich bleibe bei meinem Seelenbild: die "Stangenkreuze", die er neben dem Gestell einsetzt, also seine Kinder, sind genau so

    seelisch verkümmert wie er selber: harte, leblose "Stecken", von denen er keine Vergebung erwarten kann.


    Da kann er noch so viele Schilder mit dem Wort "Liebe" malen... Die Verschriftlichung des Wortes reicht offenbar nicht, er hätte

    es sein Leben lang leben müssen - sehr bitter für ihn, dass es dafür zu spät ist und er mit den Resten seines Lebens wie Theaterkarten, Make-up-Tuben der Mutter etc. die Vergebung quasi heraufbeschwören will.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).