Klaus Cäsar Zehrer - Das Genie

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    656 Seiten

    Diogenes Verlag

    1. Auflage 23. August 2017



    Klappentext (Quelle: Amazon)

    Boston, 1910. Der elfjährige William James Sidis wird von der Presse als »Wunderjunge von Harvard« gefeiert. Sein Vater triumphiert. Er hat William von Geburt an mit einem speziellen Lernprogramm trainiert. Doch als William erwachsen wird, bricht er mit seinen Eltern und seiner Vergangenheit und weigert sich, seine Intelligenz einer Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, die von Ausbeutung, Profitsucht und Militärgewalt beherrscht wird.


    Mein Leseeindruck:


    Zehrers Debutroman entdeckt einen Vergessenen:

    William James Sidis, ein gefeiertes Wunderkind des frühen 20. Jahrhunderts und mit nur 46 Jahren verstorben.


    In drei Teilen entrollt der Autor hier ein eigentlich trauriges Menschenschicksal.

    Im 1. Teil erfährt der Leser die Geschichte seines Vaters, der 2. Teil schildert die Erziehung des Kindes, und der 3. Teil zeigt, wie der Sohn sein Leben selber in die Hand nimmt.


    Schon Boris, der Vater, ist ein erstaunlicher Mensch. Nach seiner politisch motivierten Flucht aus dem Zarenreich kommt er 1886 nur mit einem Koffer in den USA an – und dort verschenkt er seinen Koffer und sein letztes Geld und verlässt sich nur auf das, was er im Kopf hat: seine tatsächlich außerordentliche Bildung. Mit großer Willenskraft und großem Einsatz, aber auch der Hilfe wohlmeinender Unterstützer gelingt ihm sein akademischer (und wirtschaftlicher) Aufstieg, aber wegen seines unkonventionellen Lebens und seiner kompromisslosen Überzeugungen bleibt er isoliert.

    Die Erziehung seines Sohnes basiert auf seiner Überzeugung, dass jedes Kind wie ein leeres Gefäß auf die Welt kommt und sich zum Genie erziehen lässt. Sofort nach der Geburt beginnt er mit einer konsequenten und ungeheuer zeitaufwändigen Erziehung, die auf Suggestion und Hypnose basiert, die aber auch auf das Lernen über Bilder setzt – eine damals außergewöhnliche Methode. Die Sidis-Methode hat Erfolg: William liest bereits mit 2 Jahren die Zeitung, spricht 4 Sprachen, überspringt eine Schulklasse nach der anderen, ist mit nur 8 Jahren Autor von 4 Büchern, hält mit 10 Jahren einen vielbeachteten Vortrag vor Professoren der Harvard Universität und wird in der Öffentlichkeit gefeiert.

    Der Vater sieht sich bestätigt: mit seiner Methode wird es nur intelligente und selbstständig denkende, freie Menschen geben, der Menschheit winkt eine bessere und glückliche Zukunft.


    Im dritten Teil zeigt der Erzähler, wie William sich seinen Eltern verweigert, wie er die Rolle als dressiertes Vorführkind nicht länger annimmt. William weist autistische Züge auf und isoliert sich konsequent von einer Gesellschaft, mit der er nicht klarkommt. Er ist ohne jede Empathie, ohne jede soziale und emotionale Intelligenz, und menschliche Zuwendung in Form von Freundschaft und Liebe sind ihm – er hatte sie selber nicht erfahren – völlig fremd.


    Der Roman zeigt eine interessante Aktualität. Für die sog. Helikopter-Eltern mag die Sidis-Methode durchaus ihre Reize haben. Aber es bleibt dem jungen Genie verwehrt, glücklich zu werden, und als Leser denkt man über die Ursachen nach. Liegen die Gründe in seiner lieblosen Erziehung? Oder in seiner Veranlagung? Oder liegen sie in der Gesellschaft, in die William sich nicht einfügen kann und will?


    Was ist menschliches Glück?


    Der Leser wird hin- und hergerissen: er empfindet Mitleid mit dem einsamen Kind, das für seine Klassen- und Studienkameraden eine Zielscheibe ihrer Hänseleien wird und Mitleid mit dem jungen Menschen, der nirgendwo Fuß fassen kann. Zugleich ist der Leser befremdet wegen der beleidigenden Arroganz dieses Kindes und seiner maßlosen Egozentrik und Rücksichtslosigkeit.

    Der Leser empfindet aber auch Bewunderung für die Konsequenz, mit der William sein Leben gestaltet. Er überwirft sich mit seinen Eltern, verweigert den Kriegsdienst, schließt sich einer bolschewistischen Gruppe an, ist Anarchist und Pazifist, attackiert den Kapitalismus, prangert Ausbeutung in jedweder Form an, verteidigt seine Isolation und das, was die Gesellschaft als sozialen Abstieg, als Loser bezeichnen würde, und lässt sich von seinen Überzeugungen nicht abbringen.


    Zehrer ist ein faszinierender und spannender Roman gelungen. Er bietet ein dicht gesponnenes Psychogramm eines besonderen Menschen, das auf einer jahrelangen, äußerst akribischen Recherche beruht. Die äußeren Handlungen sind bestimmt von den Ereignissen der Zeitgeschichte, die in die Handlung mit einbezogen werden: angefangen vom Kriegseintritt der USA, der verheerenden Spanischen Grippe bis hin zur Weltwirtschaftskrise und dem II. Weltkrieg.


    Und bestechend schön ist die Sprache Zehrers in ihrer Nüchternheit, aber auch in ihren lyrischen Momenten z. B. bei der Beschreibung einer langen Reise der Hauptfigur.


    Ein Interview mit dem Autor findet sich hier:

    https://www.deutschlandfunkkultur.de/autor-klaus-caesar-zehrer-ueber-william-james-sidis-ein.1270.de.html?dram:article_id=396115


    Fazit:

    ein überaus lesenswerter Roman über einen in mehrerer Hinsicht faszinierenden Menschen.

    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • So ein ernsthaftes Buch hätte ich von diesem Autor gar nicht erwartet...

    Er war mit Robert Gernhardt befreundet, und hat mit ihm eine Anthologie lustiger Gedichte herausgegeben.


    Vielen Dank für diese Rezension!

    "Ein Mensch, der Ideale hat/
    Der hüte sich, sie zu erreichen!/
    Sonst wird er eines Tags anstatt/
    Sich selber andern Menschen gleichen."
    (Erich Kästner) :):)

  • Autor: Klaus Cäsar Zehrer

    Titel: Das Genie

    Seiten: 651

    ISBN: 978-3-257-24473-1
    Verlag: Diogenes


    Autor:

    Klaus Cäsar Zehrer wurde 1969 in Schwabach gebohren und ist ein deutscher Schriftsteller. Zunächst studierte er Kulturwissenschaften in Lüneburg, war Praktikant der Satirezeitschrift Titanic und wurde 2002 mit einer Dissertation zur Dialektik der satire in Bremen promiviert. Als freier Autor, Herausgeber und Übersetzer lebt er in Berlin. "Das Genie", ist sein erster Roman.


    Inhalt:

    Boston, 1910: Der elfjährige William James sidis wird von der Presse als "Wunderjunge von Harvard" gefeiert. sein vater triumphiert. Er hat William von Geburt an mit einem speziellen Lernprogramm trainiert. Doch als william erwachsen wird, bricht er mit seinen Eltern und seiner Vergangenheit und weigert sich, seine Intelligenz einer Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, die von Ausbeutung, Profitsucht und Militärgewalt beherrscht wird. (Klappentext)


    Rezension:

    Manchmal muss sich ein Schriftsteller nicht einmal eine Geschichte ausdenken, um etwas interessantes erzählen zu können. oft genug sind tatsächliche Geschehnisse hundertfach interessanter. So, hier, das Leben eines Mannes, der wohl das letzte Universalgenie der jüngeren Vergangenheit gewesen sein dürfte. Klaus Cäsar Zehrer erzählt die Geschichte eines Kindes ukrainischer einwanderer, die vom Ehrgeiz getrieben, dieses nach strikten psychologischen Gesichtspunkten und einem speziellen Lernprogramm erzogen, welches so zum Genie mit allen Vorzügwen und Fallstricken wurde, die heute dem echten William James Sidis zugeschrieben werden.


    Von normalen Kinderspielen ferngehalten, lernte er bereits im Kleinkindesalter lesen, entwickelte eine hohe mathematische begabung und ein Interesse für Naturwissenschaften, schrieb bis zu seinem achten Lebensjahr bereits mehrere Bücher. Er war das "Wunderkind von Harvard", von den eigenen Eltern getriezt, von der Presse gefeiert und gejagd. Doch was passiert, wenn ein Genie einfach nur leben möchte?


    Viele Ebenen und Fragestellungen ziehen sich durch den sehr detailreich erzählenden Roman, in dem nur kleine Abweichungen vom leben des realen Vorbildes zu finden sind. Was macht uns zu dem, wer wir sind? Sind es unsere Eltern, die Gesellschaft, unsere Umgebung? Wozu führt es, wenn eine Komponente überwiegt oder eine andere vorenthalten wird? Kann man seine Kinder zu Genies erziehen? Wozu ist Wissen gut? Wie frei sind wir in unseren Entscheidungen?


    Es sind solche und noch viel mehr Fragen, die zwischen den Zeilen auftauchen und die ein Lesender nur schwer wird eindeutig beantworten können. Zu komplex das vorliegende beispiel, zu turbulent diese feinsinnige Romanbiografie, die einem in den Bann zieht. Die Protagonisten, allen voran die drei Hauptprotagonisten, sind fassbar. Fast ist es so, als stünde man neben ihnen und taucht ein in die sich entwickelnde Metropolregion an der amerikanischen Ostküste und lebt, leidet förmlich mit, wenn Sidis seine größten Triumphe, aber auch seine größten Niederlagen erfährt.


    Sprunghaft spielen die Protagonisten mit Sympathien, die sie beim Leser schnell erlangen, jedoch ebenso fix verlieren. Keine Figur ist dauerhaft einer Seite zu zu ordnen. So schnell habe ich selten schon Protagonisten geliebt und verstanden, dann wieder schlagen können. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Trifft die Gesamtheit der Handlungsstränge, der Figuren hier ganz gut. Ein Roman über hohe Aufstiege und tiefes Fallen, darüber, was Eltern anrichten und Kinder daraus machen können und die großen Fragen des Lebens. Vielleicht hätte der echte William James Sidis sie gar beantworten können. Ob er es gewollt hätte, steht auf einem anderen Blatt.

  • Wow!
    Was für ein tolles Buch! Ich bin restlos begeistert.
    Da wäre zunächst die Geschichte: Ein grandioser Romanstoff (Inhalt s. Rezensionen oben), eine Art Romanbiografie einer heute völlig vergessenen Berühmtheit. William James Sidis war eine unglaublich tragische Figur. Doch der Roman setzt der Tragik einen leichten, humorvollen Erzählton entgegen, was einen unglaublich reizvollen Kontrast ergibt. Das Schwere leicht erzählt - das ist eine Kunst, die nur wenige Autoren wirklich beherrschen. Klaus Cäsar Zehrer beherrscht sie - in einem so hohen Mass, das für einen Erstlingroman erstaunt!
    Das Genie erzählt zunächst die Geschichte von Sidis' ebenfalls genialem Vater, der aus Osteuropa mittellos in die USA einwandert und sich mit seinem unstillbaren Wissensdurst langsam nach oben arbeitet. Seine Geschichte ist untrennbar mit der des Sohnes William - dem titelgebenden Genie - verbunden, und der Roman ist eigentlich die Geschichte eines tragischen Scheiterns - des Scheiterns einer Erziehungsmethode (der sog. Sidis-Methode), die Genies hervorzubringen verspricht.

    Zehrer schafft dabei das Kunststück, sowohl die Atmosphäre jener Jahre (von 1901 bis ca. 1940) fast greifbar zu rekonstruieren, als auch die Hauptfiguren lebendig zu gestalten.
    Und er regt zum Nachdenken an über die Bedingungen und Ingredienzien von Erziehung und über den Stellenwert des Wissens.
    Ein reiches, unvergessliches Buch, das ich jedem an Herz legen möchte, der Unterhaltung auf höchstem Niveau und mit Tiefgang sucht.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: von :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Dieses Buch habe ich schon vor recht langer Zeit gelesen. Heute durch den Rezensionsthread bin ich mal wieder drauf aufmerksam geworden. Und da wollte kurz mich mitteilen. Ich fand das Buch großartig. :applause: Es ist auch schon die zweite Biographie, die ich über die sehr interessante Persönlichkeit wie Williamm James Sidis lese. Ich mag Bücher über die Menschen mit einem überdurchschnittlich hohem Intelligenzquotient, denn die sind in der Regel schräg (was ich gar nicht wertend meine), passen nicht in den allgemein akzeptierten Rahmen, und sind einfach anders. In manchen Bereichen genial, in anderen wiederum hilflos. Aber das nur am Rande, um mein Interesse an hohem IQ zu erklären. O:-) Zurück zu dem Roman: Ich fand es sehr schön, dass man in diesem Buch Einblicke in die Geschichte von William vom Anfang an hatte, also seit seiner Kindheit. Sein Vater, auch die Mutter, jedoch viel weniger, nehmen ein Teil der Erzählung ein. Es ist für einen Leser ersichtlich welche Einwirkung die Erziehung auf das Leben des Kindes in seiner Familie gegeben hat. Ich hatte ehrlich gesagt, Mitgefühl mit dem William. Auf Grund seiner Veranlagung und Unfähigkeit in einem "normalen" Leben Platz zu finden, hatte er nicht gerade berauschendes und glückliches Leben geführt. Eine tragische Geschichte. Aber sehr interessant.

    2024: Bücher: 99/Seiten: 43 438

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

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