Über den Autor:
Stephan Thome wurde am 23. Juli 1972 in Biedenkopf, Hessen geboren. Nach dem Zivildienst in einer sozialpsychiatrischen Einrichtung in Marburg studierte er Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie in Berlin, Nanking, Taipeh und Tokio. 2005 erschien unter dem Titel »Die Herausforderung des Fremden: Interkulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken« seine Dissertationsschrift. Zur selben Zeit begann er als DFG-Stipendiat am Institut für Chinesische Literatur und Philosophie der Academia Sinica zu arbeiten, wo er über konfuzianische Philosophie des 20. Jahrhunderts forschte. Bis 2011 betätigte er sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Forschungseinrichtungen in Taipeh und übersetzte unter anderem Chun-chieh Huangs Werk »Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung« ins Deutsche. Sein Roman »Grenzgang« gewann 2009 den aspekte-Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres und stand – wie auch sein zweiter Roman »Fliehkräfte« sowie das hier rezensierte Buch – auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2014 wurde Thome von der Akademie der Künste Berlin mit dem Kunstpreis Literatur ausgezeichnet. Im gleichen Jahr erhielt die Verfilmung des Romans »Grenzgang« den Grimme-Preis. Seit 2011 lebt und arbeitet Stephan Thome als freier Schriftsteller; derzeit lebt er in Taipeh. (Quelle: Amazon)
Buchinhalt:
China, Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine christliche Aufstandsbewegung überzieht das Kaiserreich mit Terror und Zerstörung. Ein junger deutscher Missionar, der bei der Modernisierung des riesigen Reiches helfen will, reist voller Idealismus nach Nanking, um sich ein Bild von der Rebellion zu machen. Dabei gerät er zwischen die Fronten eines Krieges, in dem er am Ende alles zu verlieren droht, was ihm wichtig ist. An den Brennpunkten des Konflikts – in Hongkong, Shanghai, Peking – begegnen wir einem Ensemble so zerrissener wie faszinierender Persönlichkeiten: darunter der britische Sonderbotschafter, der seine inneren Abgründe erst erkennt, als er ihnen nicht mehr entgehen kann, und ein zum Kriegsherrn berufener chinesischer Gelehrter, der so mächtig wird, dass selbst der Kaiser ihn fürchten muss.
(Quelle: Amazon)
Das Buch umfasst 710 Seiten unterteilt in 25 Kapitel mit sprechenden Titeln. Einigen Kapiteln sind noch kurze episodische Teile angehängt, im Inhaltsverzeichnis sind diese kursiv gedruckt. Diese Einschübe geben Einblicke in beschriebene oder noch kommende Ereignisse von unterschiedlichsten Blickwinkeln aus. Alle Kapitel sind datiert, so dass man stets weiß, in welchem Zeitabschnitt man sich bewegt. Am Ende findet sich ein hilfreiches Personenregister, in dem leider nicht gekennzeichnet wurde, welche der Protagonisten fiktiv oder real sind. Die meisten im Roman vorkommenden Protagonisten waren reale Personen der Zeit. In beiden Klappen findet sich eine Karte, die die Gegend der Handlungen zeigen.
Meine Meinung:
Zu Beginn unserer Minileserunde fürchtete ich mich ein wenig vor dem Umfang der erzählten Geschichte und davor, evtl. zu wenig über die damalige Zeit zu wissen. Die Geschichte beginnt im Rückblick des fiktiven Protagonisten Johann Philipp Neukamp (später Fei Lipu genannt), der nach den niedergeschlagenen März-Revolutionen 1848 flieht und dadurch zufällig zum Missionar in Hongkong wird – eine Aufgabe, die er nicht gesucht hat und auch nicht erfüllen kann. Ausgesandt von der Basler Mission, bekommt er in Hongkong Kontakt zur London Missionary Society und damit zufällig zum Bruder des Himmlischen Königs des Taiping-Reiches, Hong Xiuquan – einem christlichen Konvertiten der Hakka, der einen fulminanten Aufstand begann und am Ende von Nanking aus ein riesiges Reich regiert. Anhand Fei Lipus fiktiver Geschichte, die über Umwege bis zum Himmlischen König in Nanking führt, führt der Autor den Leser durch die Zeit des zweiten Opiumkrieges und des Taiping-Aufstands, erzählt aus mehreren Perspektiven. Die beiden vorherrschenden Blickwinkel sind die des britischen Sonderbotschafters Lord Elgin sowie des chinesischen Generals Zeng Guofan - beides Männer mit Weitblick und tiefen philosophischen Gedanken, die gezwungen sind, ihre „Mission“ zu erfüllen ohne Rücksicht auf Verluste oder eigene Zweifel. Der eine ist ein verarmter Diplomat aus sehr altem Adel, der aus Geldnot heraus die ihm auferlegten Aufgaben nicht ablehnen kann, der andere ein chinesischer Gelehrter im Mandschu-regierten China, der eher zufällig zum General aufsteigt und stetig an Macht gewinnt, bis sein Aufstieg für ihn selbst zur Gefahr zu werden droht. Dem Engländer zur Seite steht sein (fiktiver) Sekretär Maddox, der stets versucht, die chinesische Seite zu erklären und das Verständnis seines Herren für deren Lage zu vertiefen. Dem das alte System verkörpernden General steht sein Schüler Li Hongzhang zur Seite, der die europäische Handlungsweise schnell durchschaut und sie sich zu Nutzen macht. Am Ende scheitern der Taiping-Aufstand sowie der fiktive Missionar an ihren eigenen Ansprüchen und der Realität und das chinesische Reich sieht sich zum Wandel und zur Öffnung gezwungen, geführt von Prinz Gong und der Kaiserinwitwe Ci Xi.
Diese immense Geschichte erzählt Stephan Thome auf unnachahmliche Weise. Als studierter Sinologe hat er tiefe Einblicke in die Geschichte, die er dem Leser spannend und fesselnd näher bringt obwohl er durchaus die Grausamkeiten des Aufstands und der Kriege nicht verschweigt. Ganz im Gegenteil gerät man beim Lesen einige Male an Grenzen und muss die Bilder im Kopf beherrschen lernen. Seine fiktiven Personen gestaltet er lebendig und facettenreich und die realen Personen macht er zu Persönlichkeiten mit einer Tiefe, mit feinen Charakterzeichnungen und widerstreitenden Gedanken, die sie wieder zum Leben erwecken und ihnen fast ein Denkmal setzt. Besonders Lord Elgin und General Zeng Guofan werden so fein ausgearbeitet, ihnen gibt er Sprache, widerstreitende Gedanken, Einblicke und Gefühle, Kanten und Ecken, Stärken und Schwächen, so dass sie die Geschichte mitreissend und faszinierend zum Leben erwecken. Das Wort „Mission“ bekommt in Thomes Roman viele Bedeutungen und Facetten, doch am Ende ist keine davon wirklich positiv und besonders die Verantwortung der christlichen Missionare an den damaligen Ereignissen wird beleuchtet und ganz am Ende auch beantwortet.
Die Aufmerksamkeit des Lesers fordert Thome allerdings aufs höchste. Fein eingestreut in die Geschichte sind viele kleine Puzzleteilchen, die am Anfang Fragen aufwerfen, die man teils noch nicht versteht, leicht überliest und die sich am Ende zu einem fertigen Bild zusammensetzen. Auch die unterschiedlichen Einschübe darf man nicht einfach lesen und abhaken, sie runden das Bild fein ab und geben diverse Stichpunkte aus ganz anderen Blickwinkeln. Hier war ich mehr als einmal froh, das Buch gemeinsam mit drawe in unserer MLR zu lesen, denn so konnten wir im direkten Austausch immer weiter das Puzzle zusammensetzen. Was die eine übersah, fiel der anderen auf und der Austausch hat sehr geholfen, alle Facetten der Geschichte zu verstehen. Was ich hier in meiner Rezension evtl. vergessen habe, wird sie hoffentlich noch ergänzen.
Fazit:
Wer sich auch nur im geringsten für hervorragend recherchierte und geschriebene historische Romane interessiert, für den ist dieses Buch eigentlich ein Muss. Auch ohne jedes Vorwissen über die Zeit gibt es zu keinem Zeitpunkt Schwierigkeiten, den reellen Handlungen und Ereignissen zu folgen. Aber danach hat man tiefe Einblicke in eine Zeit der chinesischen Geschichte, die das Land unumkehrbar veränderte und versteht manche Handlungsweisen des heutigen Chinas auf einer anderen Ebene (was nicht bedeutet, dass man sie für gut befindet). LESEN!