Charles Dickens - Eine Geschichte aus zwei Städten / A Tale of Two Cities (Start: 1. Februar 2019)

  • Also wenn Du an den Ziehsohn Caesars denkst, dann bist Du beim falschen Brutus

    Ja, da war ich beim falschen Brutus. Wie gut, dass Du Fußnoten hast! Das Gemälde von David kenne ich - grässlich.

    Aber wie das Zeichen aussieht, weiß ich immer noch nicht...? Und was das mit dem Weinhandel zu tun hat? Außer der Liebe der späten Frz. Revolution zur klassischen Antike?

    Vielleicht nur ein Hinweis auf die Blutrünstigkeit der Zeit?

    Nochmal ein bisschen Mitgefühl FÜR sie und vielleicht ein wenig Reue oder Bedauern

    Vielleicht hätten nur Zweifel gereicht, z. B. bei ihrem Gang durch die Stadt, wo sie sich wie eine Rache-Maschine der Wohnung der Darneys nähert.

    Sie ist offensichtlich kein gemischter Charakter wie ihr Mann, sie macht keine Entwicklung, sie ist und bleibt Rache pur.

    Hätte sie Mitgefühl gezeigt, wäre das Ende differenzierter und nicht so plakativ. So hat es etwas von einem Märchen, wo am Ende der eindeutig Böse genau so eindeutig bestraft wird.

    Ich denke allerdings auch wie Du, dass der Plot durch eine Entwicklung der Mme Defarge mehr Tiefe bekommen hätte.


    Was mir übrigens auch noch gut gefallen hat, war dieses Wandern Cartons durch die Stadt, während er immer wieder dieses Gebet mit der Auferstehung wiederholt hat. Das war wie eine Litanei und hatte auch so einen Sog - ich könnte mir gut vorstellen, dass jemand, der dem Tod bald ins Auge blicken wird, sich auf diese Art beruhigt und auch vorbereitet. Fand ich gut.

    Mir hat diese ganze Szene auch gut gefallen. Sie wird fortgesetzt im Gefängnis in der Nacht vor der Hinrichtung - das hätte der Erzähler in wenigen kurzen Sätzen abhandeln können, aber er entwirft ein Psychogramm und erspart seinen Lesern nicht den emotionalen Tumult, in dem sich so ein Mensch befindet.


    Ansonsten sehe ich das auch so, dass der Plot deutliche Schwächen hat. Vor allem Carton, der Held der Geschichte, hätte bisschen mehr Beachtung seitens des Erzählers verdient. Wir werden neugierig gemacht durch die geheimnisvollen Andeutungen Cartons in seinem Gespräch mit Lucie, aber das Geheimnis wird nicht enthüllt. Oder ist es "nur" der Alkoholismus, der Cartons berufliche Entwicklung gehemmt hat?


    Was andererseits aber schon echt tragisch ist, dass Carton quasi auf dem Sterbebett eine Frau kennenlernt, mit der er sich gut verstehen könnte und die auf ihre Art auch eine gute Zukunft mit ihm haben könnte. Wenn es nicht für beide schon zu spät wäre

    Ich weiß nicht - da scheint mir doch ein großes soziales Gefälle zwischen den Beiden zu sein. Ich habe die Stelle gar nicht so romantisch gelesen, sondern bloß so, dass sich hier zwei Menschen in einer extremen Situation stützen und, wie gesagt, dass Carton hier seine menschlichen Qualitäten, seine Gefasstheit, seine Stärke zeigen kann.

    Obwohl der Kuss natürlich den Gedanken nahelegt, dass - - - wer weiß.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Oder ist es "nur" der Alkoholismus, der Cartons berufliche Entwicklung gehemmt hat?

    Oder es war doch die Syphilis. Vielleicht wollte Dickens wirklich das andeuten, aber es ist zu nebulös für heutige Leser?

    Ich weiß nicht - da scheint mir doch ein großes soziales Gefälle zwischen den Beiden zu sein. Ich habe die Stelle gar nicht so romantisch gelesen, sondern bloß so, dass sich hier zwei Menschen in einer extremen Situation stützen und, wie gesagt, dass Carton hier seine menschlichen Qualitäten, seine Gefasstheit, seine Stärke zeigen kann.

    Obwohl der Kuss natürlich den Gedanken nahelegt, dass - - - wer weiß.

    Das bezieht sich auf die Näherin, oder? Ich habe die Szene auch nicht romantisch gedeutet, sondern eher als weiteren Verweis auf Cartons moralische Aufrichtigkeit. Wobei ich die Figur der Näherin wieder so extrem unrealistisch fand. Wie sie ständig wiederholt, wie klein und schwach sie ist - wer macht sowas? Bin ich einfach zu weit von der damaligen Zeit weg und kann mich nicht mehr reindenken, oder hat Dickens wirklich etwas seltsame Vorstellungen von Frauen?

    "Selber lesen macht kluch."


    If you're going to say what you want to say, you're going to hear what you don't want to hear.
    Roberto Bolaño

  • Das Aufeinandertreffen von Mme Defarge und Miss Pross fand ich interessant. Die Beiden stehen sich gegenüber wie der die beiden Erzengel Luzifer und Michael, wie das personifizierte Gute und Böse, und getreu ihrem Vorbild unterliegt Luzifer.

    Die Auseinandersetzung fand ich richtig gut dargestellt. Da hörte ich es regelrecht knistern zwischen den beiden. Und die Sprachunterschiede bildeten da keine Hürden. Ganz im Gegenteil!



    Die Rachgier der Mme Defarge hat mich an das Alte Testament erinnert. Im Buch Moses heißt es sinngemäß, dass die Schuld der Väter bis ins dritte oder vierte Glied verfolgt wird - und genau das macht Mme Defarge, und daher will sie nicht nur Darney, sondern auch seine Tochter und schließlich auch den Vater Lucies ans Messer liefern, zur Not eigenhändig.

    An das alte Testament hätte ich in dem Zusammenhang jetzt gar nicht gedacht. Es passt richtig gut!



    die einzigen abgerundeten und tief charakterisierten Figuren sind auch für mich Mr. Lorry und Mme Defarge. Die Hauptcharaktere bleiben sehr blass und schemenhaft. Das kenne ich bisher so nicht von Dickens und überlege noch, woran das liegen könnte. :-k

    Ich habe mich schon gefragt, ob Dickens seine Figuren doch so blass darstellt und ich einfach nur vergessen und verdrängt habe, dass das so wäre. Aber wenn ich jetzt lese, dass es dir auch so geht, war das dann doch nicht der Fall.



    Ich empfand die Figuren manchmal wie Schachfiguren. Wir brauchen sie in Paris? Husch, schon sind sie dort. Dann werden Dinge bei den Protagonisten angedeutet, die nicht weiter ausgearbeitet werden. Was ist z.B. der Grund warum sich Carton so aufgegeben hat und er nur noch ein Zuarbeiter von Stryver wurde? Da fehlt mir einfach ein Stückchen mehr Information. Von Lucie rede ich schon gar nicht mehr. Da haben wir ja schon darüber diskutiert und eine mögliche Erklärung gefunden.


    Fällt mir gerade ein, wie kommt da eigentlich Lorry in Verbindung mit dem Doktor? Irgendwie ging ich davon aus, dass er vom Doktor beauftragt wurde dessen Tochter in Sicherheit zu bringen, aber da fehlt mir gerade was. Oder stand das im Buch und ich habe es überlesen?


    Trotzdem fehlt mir da ein bisschen mehr ... weiß nicht, ... ein irgendwie weniger schwarz-weißes Ende vielleicht? Nochmal ein bisschen Mitgefühl FÜR sie und vielleicht ein wenig Reue oder Bedauern VON ihr oder auch (wie ich es für realistisch halten würde) Zweifel über ihr eigenes Verhalten? Das hätte ich mir am Ende gewünscht von Dickens.

    Dann wäre das doch eigentlich ein ziemlich kitschiges Ende von ihr geworden. Das hätte auch irgendwie nicht zu ihr gepasst. Sie war ja die Rache selbst. Das passt schon in meinen Augen wie es war.


    Diese Vision von Carton fand ich richtig gut! Statt eines Kapitels in x Jahren später einfach Carton sich alles Zukünftige ausmalen lassen - elegant gelöst.

    Das war richtig, richtig gut gemacht :pray:


    Was andererseits aber schon echt tragisch ist, dass Carton quasi auf dem Sterbebett eine Frau kennenlernt, mit der er sich gut verstehen könnte und die auf ihre Art auch eine gute Zukunft mit ihm haben könnte. Wenn es nicht für beide schon zu spät wäre. :cry: Das rührt jetzt wieder mein sentimentales Herz.

    Das hatte meines auch :drunken: Wenn Carton sich in England wie das letzte Trampeltier benommen hatte, hier ist er in Höchstform aufgelaufen. Und wie ich finde glaubhaft umgesetzt. Wobei ich weniger an romantische Gefühle für die Näherin, als an ein Akt des gegenseitigen Mutmachens in einer gruseligen Situation denke. Da knäult sich mein Magen vor Angst zusammen, wenn ich mir ausmale, wie es einem in einer derartigen Situation ergangen sein musste. :cry:

    Und die Beiden konnten sich dann ja wenigstens ein bisschen Trost und Mut spenden. Vielleicht aber doch ein wenig aufkeimende Liebe. Was auch schön wäre. Und gleichzeitig traurig.


    Meint ihr, Dickens wollte uns damit noch irgendetwas sagen? Dass man nicht zu früh aufgeben sollte? Denn so scheinbar groß Cartons Liebe für Lucie auch sein mag, den Tod einem guten Leben vorzuziehen, ist doch letztendlich unverständlich, wenn es sich nicht um Depressionen oder sehr große Schuld handelt, weswegen man das tut. Nur für den Nachruhm allein ... :-k

    Ich verstehe gerade nicht "nicht zu früh aufgeben sollte" . Carton hatte ja auch damit gerechnet, dass der Prozess mit einer Hinrichtung enden wird. Und da er Lucie schon ewig verehrt und er alles für sie tun würde, nutzte er doch seine große Ähnlichkeit mit Hilfe eines großartig beschriebenen "Kartenspiels" mit dem Gefängnisschaf aus. Für mich war es eher ein mutiger Akt des sich selbst opferns.


    Das hat jetzt natürlich nichts mit dem Buch zu tun, aber da kamen mir all die Geschichten in Erinnerung, die ich gelesen habe, bei denen sich Gefangene in Konzentrationslagern für andere geopfert haben.



    Was mir übrigens auch noch gut gefallen hat, war dieses Wandern Cartons durch die Stadt, während er immer wieder dieses Gebet mit der Auferstehung wiederholt hat. Das war wie eine Litanei und hatte auch so einen Sog - ich könnte mir gut vorstellen, dass jemand, der dem Tod bald ins Auge blicken wird, sich auf diese Art beruhigt und auch vorbereitet. Fand ich gut.

    Auch das war wieder wahnsinnig gut beschrieben!!

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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  • Bin ich einfach zu weit von der damaligen Zeit weg und kann mich nicht mehr reindenken, oder hat Dickens wirklich etwas seltsame Vorstellungen von Frauen?

    Ich glaube beides trifft zu. Das Rollenbild der Frau zu dieser Zeit war entsprechend und dazu kommt noch Dickens verklärte Vorstellungen einer idealen Frau. Selbst eine starke Frau wurde von Dickens nur überzogen dargestellt.

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  • So als erstes kleines Fazit für mich, damit ich es nicht vergesse. Diesmal war es ein Dickens mit Abstrichen für mich. Da sind noch ein paar Fädchen lose, fehlen mir noch ein paar Ausarbeitungen bei Protagonisten und hier und da wurde der Zufall doch arg strapaziert.

    Aber im Großen und Ganzen war er wieder einfach nur großartig. Die Beschreibungen der Revolution, des einen oder anderen Protagonisten, der Lesesog und die Stimmungen die er erzeugen konnte, dass alles hat mich mehr begeistert, wie es sich bei meinem meckern anhören mag. Und richtig spannend war es für mich ohnehin. Beim lesen habe ich mich kein Stückchen gelangweilt.

    Ungewohnt war diesmal auch, dass ich mich anfänglich äußerst konzentrieren musste, um ja nichts zu verpassen. Was allerdings kein Abstrich für mich wäre.

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  • Zur Ergänzung meines Fazits: Und dann noch die eher düstere Stimmung. Die kannte ich bisher auch nicht so von Dickens.

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  • Zur Ergänzung meines Fazits: Und dann noch die eher düstere Stimmung. Die kannte ich bisher auch nicht so von Dickens.

    Da tendierte Dickens wohl in seinem Spätwerk öfter mal hin. Hard Times und Little Dorrit sind ebenfalls etwas düster angelegt.


    Bei Mark Twain war das ebenso. Seine späten Werke wurden als "die dunklen Schriften" bezeichnet.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

  • Ich denke allerdings auch wie Du, dass der Plot durch eine Entwicklung der Mme Defarge mehr Tiefe bekommen hätte.

    Dann wäre das doch eigentlich ein ziemlich kitschiges Ende von ihr geworden. Das hätte auch irgendwie nicht zu ihr gepasst. Sie war ja die Rache selbst. Das passt schon in meinen Augen wie es war.

    Ich kann schon verstehen, dass zu diesem Zeitpunkt, nach mehreren Jahren Grausamkeit und Terror durch die Revolutionäre (und diese Willkürherrschaft), das Verständnis für sie und die anfänglichen Überreaktionen quasi aufgebraucht ist.

    Ich könnte mir vorstellen, dass ein Roman über die Revolution zu Dickens' Zeiten da auch ganz klar Stellung beziehen wollte. (Und nicht leichtfertig den Eindruck erwecken, Arme und Unterdrücke, die die Unterdrücker sinnlos jahrelang ermorden, wären auf dem richtigen Weg.)

    Von daher ist es schon okay. Man kann es auch so sehen, dass die Revolutionäre in dieser Phase noch nicht so weit waren, ihre eigenen Zweifel zuzulassen.


    Ich weiß nicht - da scheint mir doch ein großes soziales Gefälle zwischen den Beiden zu sein. Ich habe die Stelle gar nicht so romantisch gelesen, sondern bloß so, dass sich hier zwei Menschen in einer extremen Situation stützen und, wie gesagt, dass Carton hier seine menschlichen Qualitäten, seine Gefasstheit, seine Stärke zeigen kann.

    Das bezieht sich auf die Näherin, oder? Ich habe die Szene auch nicht romantisch gedeutet, sondern eher als weiteren Verweis auf Cartons moralische Aufrichtigkeit.

    Das hatte meines auch :drunken: Wenn Carton sich in England wie das letzte Trampeltier benommen hatte, hier ist er in Höchstform aufgelaufen. Und wie ich finde glaubhaft umgesetzt. Wobei ich weniger an romantische Gefühle für die Näherin, als an ein Akt des gegenseitigen Mutmachens in einer gruseligen Situation denke.

    Oh, also sooo einfach nur romantisch meinte ich es auch nicht! :lol:

    Carton läuft da wirklich zu Hochform auf, verhält sich moralisch einwandfrei und organsiert alles Notwendige hochkonzentriert und vorausschauend. Und gleichzeitig lernt er dann auch noch jemanden (es könnten auch mehrere sein, aber so viel Zeit ist ja nicht) kennen und könnte so, ganz entgegen seiner Darstellung in London, Freunde gewinnen und vielleicht darüber hinaus auch ein eigenes Familienleben gründen. Weil er dazu die Fähigkeiten hat, wie man am Ende deutlich vor Augen geführt bekommt.

    Weiß nicht, ob ihr versteht, was ich meine, (derzeit kann ich anscheinend nicht immer rüberbringen, worum's mir geht)?

    Ich verstehe gerade nicht "nicht zu früh aufgeben sollte" . Carton hatte ja auch damit gerechnet, dass der Prozess mit einer Hinrichtung enden wird. Und da er Lucie schon ewig verehrt und er alles für sie tun würde, nutzte er doch seine große Ähnlichkeit mit Hilfe eines großartig beschriebenen "Kartenspiels" mit dem Gefängnisschaf aus. Für mich war es eher ein mutiger Akt des sich selbst opferns.


    Das hat jetzt natürlich nichts mit dem Buch zu tun, aber da kamen mir all die Geschichten in Erinnerung, die ich gelesen habe, bei denen sich Gefangene in Konzentrationslagern für andere geopfert haben.

    Ich weiß nicht. Diese ganze Sich opfern-Geschichte funktioniert doch nicht, wenn es nur allein um die große Liebe zu Lucie geht. Da greift sich doch jeder ans Hirn und sagt sich, wenn er sie liebt, soll er halt mit ihr zusammen sein wollen und gerade nicht sterben.

    Also muss da ja was dazu kommen, was dieses Sichaufopfern logischer erscheinen lässt.

    Beispielsweise dass der sich Opfernde sowieso keine Hoffnung auf ein schönes, erfüllendes Leben mehr gehabt hätte.

    Wegen Krankheit, sehr großer Schuld oder auch aufgrund von Depressionen.

    Jetzt stellt sich am Ende des Buchs heraus, dass Carton noch jede Menge Kraft und Moral in sich hat. Dass er fürsorglich alles vorbereitet, Das ist nur verständlich, wenn sein Sterben viel bessere Folgen nach sich zieht als sein Überleben. (Ich weiß jetzt nicht, welche Beispiele aus KZs du meinst, aber ich könnte mir vorstellen, dass ein alter, kranker Mensch, der sein Leben gelebt hat, für z.B. eine Mutter von jungen Kindern sowas tun würde.) Cartons Überleben wird aber gerade am Ende durchaus noch als wertvoll für seine Umgebung geschildert. Er tut Gutes für Andere, er setzt sich geschickt ein, er tröstet andere Verzweifelte - all das wären auch sehr gute Voraussetzungen, um selbst noch ein erfülltes Leben führen zu können.

    Deshalb habe ich mich am Ende gefragt, ob das nicht so eindeutig gemeint ist von Dickens. Ob man sein Leben nicht so leicht opfern soll. Oder so.


    Es stellt sich also die Frage: Warum ist für Dickens' Figur Carton die beste Wahl, um glücklich zu werden, zu sterben, mit der Aussicht, über Generationen hinweg seinen Namen mit Verehrung und Dankbarkeit verbunden zu sehen? Liegt es daran, dass er eh sterben muss, oder ist sein eigenes Glück ihm dermaßen sehr viel weniger wert als das von Lucie ohne ihn, oder sieht er keine Hoffnung mehr, weil er an Depressionen leidet und ihm niemand hilft oder hat er große Schuld auf seinen Namen geladen, der nur auf diese Weise wieder reingewaschen werden kann?

    Oder ist Carton einfach die Parallelfigur zu der reinen, moralisch einwandfreien, Lucie.

  • Hallo zusammen. Nachdem ich am Anfang so langsam vorankam, habe ich nun schon seit fast 10 Tagen das Buch beendet. Ich hatte Angst, euch vor lauter Aufregung zu spoilern, deswegen habe ich mich lieber bedeckt gehalten.

    Alles trifft vor Rot.

    Und zu diesen Menschen, die kurz vorher jeden getötet haben, ob Frau, Mann oder Kind.


    Ein wilder Reigen tanzt eines Tages an Lucie vorbei. Da mir der Tanz "Carmagnole" nichts gesagt hatte, habe ich wieder auf einen Wikipedia Beitrag zurückgegriffen.

    Diese Beschreibungen und andere ähnliche Szenen im Buch haben für mich deutlich meine Vorstellungen von der französischen Revolution geändert. Mir war schon immer klar, dass es mit viel Blutvergiessen und Tumult verbunden war, aber wie allumfassend sich das Geschehen durch die gesamte Bevölkerung zog, Frauen, Männer, Kinder, Greise, Lynchjustiz bis in die Hinterhöfe, hatte ich mir noch nie so schonungslos vor Augen geführt. Genau dieser private Blick aus dem Fenster, also die Perspektive raus aus der Totalen rein in die Zoomeinstellung, brachte mich sehr nahe ran. Gruselig.

    Zu diesen Menschen geht unser Doktor und lässt sich von ihnen nach La Force bringen um seinen Schwiegersohn zu retten. Das finde ich ziemlich unglaubwürdig. [-(

    :-kJaaa, von der Glaubwürdigkeit, bzw der Nachvollziehbarkeit von Handlungen, habe ich mich in diesem Buch schon längst verabschiedet. Dass der Doktor etwas wieder gut machen möchte, vielleicht sogar aufblüht in seinem Land unter seinem Volk, konnte ich mir sogar vorstellen. Aber ist schon eine komische , für mein Empfinden unausgeglichene Mischung, die Dickens da gebraut hat. Einige Figuren erklärt er mehr, andere weniger. Aber im Kern webt er eine Geschichte wie ein antikes Drama, bei dem es gar nicht so sehr um die psychologischen Motive geht, sondern nur um Handlung und Themen: Rache, Aufopferung, Schuld, Sühne, Krieg, Tod. Vielleicht ist diese Dopplung (psychologische Motive vs. Lebensthemen) sogar wieder bewusst konstruiert.

    Und genau das passt für mich nicht zu Dickens. Aber das ist tatsächlich mein ureigenes Problem: ich hab eine so hohe Meinung von Dickens durch die drei Bücher, die ich bisher von ihm gelesen habe, dass mich das grad kirre macht. In den anderen Büchern zweigt er ein Dickicht von Erzählsträngen auf, dass dem Leser die Ohren wackeln und der Kopf raucht, und am Ende führt er sie mit einer bestechenden Logik zusammen, dass man fassungslos steht und sich fragt "wie hat er das gemacht?". Und in diesem grandiosen Buch hier fängt er an zu "pfuschen"? Es ist ja kein Jugendroman, kein Erstling, bei dem man sagen würde "er war noch am Anfang", sondern er ist auf der Höhe seiner Kunst. Das finde ich so schade, das tut mir einfach leid und stört mich gleichzeitig enorm. :-?

    Mich hat es auch immer wieder irritiert, das Buch wirkt etwas atemlos, als würde er gerne noch einiges erklären, aber es gibt halt doch noch Wichtigeres zu erzählen.Eigentlich habe ich gedacht, dass das tatsächlich eine Schwäche ist, dass Dickens vielleicht unter Zeitdruck stand, mit den Abgabeterminen durcheinander kam o.ä.. Inzwischen kann ich mir aber auch vorstellen, dass das absichtlich war. Die Dinge in der französischen Revolution überschlagen sich , es wird nicht mehr danach gefragt, was wirklich dahintersteckt, und so ist auch für die Biografie einiger Figuren einfach keine Zeit mehr.

    Sie schafft ein äußerst liebevolles und warmes Heim, in dem sich ihre Familie und die engen Freunde sehr wohl fühlen. Und sie ist gegenüber ihrem Vater und ihren Ehemann sehr loyal und verbunden, wie ihr dauerhaftes Stehen am Gefängnis zeigt.

    Zugegeben, Lucie ist auch nicht meine Lieblingsfigur. Aber ich finde auch, dass sie einige Stärke zeigt. Sie reist ganz jung bis nach Frankreich, um den Vater zu retten, wohnt der ersten Gerichtsverhandlung bei und versucht eine aufrichtige Aussage zu machen, entscheidet sich offensichtlich für einen ganz passablen Mann, hält die Stellung , während der Mann im Gefängnis ist, geht jeden Tag an die Strassenecke...Klar, sie ist aufopfernd, aber zeigt doch Durchhaltevermögen und Standing

    "Ich habe zwar überhaupt keine Gelegenheit zum Schreiben und noch weniger Material, deswegen male ich die Buchstaben in meinem ureigensten Blute, aber ich erkläre erst mal lang und breit, wie ich diesen Brief schreibe, bevor ich zum verdammten Punkt komme." So viel zum Realismus.

    Das war übrigens die Passage, die mich am meisten aufgeregt hat, da kann man nichts mehr schön reden:lol:.Hier kam mir der Gedanke, dass Dickens einfach auch liefern musste und es dem breiten Publikum recht machen musste, ich würde es das Soap-Opera-Phänomen nennen.

    Dickens bedient das Klischee der aufopfernden Tochter, Frau und Mutter.


    Frage an die Kundigen unter Euch:

    Hat das mit dem Profil der Zeitung zu tun, für die er schrieb?

    Oder mit seiner Biografie?

    Vielleicht sogar beides (s.o).

    Ja, das ist ein Punkt, der mich schon länger beschäftigt und das würde, falls wir für den Charakter Darneys keinerlei Erklärung bekommen, ein

    Schwachpunkt sein, den ich von Dickens nicht erwartet hätte. dann käme zu der sowieso recht blaß geschilderten Person des Darney noch ein

    frei schwebender Melancholiker hinzu. Wenn eine Person so extrem lebensüberdrüssig und selbstmitleidig durch das Buch schleicht, möchte ich

    schon wissen warum er so ist. [-(

    Meinst du Darney oder Carton? Darney fand ich zwar grob skizziert, aber doch ausreichend erklärt.Als Nachwuchs einer solch aristokratischen und auch grausamen Familie hatte er bestimmt eine erschwerte Autonomieentwicklung:wink: und viele Schuldgefühle, die ihn zurücktrieben.

    Carton bleibt ein Mysterium. Aber irgendwie finde ich das einen spannenden Bruch. Er ist die Verkörperung des Antihelden, aber nur er allein kann als außenstehende Kraft die Verstrickung Darney/Defarge mit seinem Opfer aufheben. Vielleicht soll das auch eine politische Botschaft sein?

    So ganz habe ich den Auftritt dieser Figur nicht verstanden. Vielleicht sollte sie noch einmal darauf aufmerksam machen, was für ein gutherziger Mensch Carton doch ist?

    Ich glaube die Näherin ist als Beruhigung fürs Leserpublikum gedacht. Carton geht es gut mit seiner Entscheidung, er entwickelt sogar weiter empathische Kraft. Achtung Kugsch....erei: Psychologisch gesehen haben wir hier sogar ein präsuizidales Syndrom.

    Ich glaube, gar so seltsam ist es nicht - zwar schreckten Adlige dieser Zeit vor ziemlich wenig zurück, aber ein direkter Mord in persona vor Zeugen ist so eines der wenigen Dinge, die vielleicht nicht ganz so angesagt waren. Was also sollten sie mit der Frau tun? Einfach nur in dem Haus zurücklassen ging schlecht - wer weiß, was daraus geworden wäre. Hätte der Doktor ihr helfen können, hätte der Bruder einfach weiter gemacht wie vorher. Durch ihren Tod konnten sie die Sache leichter vertuschen und damit Schaden von der Familie abwenden. Wobei der Schaden nicht in der Vergewaltigung liegt, sondern eher darin, dass ein Bauernjunge Adlige zum Duell forderte.

    so sehe ich das auch, für die zwei war es eine rein pragmatische Lösung

    So hat es etwas von einem Märchen, wo am Ende der eindeutig Böse genau so eindeutig bestraft wird.

    Ja, das meinte ich oben...Ihr hattet ja schon die Parallele zu diesem Rachemythos gezogen, und ich glaube,dass das Buch eben nicht nur psychologisch zu verstehen ist.

    :study: Junge mit schwarzem Hahn- Stefanie vor Schulte


    No two persons ever read the same book (Edmund Wilson)

  • Hallo, bin auch wieder da :wink: Es gibt noch viel zu sagen und ganz bestimmt nicht alles in einem Post. Aber hier mal ein paar Kommentare von mir

    Was andererseits aber schon echt tragisch ist, dass Carton quasi auf dem Sterbebett eine Frau kennenlernt, mit der er sich gut verstehen könnte und die auf ihre Art auch eine gute Zukunft mit ihm haben könnte. Wenn es nicht für beide schon zu spät wäre.

    Ich glaube nicht, dass uns Dickens hier noch eine Liebesgeschichte am Ende präsentieren wollte. Zum einen ist es wieder eine Doppelung, wie wir schon etliche im Buch gefunden haben: erst lernt er Lucie durch Darnay kennen und auch die Näherin nähert sich ihm nur, weil sie ihn für Darnay hält, den sie im Kerker kennenlernte. Und zum anderen interpretiere ich es auch so, dass sich die beiden einfach Trost spenden und gegenseitig Kraft geben, um diesen letzten Gang aufrecht zu gehen. Mehr sehe ich nicht dahinter. :-k

    Aber wie das Zeichen aussieht, weiß ich immer noch nicht...? Und was das mit dem Weinhandel zu tun hat? Außer der Liebe der späten Frz. Revolution zur klassischen Antike?

    Vielleicht nur ein Hinweis auf die Blutrünstigkeit der Zeit?

    Ich habe immerhin herausgefunden, dass diese Schilder Nasenschilder heißen (warum auch immer :lol:), aber mehr leider nicht. Ich gehe mal davon aus, dass Leser zu Dickens Zeiten damit vielleicht mehr anfangen konnten als wir und dass die Zusammenhänge über die Zeit für uns leider nicht mehr deutbar sind. :scratch:


    Vielleicht hätten nur Zweifel gereicht, z. B. bei ihrem Gang durch die Stadt, wo sie sich wie eine Rache-Maschine der Wohnung der Darneys nähert.

    Sie ist offensichtlich kein gemischter Charakter wie ihr Mann, sie macht keine Entwicklung, sie ist und bleibt Rache pur.

    Hätte sie Mitgefühl gezeigt, wäre das Ende differenzierter und nicht so plakativ. So hat es etwas von einem Märchen, wo am Ende der eindeutig Böse genau so eindeutig bestraft wird.

    Ja, leise Zweifel hätten ihren Charakter differenzierter erscheinen lassen, aber dann wäre sie nicht mehr das plakative Bild der am Ende sinn-entlernten, blindwütigen Rache gewesen. Insofern passt es für mich, dass Dickens ihr nicht den Hauch eines Zweifels angedichtet hat. :wink:


    Mir hat diese ganze Szene auch gut gefallen. Sie wird fortgesetzt im Gefängnis in der Nacht vor der Hinrichtung - das hätte der Erzähler in wenigen kurzen Sätzen abhandeln können, aber er entwirft ein Psychogramm und erspart seinen Lesern nicht den emotionalen Tumult, in dem sich so ein Mensch befindet.

    Das war wieder Dickens, wie ich ihn mag: er kann Stimmungen heraufbeschwören und oft mit einer Leichtigkeit. Immerhin ist es eine dramatische Situation, in der sich Carton befindet, und doch setzt Dickens hier so hoffnungsvolle Akzente hinein und schafft eine für die Person am Ende positive Grundstimmung - Carton überzeugt sich damit nochmals, genau das Richtige zu tun.

    Vor allem Carton, der Held der Geschichte, hätte bisschen mehr Beachtung seitens des Erzählers verdient. Wir werden neugierig gemacht durch die geheimnisvollen Andeutungen Cartons in seinem Gespräch mit Lucie, aber das Geheimnis wird nicht enthüllt. Oder ist es "nur" der Alkoholismus, der Cartons berufliche Entwicklung gehemmt hat?

    Ja, das ist für mich auch das größte Manko der Figuren - dass Carton nicht ausdifferenziert wird. Er wird hingeworfen und der Leser wird aber mit der Gesamtinterpretation völlig im Regen stehen gelassen. Das fehlt mir besonders bei Carton, aber bei den anderen auch, und das wird sich auch in der Bewertung zeigen.

    Oder es war doch die Syphilis. Vielleicht wollte Dickens wirklich das andeuten, aber es ist zu nebulös für heutige Leser?

    "Die französische Krankheit" würde ja thematisch passen, aber irgendwie glaube ich nicht mehr daran. Ich glaube nicht, dass Carton eine verborgene, todbringende Krankheit hatte. Seinen "Schwur" an Lucie hat er zu einer Zeit getan, die ca. 15 Jahre vor seinem Tod liegt und schlecht gelaunt, schwermütig und launisch war er immer. Stets hat er seine Person herangemacht, hat sich selbst niedergemacht - das erklärt sich für mich nicht mehr mit einer normalen Krankheit. Ich denke, dass Dickens ihm einfach diesen Charakterzug angedichtet hat und eine nebulöse Vergangenheit andeutete, uns ansonsten aber rätseln lässt.

    Das bezieht sich auf die Näherin, oder? Ich habe die Szene auch nicht romantisch gedeutet, sondern eher als weiteren Verweis auf Cartons moralische Aufrichtigkeit. Wobei ich die Figur der Näherin wieder so extrem unrealistisch fand. Wie sie ständig wiederholt, wie klein und schwach sie ist - wer macht sowas? Bin ich einfach zu weit von der damaligen Zeit weg und kann mich nicht mehr reindenken, oder hat Dickens wirklich etwas seltsame Vorstellungen von Frauen?

    Eine sehr junge Frau unschuldig im Gefängnis (davon gehe ich einfach mal aus), auch noch längere Zeit im Gefängnis, wenn sie Darnay so gut kannte, dass sie jetzt von selbst auf ihn=Carton zugeht - das kann aus eh unterdrückten Frauen das allerletzte Quäntchen Selbstbewusstsein ausquetschen. Und davon hatten die Frauen damals eh nicht viel. Dazu die Angst vorm Sterben (ich hätte sie), vor der Guillotine, vor der geifernden Masse - ich glaube, das Bild ist nicht so realitätsfern, wie es uns heute vorkommt. Wir können uns nur nicht in diese Zeit zurückversetzen und was es hieß, als Frau sich einen Lebensunterhalt unter diesen Verhältnissen zu verdienen und dann in einem solchen Chaos mühsam zu überleben. Wir leben doch heute ein so konträr anderes Leben, das überhaupt nichts mehr mit damaligen Verhältnissen zu tun hat. Für Zeitgenossen Dickens war das bestimmt glaubhaft und für die hat er geschrieben.


    Fällt mir gerade ein, wie kommt da eigentlich Lorry in Verbindung mit dem Doktor? Irgendwie ging ich davon aus, dass er vom Doktor beauftragt wurde dessen Tochter in Sicherheit zu bringen, aber da fehlt mir gerade was. Oder stand das im Buch und ich habe es überlesen?

    Die kennen sich aus Lorrys Zeit in Paris, als er als junger Bankangestellter viele Jahre dort arbeitete. Ich gehe davon aus, dass Manette sein Konto bei Tellson's führte, sonst fehlt nämlich die Verbindung. Lucie brachte er nach London als ihre Mutter ebenfalls verstarb. Ich kann nur vermuten, dass durch das Geld ihrer Eltern und evtl. eine Verfügung die Bank diese Verantwortung übernahm, aber ich kann mich nicht erinnern, dass das detailliert ausgeführt wurde. Wie so vieles nicht....

    Bei Mark Twain war das ebenso. Seine späten Werke wurden als "die dunklen Schriften" bezeichnet.

    Ein Autor, den ich auch noch für mich entdecken möchte :D


    und könnte so, ganz entgegen seiner Darstellung in London, Freunde gewinnen und vielleicht darüber hinaus auch ein eigenes Familienleben gründen. Weil er dazu die Fähigkeiten hat, wie man am Ende deutlich vor Augen geführt bekommt.

    Weiß nicht, ob ihr versteht, was ich meine, (derzeit kann ich anscheinend nicht immer rüberbringen, worum's mir geht)?

    Ich verstehe, was Du meinst, aber ich empfinde es nicht so. In der direkten Konfrontation mit dem Tod, der Hinrichtung, dem fürchterlichen Weg dorthin kann Carton sich so zeigen, aber ich glaube nicht, dass er es ohne dieses Ende vor Augen getan hätte. Dazu ist der Charakter nicht angelegt worden - jedenfalls nach meinem Empfinden nicht :-k

    Es stellt sich also die Frage: Warum ist für Dickens' Figur Carton die beste Wahl, um glücklich zu werden, zu sterben, mit der Aussicht, über Generationen hinweg seinen Namen mit Verehrung und Dankbarkeit verbunden zu sehen? Liegt es daran, dass er eh sterben muss, oder ist sein eigenes Glück ihm dermaßen sehr viel weniger wert als das von Lucie ohne ihn, oder sieht er keine Hoffnung mehr, weil er an Depressionen leidet und ihm niemand hilft oder hat er große Schuld auf seinen Namen geladen, der nur auf diese Weise wieder reingewaschen werden kann?

    Oder ist Carton einfach die Parallelfigur zu der reinen, moralisch einwandfreien, Lucie.

    Das wäre eine Möglichkeit, aber ich weiß es einfach noch immer nicht - kann mich nicht entscheiden, wie ich das interpretiere ?(

    habe ich nun schon seit fast 10 Tagen das Buch beendet.

    :totlach: und ich dachte, Du seist heimlich ausgestiegen :totlach:

    Aber im Kern webt er eine Geschichte wie ein antikes Drama, bei dem es gar nicht so sehr um die psychologischen Motive geht, sondern nur um Handlung und Themen: Rache, Aufopferung, Schuld, Sühne, Krieg, Tod. Vielleicht ist diese Dopplung (psychologische Motive vs. Lebensthemen) sogar wieder bewusst konstruiert.

    Und vielleicht hat er sich in diesen Themen verloren? Was haltet Ihr davon:

    Dickens wollte einen großen Roman, DEN Roman über die Französische Revolution und durchaus gegebene Parallelen zwischen London und Paris, zwischen England und Frankreich, herausarbeiten. Vielleicht mit dem Gedanken, dass England einfach Glück hatte, dass es nicht zu ähnlichen Aufständen gekommen ist. Sein Ziel des großen historischen Romans um Schuld und Sühne, Sünden der Väter, Rache und Vergeltung im Auge verzettelt er sich - er legt die Gewichtung stark auf die Revolution mit allem Drumherum sowie auf die Umstände, die zu ihre führten, was ihm hervorragend gelang (ich denke noch immer an die entsprechenden Kapitel). Aber mit dem Fokus auf dieses große Thema hat er seine Charaktere und deren Plot aus den Augen verloren, sich verzettelt. Vieles muss er ja von Anfang an geplant haben (ich denke an Jerry und seine Rolle in Paris), aber könnte das ansonsten der Grund sein, warum er in diesem Roman seine Charaktere so blass und farblos stehen lässt?


    Ihr seht, mein Kopf kreist einfach immer genau um diesen Punkt :ergeben:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Ich verstehe, was Du meinst, aber ich empfinde es nicht so. In der direkten Konfrontation mit dem Tod, der Hinrichtung, dem fürchterlichen Weg dorthin kann Carton sich so zeigen, aber ich glaube nicht, dass er es ohne dieses Ende vor Augen getan hätte. Dazu ist der Charakter nicht angelegt worden - jedenfalls nach meinem Empfinden nicht :-k

    Hm, ja, okay, wenn man es als über sich selbst hinauswachsen im Angesicht des Todes interpretiert ... ja, das würde schon passen. Weil er ja auch das Trinken dann aufhört (erst dann), wahrscheinlich ist das tatsächlich das Maximum, was der Figur Carton möglich ist.

  • Oh je, es ist schon wieder passiert :pale:

    Ich kam unter der Woche nicht richtig zum Lesen und hatte dann jeweils versucht an den Wochenenden aufzuholen, bin aber nur nochmehr ins Hintertreffen geraten :( Ich hätte sonst nur Abends im Bett Zeit etwas zu lesen, aber dafür ist mir das Buch doch eine zu große Herausforderung. Und dann wollte ich auch erst wieder schreiben, wenn ich den Anschluss wieder habe, weil ich erst noch davon ausgegangen bin, dass ich das schon noch schaffe (Selbstüberschätzung lässt grüßen :loool: ).


    Ich bleibe zwar weiterhin dran, werde mich hier aber ausklinken müssen. Ich lese dann nachtäglich still mit. Wenn der Thread dann also in etwa zwei Monaten nochmal bei euch aufpopt habe ich es dann auch durchgeschafft :totlach:

    2017: 49/87; 2016: 43/92; 2015: 33/84; 2014: 36/56; 2013: 52/37; 2012: 52/39

  • Oh je, es ist schon wieder passiert :pale:

    Ich hab Dich schon vermisst und mir sowas ähnliches gedacht :friends:

    Ich bleibe zwar weiterhin dran, werde mich hier aber ausklinken müssen. Ich lese dann nachtäglich still mit. Wenn der Thread dann also in etwa zwei Monaten nochmal bei euch aufpopt habe ich es dann auch durchgeschafft :totlach:

    Du kannst ja gerne immer mal wieder hier schreiben, ich schreib Dir auch zurück :)

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Dickens wollte einen großen Roman, DEN Roman über die Französische Revolution und durchaus gegebene Parallelen zwischen London und Paris, zwischen England und Frankreich, herausarbeiten. Vielleicht mit dem Gedanken, dass England einfach Glück hatte, dass es nicht zu ähnlichen Aufständen gekommen ist. Sein Ziel des großen historischen Romans um Schuld und Sühne, Sünden der Väter, Rache und Vergeltung im Auge verzettelt er sich - er legt die Gewichtung stark auf die Revolution mit allem Drumherum sowie auf die Umstände, die zu ihre führten, was ihm hervorragend gelang (ich denke noch immer an die entsprechenden Kapitel). Aber mit dem Fokus auf dieses große Thema hat er seine Charaktere und deren Plot aus den Augen verloren, sich verzettelt. Vieles muss er ja von Anfang an geplant haben (ich denke an Jerry und seine Rolle in Paris), aber könnte das ansonsten der Grund sein, warum er in diesem Roman seine Charaktere so blass und farblos stehen lässt?

    Da kann ich super mitgehen. Zu viel gewollt. Vielleicht noch unter Zeitdruck geraten. Gab es damals eigentlich schon ein Lektorat? Vielleicht sind ihm ja sogar Dinge gestrichen worden (nach dem Motto: alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig:wink:).

    Zu Carton: Bei ihm hatte ich immer das Gefühl, da fehlt uns noch ein Puzzle-Stück. Aber je mehr ich darüber nachdenke, wurde zu ihm ja auch einiges erzählt durch Stryver:er habe gute Anlagen gehabt, aber er zeigte eben in seiner Laufbahn nicht genügend Ellbogen und Profiliersucht, um wirklich erfolgreich zu sein. So stand er immer im Schatten des anderen (Idioten:-#), was ihn zum Trinker gemacht hat. Die Gesellschaft hat ihn runtergewirtschaftet, er durch die existenziellen Fragen und durch seine Aufopferung für andere wird er wieder zu einem integeren Menschen.

    Warum er allerdings so eine große Ähnlichkeit mit Darney hat, bleibt rätselhaft, eine Laune der Natur. Interessant ist ja auch, dass der eine Doppelgägnger, Carton, sein Schicksal letztendlich wählen kann, während Darney viele gute Absichten hat aber am Ende nur Spielball bleibt. Natürlich ist Freiheit ein Thema bei diesem Buch, auch die Frage nach dem freien Willen und wann und unter welchen Bedingungen der Mensch frei handeln kann.

    :study: Junge mit schwarzem Hahn- Stefanie vor Schulte


    No two persons ever read the same book (Edmund Wilson)

  • Aus einem Farast-Leseschneckchen wurde eine Turboleseschnecke. Ich habe das Buch am Wochenende beendet.

    Ging mir auch so, Sonntag Abend war ich durch. Aber man konnte auch kaum noch aufhören in den letzten Kapiteln.:lechz:


    "Ich habe zwar überhaupt keine Gelegenheit zum Schreiben und noch weniger Material, deswegen male ich die Buchstaben in meinem ureigensten Blute, aber ich erkläre erst mal lang und breit, wie ich diesen Brief schreibe, bevor ich zum verdammten Punkt komme." So viel zum Realismus.

    :totlach: Jetzt wo du es nochmal herausgestellt hast, muss ich dir zustimmen, dass es nicht so ganz logisch ist. Aber wie schon geschrieben, muss man die Leser ja bei Laune halten.


    Carton tröstet derweil eine kleine Näherin, die ebenfalls ihr Todesurteil erwartet. So ganz habe ich den Auftritt dieser Figur nicht verstanden. Vielleicht sollte sie noch einmal darauf aufmerksam machen, was für ein gutherziger Mensch Carton doch ist?

    Wie von anderen schon erwähnt, denke ich, dass sie sich im Angesichts des Todes gegenseitig unterstützt haben. Aber ich habe in ihr noch eine weitere Funktion gesehen - nämlich den mörderischen Irrsinn, in den sich die französische Revolution verwandelt hat, zu verdeutlichen. Dass dieser nicht mehr nur den Adeligen und früheren Unterdrückern gilt, sondern auch arme kleine unschuldige Menschen aus dem Volk traf. Ich habe damit auch die Figur des Jaques 3 verbunden, dem egal ist, wer unter der Guillotine landet (Dr. Manette, Lucie und ihr Kind) - Hauptsache es kommen "jeden Tag zehn Dutzend" zusammen.


    Das Aufeinandertreffen von Mme Defarge und Miss Pross fand ich interessant. Die Beiden stehen sich gegenüber wie der die beiden Erzengel Luzifer und Michael, wie das personifizierte Gute und Böse, und getreu ihrem Vorbild unterliegt Luzifer.

    Das Duell der beiden fand ich herrlich :twisted:. Schon der Wechsel der Szenen, als Miss Proß noch relativ kopflos durch die Räume rennt, während Mme. Defarge wie ein eiskalter Racheengel unbeirrt durch die Straßen zieht. Sehr gut fand ich Dickens´zusammenfassende Charakterisierung von ihr im 14. Kapitel. Und faszinierend das Aufeinandertreffen der beiden starken Charaktere - obwohl sich beide in ihrer jeweils eigenen Sprache beschimpfen :loool:, versteht jede ganz genau, aus welchem Holz die jeweils andere gestrickt ist.

    Diese Vision von Carton fand ich richtig gut! Statt eines Kapitels in x Jahren später einfach Carton sich alles Zukünftige ausmalen lassen - elegant gelöst.

    Die Schlussszene mit dem Blick in die Zukunft hat mir auch sehr gut gefallen. Zum einen der zuversichtliche Ausblick und dann natürlich der tiefe Frieden, den Carton empfand - wahrscheinlich das erste Mal seit vielen, vielen Jahren.

    Wenn Carton sich in England wie das letzte Trampeltier benommen hatte, hier ist er in Höchstform aufgelaufen. Und wie ich finde glaubhaft umgesetzt.

    Stimmt und zwar von Anfang bis zum Ende. Seine Figur hat sehr viel dazugewonnen und mir eigentlich fast noch am besten gefallen, obwohl auch ich mir gewünscht hätte, viel mehr über ihn zu erfahren, um zu verstehen, wieso er zu dem hoffnungslosen Trinker geworden ist, der er war. :scratch:

    Was haltet Ihr davon:

    Dickens wollte einen großen Roman, DEN Roman über die Französische Revolution und durchaus gegebene Parallelen zwischen London und Paris, zwischen England und Frankreich, herausarbeiten. Vielleicht mit dem Gedanken, dass England einfach Glück hatte, dass es nicht zu ähnlichen Aufständen gekommen ist. Sein Ziel des großen historischen Romans um Schuld und Sühne, Sünden der Väter, Rache und Vergeltung im Auge verzettelt er sich - er legt die Gewichtung stark auf die Revolution mit allem Drumherum sowie auf die Umstände, die zu ihre führten, was ihm hervorragend gelang (ich denke noch immer an die entsprechenden Kapitel). Aber mit dem Fokus auf dieses große Thema hat er seine Charaktere und deren Plot aus den Augen verloren, sich verzettelt. Vieles muss er ja von Anfang an geplant haben (ich denke an Jerry und seine Rolle in Paris), aber könnte das ansonsten der Grund sein, warum er in diesem Roman seine Charaktere so blass und farblos stehen lässt?

    Klingt für mich sehr stimmig. :thumleft: Die Kapitel mit dem Elend des Volkes (in beiden Ländern) und die Revolution in Frankreich hat er sehr anschaulich beschrieben und ganz hervorragend gemeistert. :pray: Bis auf Mme Defarge fehlten eigentlich fast allen Figuren die Tiefe, so dass deren Handlungen teilweise nicht so recht nachvollziehbar waren.

    Aber: bei aller "Nörgelei" von mir kann ich mich nur wieder von seiner Schreibkunst verneigen :pray: Dickens hat mich durch die zweite Hälfte des Buches gesogen, anders kann ich es nicht ausdrücken. Wenn ich dran denke, wie schwierig dieses Mal der Einstieg war und dann vergleiche, wie ich jetzt durch die Seiten geflogen bin, dann ist das nur grandios. Ob es diese Wucht der Revolution war, überragend durch die Macht des Ozeans dargestellt, oder die beängstigende Atmosphäre in dieser rechtlosen Stadt, die Paris nun ist, oder die Tribunale in ihrer Willkürlichkeit. Das war genial geschrieben und teils zum Fürchten reell. Wenn ich nur an Jacques Drei denke, wie er fast sabbernd, ständig an den Fingern lutschend, als Jury ein Todesurteil nach dem anderen raushaut. Oder die schwankende Masse - den einen Tag tragen sie Darnay auf Schultern aus dem Tribunal um ihm am nächsten Tag geifernd am liebsten selbst auf die Guillotine zu legen :pale:

    Da kann ich dir nur zustimmen. Auch ich hatte am Anfang so meine Probleme, reinzukommen, aber die Geschichte entwickelte ihren eigenen Sog und vor allem die Geschehnisse in Frankreich waren unheimlich spannend. Damit ist "Brüder" von Hillary Mantel näher in meinen Lesefokus gerückt. :study: Dickens´sprachliche Bilder haben konnten mich auch wieder sehr begeistern, deswegen habe ich mir nun auch "Bleak House" runtergeladen :lol: und werde es sicherlich mit Begleitung eurer damaligen MLR lesen. :idea:

    Liebe Grüße,
    Tine


    :study: Ken Follett - Die Waffen des Lichts

    :study: Taylor Jenkins Reid - Daisy Jones & The Six

  • Frawina Ich habe die Biographie von Dickens hervorgeholt und musste doch dann mal nachschauen ob und was Gelfert (der Autor) über dieses Buch schreibt und ob er dabei auch Carton erwähnt. Auf die Schnelle habe ich folgendes gefunden, was er darüber schreibt:


    Zitat von Hans -Dieter Gelfert - Charles Dickens der Unnachahmliche S. 246

    Charles Darnay, der anfangs als der moralisch Starke auftritt, gerät in eine Situation äußerster Ohnmacht, während Sidney Carton, der als psychischer Schwächling beginnt, zuletzt das moralisch machtvolle Selbstopfer vollbringt. In ihm sahen die Viktorianer einen der edelsten Helden der gesamten Romanliteratur.

    Da waren wir doch gar nicht soweit weg von unseren Überlegungen. Und das Ganze hat recht viel mit Dickens Leben selbst zu tun. Sehe ich gerade beim blättern.


    Ich zitiere:

    Zitat von Seite 232

    Selten äußerte sich der zweite Frühling eines verliebten Mittvierzigers so direkt als Rückfall in pubertärer Gefühle wie hier. (Bezieht sich auf einen Brief, der vorangestellt wurde.) Das Motiv des Selbstopfers für eine unerreichbare Geliebte wird schon in Dickens´nächstem Roman im Zentrum stehen.

    Ich kann da gar jetzt nicht alles abtippen, was ich da alles finde. Fühle mich gerade wie ein Kind im Bonbonladen. :lol: Auch noch gerade interessant, Dickens Lieblingsbuch war History of the French Revolution. Das war für ihn einer der Gründe warum er sich für diesen Stoff entschieden hatte. Und er musste sich ganz schön an das straffe Korsett der wöchentlichen Fortsetzungen halten. Wie schon mal hier erwähnt wurde, gefiel dem Publikum diese Story erst mal nicht so, weil sie so ganz anders wie gewohnt war und die humorvollen Stellen fehlten.


    Hier noch eine für mich interessante Erwähnung, :

    Zitat von Seite 246

    Die zwischen Symbolik und Allegorie schwankende Bildersprache gibt diesem Roman etwas Gekünsteltes. Umso erstaunlicher ist, dass er trotzdem lange Zeit Dicken´s meistgelesener war. Die nächstliegende Erklärung dafür ist, dass er sowohl die Erwartungen der sensationshungrigen Leser der unteren Mittelschicht als auch das Verlangen nach Ernsthaftigkeit und ethischen Werten auf Seiten der Gebildeten befriedigte. Kaum ein anderes Motiv hat im viktorianischen Publikum mehr moralische Befriedigung ausgelöst als das Selbstopfer. Die Literatur der Epoche ist voll von Menschen, die zugunsten eines anderen auf einen geliebten Menschen verzichten und im äußersten Fall sogar für ihn ihr Leben opfern.

    Jetzt mache ich mal Schluss, bevor ich noch das ganze Buch abtippe :uups: Squirrel und taliesin Was steht in euren Anmerkungen bzw. Vorworte darüber drin? Deckt sich das mit dem was ich bei der Biographie gefunden habe? Ich war überrascht zu lesen, dass der Roman dann doch sein Publikum gefunden hatte.


    Dickens wollte einen großen Roman, DEN Roman über die Französische Revolution und durchaus gegebene Parallelen zwischen London und Paris, zwischen England und Frankreich, herausarbeiten.

    Ganz ehrlich, mittlerweile bin ich mir da einfach nicht mehr sicher, was da wirklich seine Intention war. Mit kam es so vor, als wenn er nach einem guten Plot gesucht hatte und sich für die französische Revolution entschieden hatte, weil sie ihm eine gute Grundlage für dieses Motiv der Selbstopferung bot. Aber wer weiß, was er sich da noch so alles gedacht hatte. So ein netter kleiner Seitenhieb zusätzlich, wäre ja nicht ganz abwegig.


    wenn der Thread dann also in etwa zwei Monaten nochmal bei euch aufpopt habe ich es dann auch durchgeschafft :totlach:

    Keine Angst, du wirst dann garantiert keine Selbstgespräche führen. :ergeben:


    Dickens´sprachliche Bilder haben konnten mich auch wieder sehr begeistern, deswegen habe ich mir nun auch "Bleak House" runtergeladen

    Einer meiner ganz besonderen Bücher von Dickens :drunken:

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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  • und die humorvollen Stellen fehlten.

    --- und das scheint mir das zu sein, was Dickens besonders gut kann: Ironisches und auch Sarkastisches, Slapstickartiges bisschen wie in einem Shakespeare-Stück und ähnliches. Die Lust seines Lesers am Humor, v. a. am makabren Humor bedient er aber durchaus gleich zu Beginn, wenn ich an das Leichenbegängnis (das vermeintliche!) und die Figur des Mr. Cruncher denke.


    Mir war der Humor manchmal zuviel - wir sprachen schon drüber: bei der Darstellung von Gewalt im Familienkreis oder auch, was die Überschriften anging.

    Da heißt z. B. die Überschrift in Buch III Kapitel  "Ausgestrickt" - es geht um den Mord an Mme Defarge. Da muss man zwar zunächst lachen, aber das Lachen blieb mir dann in der Kehle stecken. Diese saloppe Art, über ein Menschenleben hinwegzugehen - das erinnerte mich sehr an den Holzhauer mit seinem Ritsche-Ratsche, der ja wiederum nur ein kleines Abbild des Zeitgeistes ist. Ein Samson und eine Guillotine en miniature.


    Dickens hat daher vermutlich den Mord zu einem Totschlag umstilisiert: schließlich ist es Mme Defarge selber, die sich aus Versehen erschießt.

    Hier nimmt er Büchners Zitat "Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder" vorweg.

    Ein zweiter Grund ist sicherlich der, die Unschuld der tapferen Miss Pross zu wahren.


    Farast , dein Zitat "Kaum ein anderes Motiv hat im viktorianischen Publikum mehr moralische Befriedigung ausgelöst als das Selbstopfer."

    finde ich auch interessant. Dickens bedient also eine literarische Mode und eine Erwartung seines Publikums. Steht in Deinem Buch etwas über den Grund dieser Mode drin? Vermehrte Religiosität, warum auch immer? Ich darf Euch wieder mit der Bibel kommen: "Niemand hat größere Liebe als der, der sein Leben für seine Freunde lässt." (sinngemäß).

    Muss aber nicht Religiosität sein, wir haben das Motiv in der deutschen Klassik schließlich auch ohne Frömmigkeit :-k.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Gab es damals eigentlich schon ein Lektorat? Vielleicht sind ihm ja sogar Dinge gestrichen worden (nach dem Motto: alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig :wink: ).

    Da Dickens für seine eigene Zeitung schrieb, glaube ich nicht an ein Lektorat. Ich glaube auch nicht, dass es sowas in der Form, wie wir sie kennen, damals schon gab. Aber ich hab keine Belege dafür.

    er habe gute Anlagen gehabt, aber er zeigte eben in seiner Laufbahn nicht genügend Ellbogen und Profiliersucht, um wirklich erfolgreich zu sein. So stand er immer im Schatten des anderen (Idioten :-# ), was ihn zum Trinker gemacht hat. Die Gesellschaft hat ihn runtergewirtschaftet, er durch die existenziellen Fragen und durch seine Aufopferung für andere wird er wieder zu einem integeren Menschen.

    Das sind aber alles sehr vage Aussagen, noch dazu aus unsicherer Quelle. Und nichts davon erklärt Cartons Verhalten wirklich. Das bleibt im Nebel verborgen..

    Aber ich habe in ihr noch eine weitere Funktion gesehen - nämlich den mörderischen Irrsinn, in den sich die französische Revolution verwandelt hat, zu verdeutlichen. Dass dieser nicht mehr nur den Adeligen und früheren Unterdrückern gilt, sondern auch arme kleine unschuldige Menschen aus dem Volk traf. Ich habe damit auch die Figur des Jaques 3 verbunden, dem egal ist, wer unter der Guillotine landet (Dr. Manette, Lucie und ihr Kind) - Hauptsache es kommen "jeden Tag zehn Dutzend" zusammen.

    Das passt gut. Dieser Irrsinn kommt ja auch in der zweiten Verhandlung gut zu Tage als Manette zurechtgewiesen wird mit der (sinngemäßen) Aussage: Und wenn die Revolution von Dir dein Kind fordert, so wirst Du es freudig geben, denn nur die Revolution alleine zählt". Die Menschen konnten ja sogar für ihre Trauer um einen geliebten Menschen zum Tode verurteilt werden. ](*,)

    Jacques Drei fand ich zunehmend gruselig, wie er sabbernd an seinen Fingern rumknabberte und Menschen auf die Guillotine schickte. :pale:

    Das Duell der beiden fand ich herrlich :twisted: . Schon der Wechsel der Szenen, als Miss Proß noch relativ kopflos durch die Räume rennt, während Mme. Defarge wie ein eiskalter Racheengel unbeirrt durch die Straßen zieht. Sehr gut fand ich Dickens´zusammenfassende Charakterisierung von ihr im 14. Kapitel. Und faszinierend das Aufeinandertreffen der beiden starken Charaktere - obwohl sich beide in ihrer jeweils eigenen Sprache beschimpfen :loool: , versteht jede ganz genau, aus welchem Holz die jeweils andere gestrickt ist.

    Da hat Dickens zwei herrlich konträre Figuren aufeinanderprallen lassen - und es in gekonnter Manier zum Leben erweckt. Bestimmt hatte jeder von uns sein Bild dieser Szene lebhaft im Kopf - wie diese beiden sich gegenüber stehen und belauern, genau wissend was in der anderen vorgeht.

    Die Kapitel mit dem Elend des Volkes (in beiden Ländern) und die Revolution in Frankreich hat er sehr anschaulich beschrieben und ganz hervorragend gemeistert.

    Das waren die Stellen, die mich am meisten begeistert haben - besonders diese wuchtige und zutiefst stimmungsvolle Beschreibung des Sturms auf die Bastille. In diesem Buch waren all diese Stellen, in denen es um die großen Aktionen, aber eben auch um die Stimmungen in den Bevölkerungen, den Städten ging, für mich die herausragenden. Das begann schon am Anfang mit der Kutschszene auf dem Weg nach Dover. Immer wenn es konkret um die einzelnen Menschen ging, wurde es blasser. :-k

    Damit ist "Brüder" von Hillary Mantel näher in meinen Lesefokus gerückt.

    Gute Wahl - Hilary Mantel kann auch hervorragend schreiben.

    Ich kann da gar jetzt nicht alles abtippen, was ich da alles finde. Fühle mich gerade wie ein Kind im Bonbonladen.

    :totlach: Dein Zitat über Dickens zweiten Frühling ist ja nicht gerade schmeichelhaft. :-, Ich muss mir diese Biografie unbedingt besorgen!

    Auch noch gerade interessant, Dickens Lieblingsbuch war History of the French Revolution. Das war für ihn einer der Gründe warum er sich für diesen Stoff entschieden hatte.

    Das geht ja auch aus meinen Notes hervor. Dickens hat sich fast ausschließlich auf dieses Buch seines Freundes gestützt, dabei aber auch dessen Sichtweisen komplett übernommen und damit auch seine Fehleinschätzungen oder Auslassungen. Das wurde in den Notes schon unterstrichen, dass Dickens damit manchmal auch Fehleinschätzungen unterlaufen sind, die sich im Buch spiegeln. So hat er hauptsächlich den Hunger im Land für die Revolution verantwortlich gemacht, viele weitere Missstände und Ursachen aber nicht aufgegriffen.

    Was steht in euren Anmerkungen bzw. Vorworte darüber drin?

    Die muss ich noch komplett fertig lesen, das sind auch nochmal gut 50 Seiten :uups: Und grad die Einführung hab ich schnell abgebrochen weil ich mich damit massiv gespoilert hätte

    Einer meiner ganz besonderen Bücher von Dickens :drunken:

    Ja, mein Lieblingsbuch :love:

    Da heißt z. B. die Überschrift in Buch III Kapitel "Ausgestrickt" - es geht um den Mord an Mme Defarge. Da muss man zwar zunächst lachen, aber das Lachen blieb mir dann in der Kehle stecken. Diese saloppe Art, über ein Menschenleben hinwegzugehen

    Ich interpretiere den Titel etwas anders, wobei ja beides passen kann. Ich lese es so, dass Mme Defarge ihr Rachekomplott fertig gestrickt hat, indem sie zusammen mit La Vengeance und Jacques Drei - unter Ausschluss ihres Mannes - den Rest der Familie Manette / Darnay auslöschen will. Jetzt muss sie nicht mehr weiterstricken und kann die Nadeln zur Seite legen, ihre Rache wird vollendet (oder wäre es beinahe, aber das weiß der Leser ja am Beginn noch nicht).


    dein Zitat "Kaum ein anderes Motiv hat im viktorianischen Publikum mehr moralische Befriedigung ausgelöst als das Selbstopfer."

    finde ich auch interessant. Dickens bedient also eine literarische Mode und eine Erwartung seines Publikums. Steht in Deinem Buch etwas über den Grund dieser Mode drin? Vermehrte Religiosität, warum auch immer? Ich darf Euch wieder mit der Bibel kommen: "Niemand hat größere Liebe als der, der sein Leben für seine Freunde lässt." (sinngemäß).

    Puh, auch da muss ich erstmal schauen. Für mich vermittelt die Viktorianische Zeit immer das Bild von extremer Moralität im gesellschaftlichen Leben. Vor allem von Victoria und Albert wird es vorgelebt und die Gesellschaft nimmt es in Anbetung des königlichen Paares, das damals ja sehr geliebt und geachtet wurde, in ihre Lebensvorstellungen auf. Insofern passt dieses hochmoralische Bild des selbstlosen Opfers perfekt in diese Zeit. Religion ist dabei für mich nicht im Vordergrund. :-k

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • (warum auch immer :lol: ), aber mehr leider nicht. Ich gehe mal davon aus, dass Leser zu Dickens Zeiten damit vielleicht mehr anfangen konnten als wir und dass die Zusammenhänge über die Zeit für uns leider nicht mehr deutbar sind. :scratch:

    Du meinst die Nasenschilder? Warum die so heißen? Weil sie sich wie die Nase im menschlichen Gesicht von der Hauswand abheben. Ich weiß aber nicht, ob es die damals schon gegeben hat, welche Rolle die Zünfte (wie bei uns) dabei spielten - oder ob das ominöse Zeichen einfach auf die Hauswand geschrieben wurde.

    Ich vermute, dass das ein kleiner Scherz des Erzählers oder Autors ist - irgendein Zeichen, dass der Inhaber der Weinschänke ebenfalls ein (blutrünstiger) Jakobiner war.

    ich habe aber kein Problem damit, in dieser Hinsicht dumm zu sterben, danke für Dein Nachschauen!


    nsofern passt dieses hochmoralische Bild des selbstlosen Opfers perfekt in diese Zeit. Religion ist dabei für mich nicht im Vordergrund.

    Jedes Bild muss doch irgendwie legitimiert werden, und da muss oft genug Religion herhalten - dahinter stehen aber andere Interessen, wirtschaftliche, soziale und so fort. Und dieser (knallharte) Hintergrund hätte mich interessiert, aber auch hier bin ich bereit, dumm zu sterbenO:-)!

    Die Gesellschaft hat ihn runtergewirtschaftet, er durch die existenziellen Fragen und durch seine Aufopferung für andere wird er wieder zu einem integeren Menschen.

    … oder ist nicht gerade dieser Zug, die Opferbereitschaft, die ihn im viktorianischen England (Industrialisierung!) von vorneherein scheitern lässt? Da sind Menschentypen wie Stryver mit seinem Ehrgeiz, seiner Anpassungsfähigkeit und seinem Konservativismus offenbar erfolgreicher, wenn auch nicht moralischer. Ich meine: war er nicht schon immer integrer und gerade deswegen nicht so erfolgreich?

    Egal wie man das sieht: es gibt hier viele Facetten.


    Achtung Kugsch....erei: Psychologisch gesehen haben wir hier sogar ein präsuizidales Syndrom.

    Herrje, ärgere mich nicht... Wieso muss man sich als Klugsch…. bezeichnen und sich damit mindern, wenn man, aus welchen Gründen auch immer, etwas besser weiß oder mehr weiß... Also ich für mein Teil lasse mich sehr gerne belehren und deshalb interessiert mich das jetzt, wie Du das siehst, welche Anzeichen das bei Carton sind.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Steht in Deinem Buch etwas über den Grund dieser Mode drin? Vermehrte Religiosität, warum auch immer?

    In dem Kapitel "Dicken´s England" hätte ich jetzt nichts direktes darüber gefunden. Insgesamt wäre die englische Kirche des 19. Jahrhunderts von Toleranz geprägt. Und der übliche Hick-Hack Konservatismus vs zunehmende Laxheit im Religiösen. Aber nichts warum gerade das Thema Selbstopferung so beliebt war.


    Jedes Bild muss doch irgendwie legitimiert werden, und da muss oft genug Religion herhalten - dahinter stehen aber andere Interessen, wirtschaftliche, soziale und so fort. Und dieser (knallharte) Hintergrund hätte mich interessiert, aber auch hier bin ich bereit, dumm zu sterben



    Da darf ich mit dir dumm sterben. :wink: Es sei denn, wir finden noch was darüber. 8) Das Buch selbst habe ich ja noch nicht gelesen. So schnell werde ich es vermutlich auch nicht. Die Werke von Dickens werden doch recht ausführlich behandelt und ich wollte mir die Inhalte von den Büchern, die mich noch interessieren, doch schon selbst erlesen :lol: Deshalb überfliege ich ziemlich die Kapitel, verbunden mit dem Risiko was zu überlesen.


    Ich muss mir diese Biografie unbedingt besorgen!

    Freut mich, dass sie dich auch anspricht :) Zur Zeit ist sie noch erhältlich und vom Verlagspreis her günstiger. Die Biografie war vorher deutlich teurer gewesen.



    Also ich für mein Teil lasse mich sehr gerne belehren und deshalb interessiert mich das jetzt, wie Du das siehst, welche Anzeichen das bei Carton sind.

    Da schließe ich mich an!



    Noch ein paar Zitate aus der Biografie/Kapitel von "Dicken´s England":


    Zitat von Seite 26

    Dickens war der Konservatismus der Hochkirche ebenso zuwider wie der religiöse Eifer der Evangelikalen. Besonders wütend machte ihn die sabbatarianism bezeichnete Kampagne, die eine strikte Einhaltung der Sonntagsruhe forderte. Auch wenn die radikalste Forderung nach völligem Stillstand des öffentlichen Lebens einschließlich der Verkehrsmittel nicht durchkam, wurde damals durch eine Reihe von gesetzlichen Einschränkungen der Grund für die sprichwörtliche Langeweile der englischen Sonntage gelegt, die bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts anhielt.


    Noch etwas zum Frauenbild. Da musste ich doch direkt an Lucie denken O:-)


    Zitat von Seite 22

    In einem Punkt scheinen die Engländer anders empfunden zu haben als ihre Zeitgenossen auf dem Kontinent. Während dort der Typus der femme fatale auffallend zahlreich auftrat, spielte er in der englischen Literatur eine geringere Rolle. Das Frauenbild der Viktorianer war das des "Engels im Haus" den Coventry Patmore ab 1854 in einer so betitelten mehrteiligen Gedichtsequenz besang. Das viktorianische England war von einer tiefen Sehnsucht nach Unschuld geprägt, im sexuellen wie im moralischen Sinne. Diese Sehnsucht drückt sich in der sentimentalen Darstellung von Kindern ebenso aus wie in der Rückwendung zu idealisierten Formen von Männlichkeit, wie sie König Artus verkörperte, in dem man das mythologische Urbild der eigenen Gentleman-Kultur sah.



    Mir war auch gar nicht so bewusst gewesen, dass Dickens ein Großverdiener in seinem Geschäft war.

    Zitat von Seite 20

    Dickens und Thackeray hatten Jahreseinkünfte von 5000 bis 10 000 Pfund. Das war das Hundert- bis Zweihundertfache des Einkommens eines Industriearbeiters.


    Ich finde es richtig interessant, was man da so alles ausgrabt, wenn man sich das Zeitalter näher betrachtet, in dem ein Autor gelebt hatte. Da bekomme ich noch mal ganz neue Blickwinkel auf das Werk.

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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