Charles Dickens - Eine Geschichte aus zwei Städten / A Tale of Two Cities (Start: 1. Februar 2019)

  • Buch 2, bis einschließlich Kap. 13

    Das zwölfte Kapitel (Der Mann aus Zartgefühl) hatte mich köstlichst amüsiert. Herrlich! Das hätte ich Mr. Lorry so nicht zugetraut.

    Ja, das war wunderbar kompliziert und extrem höflich ausgedrückt, abgesehen von Adern und Gesichtsfarbe. :lol:

    So sympathisch mir Carton bisher war, für so weinerliche Typen ohne Selbstbewusstsein fehlt mir etwas die Geduld. Sorry. 8-[ Immerhin kaufe ich es ihm ab, dass seine Gefühle echt sind. Er scheint eine Art von Vergebung für seine Verfehlungen zu suchen, aber statt wenigstens den Versuch zu unternehmen, sich zu ändern, lässt er lieber die "Sie sind viel zu gut für mich" Leier vom Stapel... Naja.

    Mir kam da spontan der Gedanke einer unheilbaren Krankheit, sowas wie Siphyllis beispielsweise. Das ist ja was, wo man sich selbst und Anderen schon leidtun kann, wo es immer schlimmer wird und wo man sich in gewisser Weise ja auch noch als selbst schuld betrachten kann.

    Cartons Verhalten ist wirklich dubios und ohne Begründung. Aber das war auch ein Grund, warum ich so auf das Motto "die Sünden der Väter" kam, denn auch bei ihm vermuten wir wohl alle ein familiäres Problem als Erklärung für sein Verhalten.

    Wie geht's euch denn mit diesen ganzen äußeren Ähnlichkeiten?

    Carton sieht offensichtlich Darnay ziemlich ähnlich. Letzterer hat(te) einen Onkel mit einem Zwillingsbruder (seinem Vater) und Doktor Manette reagiert bisweilen etwas verstört und misstrauisch auf Darnay. Dass da eine Ähnlichkeit vorhanden sein muss, wirkt irgendwie offensichtlich.

    Aber könnte es da vielleicht noch weitere verwandtschaftliche Zusammenhänge geben?


    Irgendwo hat Stryver übrigens auch noch gesagt, dass er in unabhängigeren Verhältnissen als Carton lebe (und sich trotzdem bemühe, angenehm zu sein). Vielleicht ist das auch ein Hinweis auf irgendwelche Verstrickungen von Carton.

  • Aber könnte es da vielleicht noch weitere verwandtschaftliche Zusammenhänge geben?

    Ich denke schon, dass sich da noch weitere verwandtschaftliche Verhältnisse und Verwicklungen auftun. Alles deutet darauf hin.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Haruki Murakami - Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

    :study: Joseph Roth - Hiob (MLR)

  • zu Kapitel 14

    Im vierzehnten Kapitel bietet uns Dickens die Beschreibung eines kleinen Volksaufstandes, der in seiner Entstehung schon so

    lächerlich erscheint, das er nur zu einer Farce ausarten kann. Aber der sogenannte "Pöbelhaufen" steigert sich so schnell in seiner

    Aggressivität, dass auch unschuldige Passanten plötzlich als >Spione< erkannt werden und Schaden nehmen. Der Funke der das

    Pulverfass entzündet ist der Begräbniszug eines verurteilten Spions und unser Mr. Cruncher, immer interessiert an Leichen, gesellt

    sich dazu.

    So langsam ahnen wir dann auch, nach was Mr. Cruncher nachts zu fischen pflegt. Sollte seine nächtlichen Ausflüge schiefgehen, hat

    dieser feine Herr die bequeme Möglichkeit seiner Frau, die ja gegen ihn betet, die Schuld zu geben. Was für ein abscheulicher Kerl.


    Auf der Suche nach einem männlichen Sympathieträger muss man sich in diesem Roman ganz schön anstrengen.........:wink:

    ich halt mich mal an Mr. Lorry fest.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Haruki Murakami - Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

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  • Mir kam da spontan der Gedanke einer unheilbaren Krankheit, sowas wie Siphyllis beispielsweise. Das ist ja was, wo man sich selbst und Anderen schon leidtun kann, wo es immer schlimmer wird und wo man sich in gewisser Weise ja auch noch als selbst schuld betrachten kann.

    Daran hatte ich gar nicht gedacht. Das könnte natürlich sein, wenn man Cartons Lebenswandel in Betracht zieht.


    Ich denke übrigens auch, dass sich da noch weitere Verwandtschaftsverhältnisse auftun werden.

    "Selber lesen macht kluch."


    If you're going to say what you want to say, you're going to hear what you don't want to hear.
    Roberto Bolaño

  • Buch II Zu Kapitel 13

    Mir geht es wie Euch auch: Mr. Carton verhält sich merkwürdig.


    Mr. Carton ist in den Kapiteln vorher ein eher geduldiger und auch wortkarger Mensch, der das anmaßende Verhalten seines Freundes (?) Stryver mit einer gewissen Nonchalance erträgt.

    Hier in diesem Kapitel wird er uns aber als überaus eloquenter, larmoyanter Mensch vorgeführt. Das passt einfach nicht zusammen.

    Ich vermute, dass der Erzähler dem Bedürfnis seiner Leser nach Sentimentalität entgegenkommen wollte.


    Ich lese - wie gesagt - ja Elizabeth Gaskell "Norden und Süden" parallel, und da finden sich seitenlange sentimentale Ergüsse: da werden innere Gestimmtheiten hin- und hergewälzt, gegeneinander abgewogen, verworfen, wieder aufgegriffen, wieder in Frage gestellt - das kann für einen heutigen Leser durchaus nervig sein, ist aber der Geschmack der Zeit.


    Egal, wie es ist: er sagt, dass "von einem Besserwerden … keine Rede mehr" ist, "aber schlechter wird's werden".

    Wieder ein Rätsel. Vielleicht liegt Frawina richtig mit ihrem Gedanken an Syphilis?


    Eine Andeutung allerdings scheint mir wichtig zu sein, und zwar ganz am Schluss. Er weist das Manettchen darauf hin, dass "es einen Menschen gibt, der bereitwillig sein Leben hingäbe, um ein Leben, das Sie liebt, an Ihrer Seite zu erhalten."

    Mr. Carton weiß also einiges über den schönen Mr. Darney, er sieht eine Gefahr für sein Leben und ist opferbereit.

    Warum fahren plötzlich alle Männer auf Lucie ab?

    :lol:

    Weil sie uns nicht kennen, warum sonst!?!

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Weil sie uns nicht kennen, warum sonst!?!

    Schön,:lol: aber ich denke alle fahren auf uns Lucie ab, weil Dickens hier ganz einfach ein extrem idealisiertes Frauenbild schafft. So etwas wie

    die Idealfrau der viktorianischen Zeit. Das Mädel ist so gut, dass es schon weh tut..........:roll:

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


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  • Buch II. Zu Kapitel 14

    die Beschreibung eines kleinen Volksaufstandes

    … und Mr. Cruncher, "der ehrliche Gewerbsmann" gerät "in Aufregung" und strengt "alle seine Sinne" an. Verstehe ich das richtig, dass er mit Leichen handelt? Sie als "wissenschaftliche Gegenstände" an anatomische Institute verkauft?

    Diesen Volksaufstand fand ich äußerst makaber - sogar ein Tanzbär ist dabei, Leichenschändung als Volksfest :shock:.


    Das Ganze zeigt aber die aufgeheizte Stimmung, die Volksseele kocht (sagt man so schön), und das wiederum zeigt, in welcher

    Gefahr Mr. Darney sich befand oder noch befindet.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Die Kapitelüberschriften

    gefallen mir, weil sie immer wieder zwei Kapitel zusammenbinden. und zugleich polarisieren!

    Kap 7 + 8: "Ein vornehmer Herr in der Stadt" und "Ein vornehmer Herr auf dem Lande"

    12 + 13: "Der Mann von Zartgefühl" und "Der Mann ohne Zartgefühl"

    15 + 16: "Strickzeug" und "Noch mehr Strickzeug"


    Buch II zu Kapitel 15

    Ich frage mich, wieso die Hinrichtung Gaspards in dieser Länge, dieser Genauigkeit geschildert wird.

    Wir haben vorher gelesen, wie Dickens bzw. der Erzähler die sensationslüsterne Masse kritisiert, die ihr Vergnügen bei Hinrichtungen sucht, und je grausamer, umso schöner.

    Und was macht der Erzähler hier?

    Ich finde, er bedient durch die Art seiner Schilderung genau dieses Bedürfnis seiner Leser, über das er sich vorher erhoben hat.

    Und das gefällt mir nicht:thumbdown:.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


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  • Das Mädel ist so gut, dass es schon weh tut

    Oh - das sind wir auch :lol:!

    Aber im Ernst: Du hast natürlich völlig recht.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Wieder ein Rätsel. Vielleicht liegt Frawina richtig mit ihrem Gedanken an Syphilis?

    Ich glaub es zwar eigentlich nicht, dass Carton an Syphilis leidet, aber es wäre insofern denkbar, da man damals die Syphilis als "die Franzosenkrankheit" bezeichnete :-,

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

    :study: Mike Dash - Tulpenwahn


  • Hallo :winken:

    Ich melde mich auch mal wieder, bis Kapitel 15 bin ich so langsam vor gedrungen. Wer nicht richtig schlafen kann, liest eben an seinen freien Tag in den Morgenstunden.

    Mich in Frankreich wiederzufinden hatte mich total überrascht. Wobei man ja als Leser wirklich damit rechnen musste. Mir ging es beim lesen wie euch allen. Was für ein fulminantes Kapitel! Was für eine Sprachkunst! Bitterböse, ironisch. Einfach klasse. Und gleichzeitig erschreckend was man alles gelesen hatte. Wie rücksichtslos mit der Bevölkerung umgegangen war. Dieser entsetzliche Hunger. Dieses Leiden.

    Überrascht nicht direkt, denn irgendwann musste es uns ja wieder nach Frankreich verschlagen :wink:
    Allerdings ziehe ich hier auch mal wieder ganz tief meinen Hut vor Herrn Dickens :pray: was für ein Kapitel ..... Gerade dieses Kapitel zeigt mir wie bisweilen es ist Dickens zu lesen ist. Irgendwie gehen mir Kapitel, wo schon vorgestellte Personen in die Handlung ein greifen besser von der Hand als solch wo ich mich auf neue Prota´s einrichten muss.

    Zum 11. Kapitel

    Dickens wird mir sympathischer: was hat er für eine spitze Zunge! Ich habe ein Faible für scharfzüngige

    Beschreibungen - und hier fällt er über Mr. Stryver her. Wie anmaßend er ist, wie er seinen Freund belehrt und wie er sich

    über ihn erhebt! Mr. Carton erträgt es mit Humor, er wird mir immer sympathischer.

    ................. diese Überheblichkeit fand ich zum :puker:Was denkt dieser *Bursche* wer er ist, seinen angeblichen Freund so runter zu machen.

    Zu Kapitel 12

    Oh - da hatte ich wieder meinen Spaß an den ironischen Formulierungen! Mr. Stryver muss einfach Mr. Lorry erzählen, "welch glänzender Horizont sich über Soho auftun solle" - herrlich. Leider verdunkelt sich der Horizont, Mr. Stryver bekommt einen Korb und verhält sich wie der Fuchs, dem die Trauben zu sauer sind.

    Aber wer austeilt muss auch einstecken können bzw. kommt ganz schnell auaf den Boden der Tatsachen zurück. Wie habe ich dieses kapitel geliebt.

    Irgendwie passt diese Szene nicht zu dem kaltschnäuzigen und gelangweilten Gehabe, das Carton bisher an den Tag legte. Ich empfinde das irgendwie als Bruch in der Figur. :scratch: Und nervig war es für mich auch, gerade weil es so unpassend ist. Außerdem ist es leicht, sich mit solchen Sprüchen aus allem rauszureden.

    Ich denke Herr Carton wird gewusst haben das sein Geschäftspartner/Freund in Ungnade fallen wird und wollte mit diesen Auftritt nur seinen A.............. vllt retten :-k

    Sobald wir lernen, uns selbst zu vertrauen, fangen wir an zu leben. ( Johann Wolfgang Goethe )


    Jede Begegnung , die unsere Seele berührt hinterlässt eine Spur die nie ganz verweht. ( Lore-Lillian Boden )

  • Die männlichen Hauptrollen werden mir alle unsympathischer.


    Mr. Stryver ist ein überhebliches Scheusal, Mr. Carton ein Waschlappen und Mr. Cruncher ein herzloser Schläger.

    Mal sehen wie sie sich weiter entwickeln.


    Nun wissen wir auch was Mr. Cruncher nachts so treibt und ich frage mich, wie das passt.

    Irgendwie wird es passen - eine solche "berufliche Betätigung" hätte Dickens nicht einfach zur Belustigung hinzugefügt. Aber ich kann mir momentan auch beim besten Willen noch nicht vorstellen, wohin uns DAS führt.

    Wie geht's euch denn mit diesen ganzen äußeren Ähnlichkeiten?

    Carton sieht offensichtlich Darnay ziemlich ähnlich. Letzterer hat(te) einen Onkel mit einem Zwillingsbruder (seinem Vater) und Doktor Manette reagiert bisweilen etwas verstört und misstrauisch auf Darnay. Dass da eine Ähnlichkeit vorhanden sein muss, wirkt irgendwie offensichtlich.

    Aber könnte es da vielleicht noch weitere verwandtschaftliche Zusammenhänge geben?

    Danke, diese Ähnlichkeiten sind mir so bewusst noch gar nicht aufgefallen. Das lädt ja schon zur Spekulation ein :loool:

    Im vierzehnten Kapitel bietet uns Dickens die Beschreibung eines kleinen Volksaufstandes, der in seiner Entstehung schon so

    lächerlich erscheint, das er nur zu einer Farce ausarten kann. Aber der sogenannte "Pöbelhaufen" steigert sich so schnell in seiner

    Aggressivität, dass auch unschuldige Passanten plötzlich als >Spione< erkannt werden und Schaden nehmen. Der Funke der das

    Pulverfass entzündet ist der Begräbniszug eines verurteilten Spions

    Ganz am Anfang wurde ja beschrieben, wie gefährlich zur damaligen Zeit die Straßen waren. Erinnern wir uns nur an die Kutsche und den bis an die Zähne bewaffneten Begleiter derselben. Die ausufernde Gefährlichkeit im Alltag trägt Dickens mit diesem Pöbel jetzt direkt in die Stadtmitte. Das wiederum erinnert doch an Paris und Frankreich - soll es evtl. auf die Ähnlichkeiten der Gegebenheiten hinweisen? :-k

    Eine Andeutung allerdings scheint mir wichtig zu sein, und zwar ganz am Schluss. Er weist das Manettchen darauf hin, dass "es einen Menschen gibt, der bereitwillig sein Leben hingäbe, um ein Leben, das Sie liebt, an Ihrer Seite zu erhalten."

    Mr. Carton weiß also einiges über den schönen Mr. Darney, er sieht eine Gefahr für sein Leben und ist opferbereit.

    Den letzten Satz würde ich jetzt so nicht unbedingt unterschreiben - die Andeutung spielt später bestimmt eine Rolle, aber ob Carton wirklich etwas über Darnay weiß oder einfach nur andeutet, dass Lucie die Frau ist, für deren Glück er sich opfern würde, das ist für mich noch nicht klar.

    Das Mädel ist so gut, dass es schon weh tut.......... :roll:

    Das hatten wir doch auch schon bei David Copperfield :loool:

    Verstehe ich das richtig, dass er mit Leichen handelt? Sie als "wissenschaftliche Gegenstände" an anatomische Institute verkauft?

    Genau 8)

    Die Kapitelüberschriften

    gefallen mir, weil sie immer wieder zwei Kapitel zusammenbinden. und zugleich polarisieren!

    Kap 7 + 8: "Ein vornehmer Herr in der Stadt" und "Ein vornehmer Herr auf dem Lande"

    12 + 13: "Der Mann von Zartgefühl" und "Der Mann ohne Zartgefühl"

    15 + 16: "Strickzeug" und "Noch mehr Strickzeug"

    Dir sind auch schon bei Thome immer die Kapitelüberschriften aufgefallen. Danke für den Hinweis, ich hab's natürlich mal wieder überlesen :uups:


    Kapitel 15

    Ich frage mich, wieso die Hinrichtung Gaspards in dieser Länge, dieser Genauigkeit geschildert wird.

    Wir haben vorher gelesen, wie Dickens bzw. der Erzähler die sensationslüsterne Masse kritisiert, die ihr Vergnügen bei Hinrichtungen sucht, und je grausamer, umso schöner.

    Und was macht der Erzähler hier?

    Ich finde, er bedient durch die Art seiner Schilderung genau dieses Bedürfnis seiner Leser, über das er sich vorher erhoben hat.

    So ganz stimmt das nicht - Gaspard wird nur "einfach" gehängt.


    Die beschriebene Hinrichtung war die von Damiens, einem Diener, der 1757 einen Mordversuch an Louis XV unternahm. Das ändert nicht die beschriebene Grausamkeit und der Herausgeber meiner Ausgabe meint auch, dass Dickens damit über das Ziel hinausgeschossen ist - Dickens beschreibt eine absolut einmalige, politisch begründete Hinrichtung als die gegebene Methode, was schlicht nicht stimmt. Aber er erklärt auch einiges dazu, warum Dickens diese Übertreibung einfügt: an Damiens wurde ein Exempel statuiert, indem man ihn genauso hinrichtete wie 1610 Ravaillac, den Mörder von Henry IV. Damit rückte man den Diener in die Nähe von "jesuitischen und religiösen" Verschwörungen, was ein politisch passendes Gerücht war. Die Hinrichtung fand wirklich mitten in Paris statt und offenbar sympathisierten viele Bürger mit dem Delinquenten. Mein Herausgeber beschreibt diese Hinrichtung als einen Wendepunkt in der Art, dass ab dem Moment das Gottkönigtum in Frankreich an Ansehen zu verlieren begann. Und das war immerhin nur mehr 32 Jahre vor der Revolution, dem Volk ging es schon lange nicht mehr gut und ich glaube, eine große Hungersnot durch Missernten war auch noch nicht lange her.


    Aber trotzdem ist es Dickens besonders am Ende des Kapitels gelungen, genau auf seinen Punkt hinzutreiben: am Ende zeigen die Defarges (sie immer strickend) dem "neuen" Jacques den Königshof in all seiner Dekadenz und Mme Defarge macht am Ende absolut klar, dass sie und die anderen Jacques nur ein Ziel haben - den Umsturz und die Vernichtung des Hofes mit allen, die dazugehören. Sehr interessant fand ich überhaupt das ganze Vorgehen der Defarges und wie geschickt sie und ihre Mitverschworenen sich verhalten, die Signale und Heimlichkeiten bis hin zur "strickenden Buchführung" der Mme Defarge. Das hat Dickens hervorragend ausgearbeitet bis zu den Kleinigkeiten.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

    :study: Mike Dash - Tulpenwahn


  • Sehr interessant fand ich überhaupt das ganze Vorgehen der Defarges und wie geschickt sie und ihre Mitverschworenen sich verhalten, die Signale und Heimlichkeiten bis hin zur "strickenden Buchführung" der Mme Defarge. Das hat Dickens hervorragend ausgearbeitet bis zu den Kleinigkeiten.

    Das fand ich auch erstaunlich. Wieviel Geschick und Strategie sich hinter diesen Handlungen verbirgt, hat Dickens hervrragend dargestellt.

    Dabei erschien mir Madame Defarge beinahe schon als die Oberstrategin.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


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  • Dabei erschien mir Madame Defarge beinahe schon als die Oberstrategin.

    auf jeden Fall ist sie voller Überzeugung aktiv mit beteiligt in absoluter Gleichstellung zu ihrem Mann - das ist schon ziemlich modern. :thumleft: Sie wurde aber auch sehr schnell so stark dargestellt, denn in der Szene am Brunnen, als das Kind überfahren wird, steht sie am Ende aufrecht und strickend dort und schaut den Monsieur direkt an während sich alle anderen weggucken.

    viele Grüße vom Squirrel



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  • Buch 2, Kapitel 15 bis 18


    Ah, so langsam werden die Zusammenhänge sichtbar und die Rollen der einzelnen Figuren schälen sich klarer heraus.

    Zu Kapitel 15 wurde ja bereits einiges geschrieben. In Kapitel 16 tritt dann unser Spion aus England auf den Plan, und kommt es mir nur so vor, oder verhält er sich bei seiner Befragung etwas sehr offensichtlich? Als wolle er gar nicht verstecken, dass er die Defarges ausspioniere.


    Hier musste ich lachen:

    "Marvellous cognac this, madame."

    It was the first time it had ever been so complemented, and Madame Defarge knew enough of its antecedents to know better. She said, however, that the cognac was flattered, and took up her knitting.


    Madame zeigt sich hier ohnehin sehr schlagfertig. Das Bild der Schicksalsgöttin wird hier noch geschärft: Sie hält die Fäden in der Hand und strickt daraus buchstäblich die Zukunft der Menschen zusammen.

    Squirrel, steht in deinen Anmerkungen vielleicht, ob der gestrickte Geheimcode auf historische Tatsachen zurückgeht oder ob Dickens ihn als Symbol einsetzt? ich habe zwar in den letzten Tagen einiges zur Franz. Revolution nachgelesen, aber zu diesem Detail nichts gefunden.


    Und schließlich heiratet das Manettchen den Charles Darney. Der Hochzeitstag startet mit einer sehr charmanten Neckerei zwischen Mr. Lorry und Miss Pross. Flirten die beiden da etwa?

    Leider nimmt die Hochzeit den guten Doctor Manette doch sehr mit und er verfällt wieder ins Schustern.

    "Selber lesen macht kluch."


    If you're going to say what you want to say, you're going to hear what you don't want to hear.
    Roberto Bolaño

  • Madame zeigt sich hier ohnehin sehr schlagfertig. Das Bild der Schicksalsgöttin wird hier noch geschärft: Sie hält die Fäden in der Hand und strickt daraus buchstäblich die Zukunft der Menschen zusammen.

    Squirrel, steht in deinen Anmerkungen vielleicht, ob der gestrickte Geheimcode auf historische Tatsachen zurückgeht oder ob Dickens ihn als Symbol einsetzt? ich habe zwar in den letzten Tagen einiges zur Franz. Revolution nachgelesen, aber zu diesem Detail nichts gefunden.

    Der gestrickte Code ist wohl keine historische Tatsache. Er wird eher als Dickens Variante von Ovids Metamorphosen gedeutet: Philomela wird von König Tereus vergewaltigt und er lässt ihr die Zunge herausschneiden. Der Sprache beraubt, webt Philomela ihre Geschichte in Stoff und lässt diesen ihrer Schwester Procne zukommen, der Frau des Königs. Zusammen nehmen die beiden Frauen grausame Rache, indem sie Tereus Sohn töten und ihn dem Vater als Essen servieren. Wer die Rolle von Tereus hier in Dickens Roman zugeschrieben wird, verrate ich jetzt nicht. [-(

    Aber mit dieser Erklärung im Kopf passt das Bild der Norne immer besser 8)

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

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  • So ganz stimmt das nicht - Gaspard wird nur "einfach" gehängt.

    Ja - aber so meinte ich das nicht, da habe ich mich nicht klar ausgedrückt.


    Ich meinte das ganze Procedere, die lange Beschreibung der Gefangennahme, die Art und Weise, wie die Soldaten ihn ins Gefängnis transportieren, das Warten auf die Hinrichtung und und und - damit bedient Dickens bzw. der Erzähler die Sensationslust seiner Leser.


    Meine ich. Und das stößt mich ab.

    steht sie am Ende aufrecht und strickend dort und schaut den Monsieur direkt an

    ... und wirkte deswegen auf mich wie eine Art Rachegöttin. Mme Defarge ist eine sehr entschiedene Frau, finde ich, und in Kapitel 16 übernimmt sie die Führung. "Rache und Vergeltung wollen Zeit haben", sagt sie (S. 213) und hält damit ihren Mann zu Geduld an. Und er steht "gesenkten Hauptes" "einem gelehrigen Schüler gleich" vor ihr.

    Was für ein Unterschied zur blonden Puppe, dem Manettchen!


    Das Tuch, das sie in einzelne Knoten knotet - unheimlich. Mme Defarge hat etwas Schreckliches, etwas Gewaltbereites an sich.


    Das Gespräch mit dem Spion hat mir an einer Stelle besonders gut gefallen: er setzt ihr zu, will sie aushorchen zur Hinrichtung des Gaspard - und was sagt sie? "Da kommt mein Mann", entgegnete Mme Defarge. :-,

    :)

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Der gestrickte Code ist wohl keine historische Tatsache. Er wird eher als Dickens Variante von Ovids Metamorphosen gedeutet:

    Mir ist das unklar, dieser gestrickte Code. Das Strickstück der Mme Defarge scheint so etwas wie ein geheimes Notizbuch zu sein - ???



    Wer die Rolle von Tereus hier in Dickens Roman zugeschrieben wird, verrate ich jetzt nicht.

    :(

    Du meinst, auch in unserem Roman gibt es einen grausamen Menschen, einen Vergewaltiger, der einen Sohn hat, der die Sünden seines Vaters büßen muss?

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Zu Kapitel 8 bis Kapitel 13

    Wenn ich Austen richtig in Erinnerung habe, wurden Not und Elend aber nicht auf gesamtgesellschaftliche Ursachen bezogen? Sondern eher als privates Schicksal betrachtet, das durch ebenfalls private Mildtätigkeit gelindert werden sollte? Könnte der Einzelne bei Austen dieses Schicksal ändern? Das sind jetzt echte Fragen, vielleicht weißt Du mehr darüber?


    Dickens zeigt ja hier eine andere Sicht der Dinge: er sieht gesamtgesellschaftliche Ursachen, und zwar im politischen System. Die Ursachen für die Armut kann der Einzelne - wenn ich Dickens richtig verstehe - nicht ändern.

    Ich meine, dass vor allem die versnobte Emma schon diese Sichtweise hatte, dass Armut und Elend eben Schicksal sind und sie dies durch ihre Besuche lindern könne. Ansonsten hatte ich eigentlich nicht das Gefühl, dass Austens Figuren über ihre Armut klagen - das war eben so und es wurde meist in Würde ertragen oder eben nicht kritisiert. Viel eher ging es um die Verhaltensweisen und das Benehmen der Figuren, weniger um gesellschaftskritische Äußerungen. Dickens empfinde ich (vor allem hier) viel politischer. Ich muss mir da aber nochmal ein paar Gedanken zu machen, bin nur heute schon echt müde. :sleep:

    Zweites Buch / Neuntes Kapitel


    Interessante verwandtschaftliche Beziehungen tun sich da auf :lechz: Das Gespräch, diese unterschwelligen Spitzen und als Sahnehäubchen die Beschreibung der Nacht, die Squirrel schon genannt hatte, war einfach genial! Wobei ich es auch ganz schön gewagt von dem Neffen fand, nach einem derartigen Prozess, wieder zurück in seine Heimat zu reisen.

    Daran habe ich noch gar nicht gedacht, dass er ein ziemliches Risiko mit seiner Reise nach Frankreich eingeht. :thumleft:

    Was mir allerdings jetzt beim Lesen des 13. Kapitels aufgefallen ist, dass wir zwar von jedem Charakter ein gewisses Maß an Charakter-

    beschreibungen und damit auch Begründung für ihr Verhalten haben. Von Sydney Carlton jedoch wissen wir nur, dass er selbstzerstörerisch

    und melancholisch ist und vielleicht auch ein wenig zum Selbstmitleid neigt. Aber wir haben keinerlei Hinweis darauf, worin das begründet ist.

    Welches Gift der Vergangenheit da in seinem Blut kocht, hat uns Dickens bisher vollkommen verschwiegen.

    Ich habe mir auch gedacht, dass sich doch niemand grundlos so verloren und wertlos fühlen kann. Aber vielleicht hat er etwas mit dem Gefängnisaufenthalt von Dr. Manette zu tun und fühlt sich nun schuldig? :-k

    Mit Stryver als Galan hab ich auch nicht gerechnet, aber irgendwie passt es zu seiner Persönlichkeit.

    :loool: Ich auch nicht...und was für ein Galan. :wuetend: Will sich mit ihr schmücken, sie wird ihm Ehre machen und wenn man keine Lust aufs eheliche Heim hat, kann man ihm ja fernbleiben. Sagt doch viel aus über seine angeblichen Gefühle für Miß Manette. Herrlich waren seine Vorstöße in Richtung Lucie - statt sie zu fragen, will er sie über ihr "Glück" unterrichten. :totlach:

    Ich finde, wir wissen über alle verblüffend wenig (weniger als sonst bei Dickens Geschichten)

    Stimmt, den Gedanken hatte ich auch. Grobe Charaktereigenschaften haben mittlerweile die meisten Figuren, so dass man sie gedanklich einordnen kann (bis auf den undurchsichtigen hübschen Mr. Darnay), aber so richtig viel wissen wir über keinen.:scratch:

    Kap. 10

    Warum hat die Liebeserklärung von Herrn Darnay Dr. Manette so durcheinander gebracht, dass er wieder schustern geht?

    Vielleicht, weil eine Ehe ihm seine Tochter entfremden würde? :scratch: Darnay fand ich beim Handanhalten sehr widersprüchlich...einerseits machte er einen angenehmen und glaubwürdigen Eindruck und dann wieder hatte ich den Eindruck, dass er den Vater nur manipulieren möchte. :scratch:

    In Kapitel 13 bekommen wir ja einen wahren Gefühlsausbruch mit. So sympathisch mir Carton bisher war, für so weinerliche Typen ohne Selbstbewusstsein fehlt mir etwas die Geduld.

    Ich habe lange hin und her überlegt, ob mir sein Gefühlsausbruch too much war :scratch: - aber eigentlich fand ich, dass in seiner Liebeserklärung eine gewisse Ruhe und Würde lag. Er fordert nichts und legt ihr seine Gefühle dar, was ja eigentlich auch Mut erfordert. Er hat nur keinen Selbstwert und verachtet sich und sein Leben so völlig - ich glaube, dass er an etwas Großem zu kauen hat, was ihn innerlich zerstört. Bei mir hat er eher das Interesse geweckt, was mit ihm passiert ist, dass er so wurde. :-k

    Wir sind uns also einig...........Carton fängt an zu nerven...............:loool:

    und wie wir uns einig sind :loool:

    Seid ihr wieder ungnädig? :twisted::loool:

    Schön, :lol: aber ich denke alle fahren auf uns Lucie ab, weil Dickens hier ganz einfach ein extrem idealisiertes Frauenbild schafft. So etwas wie

    die Idealfrau der viktorianischen Zeit. Das Mädel ist so gut, dass es schon weh tut.......... :roll:

    :loool: Ja, den Gedanken hatte ich mittlerweile auch manchmal, dass sie schon fast zu nett, zu lieb, zu einfühlsam, jederzeit mit den richtigen Worten auf den Lippen, zu verständnisvoll, zu rücksichtsvoll, zu ergeben und einfach zu viel zuO:-) ... ist.

    Liebe Grüße,
    Tine


    :study: Ken Follett - Die Waffen des Lichts

    :study: Trude Teige - Als Großmutter im Regen tanzte

  • Das Gespräch mit dem Spion hat mir an einer Stelle besonders gut gefallen: er setzt ihr zu, will sie aushorchen zur Hinrichtung des Gaspard - und was sagt sie? "Da kommt mein Mann", entgegnete Mme Defarge. :-,

    Hast Du den Spion wiedererkannt? :-,

    Mir ist das unklar, dieser gestrickte Code. Das Strickstück der Mme Defarge scheint so etwas wie ein geheimes Notizbuch zu sein - ???

    So ist das zu verstehen - in irgendeinem Code strickt sie alle wichtigen Informationen über Kollaborateure, Opfer etc. in ihre Sachen hinein. Und jetzt eben den Namen und das Aussehen des Spions. Wie sie das macht, keine Ahnung :wink:

    Du meinst, auch in unserem Roman gibt es einen grausamen Menschen, einen Vergewaltiger, der einen Sohn hat, der die Sünden seines Vaters büßen muss?

    Wie detailliert Dickens die Figuren von Ovid übernommen hat, das weiß ich auch noch nicht - aber es scheint bei Mme Defarge um persönliche Rache zu gehen.

    Seid ihr wieder ungnädig? :twisted::loool:

    und wie :twisted:

    Ich meinte das ganze Procedere, die lange Beschreibung der Gefangennahme, die Art und Weise, wie die Soldaten ihn ins Gefängnis transportieren, das Warten auf die Hinrichtung und und und - damit bedient Dickens bzw. der Erzähler die Sensationslust seiner Leser.

    Zum Teil gebe ich Dir recht, aber zum Teil war es auch wichtig für die Begegnung zwischen Gaspard und dem Straßenbauer, so dass dieser in Paris berichten kann. Zumindest sehe ich es so.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

    :study: Mike Dash - Tulpenwahn