Christoph Schlingensief - So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!

  • Klappentext (Quelle: amazon)

    Im Januar 2008 wird bei dem bekannten Film-, Theater- und Opernregisseur, Aktions- und Installationskünstler Christoph Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert. Ein Lungenflügel wird entfernt, Chemotherapie und Bestrahlungen folgen, die Prognose ist ungewiss – ein Albtraum der Freiheitsberaubung, aus dem es kein Erwachen zu geben scheint.
    Doch schon einige Tage nach der Diagnose beginnt Christoph Schlingensief zu sprechen, mit sich selbst, mit Freunden, mit seinem toten Vater, mit Gott – fast immer eingeschaltet: ein Diktiergerät, das diese Gespräche aufzeichnet. Mal wütend und trotzig, mal traurig und verzweifelt, aber immer mit berührender Poesie und Wärme umkreist er die Fragen, die ihm die Krankheit aufzwingen: Wer ist man gewesen? Was kann man noch werden? Wie weiterarbeiten, wenn das Tempo der Welt plötzlich zu schnell geworden ist? Wie lernen, sich in der Krankheit einzurichten? Wie sterben, wenn sich die Dinge zum Schlechten wenden? Und wo ist eigentlich Gott?
    Dieses bewegende Protokoll einer Selbstbefragung ist ein Geschenk an uns alle, an Kranke wie Gesunde, denen allzu oft die Worte fehlen, wenn Krankheit und Tod in das Leben einbrechen. Eine Kur der Worte gegen das Verstummen – und nicht zuletzt eine Liebeserklärung an diese Welt.


    Zum Autor (Quelle: Verlagsseite Kiepenheuer & Witsch)


    Christoph Schlingensief, geboren 1960 in Oberhausen. Seit Anfang der 80er-Jahre drehte Schlingensief Filme, mit der Deutschlandtrilogie (1989–1992) wurde er einer größeren Öffentlichkeit bekannt. In den 90er-Jahren Hausregisseur an der Berliner Volksbühne. Ab 1997 verwirklichte er aktionistische Projekte auch außerhalb des Theaters (u.a. die politische Kunstpartei »Chance 2000« und die Container-Aktion »Bitte liebt Österreich«). In Bayreuth inszenierte er 2004 mit »Parsifal« seine erste Oper. Seine Krebserkrankung im Jahr 2008 verarbeitete Christoph Schlingensief offensiv in seinem Buch »So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein« sowie in seinen Inszenierungen. Zudem entwickelte er die Idee für Remdoogo, ein Operndorf in Afrika, dessen Grundsteinlegung im Februar 2010 stattfand. Schlingensiefs letzte Theaterinszenierung »Via Intolleranza II« (2010) entstand in Zusammenarbeit mit Künstlern aus Burkina Faso.

    Am 21. August 2010 starb Christoph Schlingensief in Berlin.


    Mein Leseeindruck:


    Christoph Schlingensief macht seine Krankheit öffentlich. Kein Gedanke daran, sich zurückzuziehen und in einem engeren Kreis von Familie und Vertrauten sich der Erkrankung zu stellen – statt dessen spricht er Tag für Tag in ein Diktiergerät und lässt den Leser damit teilhaben an den Höhen und Tiefen, die er durchmisst.

    Schlingensief bleibt sich treu: Kunst und Leben waren bei ihm immer aufs Engste verbunden.


    Und so geht er auch mit seiner Erkrankung um. Schon kurz nach der schweren Operation entwirft er Möglichkeiten von künstlerischen Manifestationen, und tatsächlich wird dieses Tagebuch schließlich auch die Grundlage einer Theater-Trilogie.


    Der Leser rückt damit Schlingensief sehr nahe. Er erlebt dessen Gefühlswelt hautnah mit: abgrundtiefe Verzweiflung über sein Schicksal, Trauer, Wut und Schmerz, dann wieder Optimismus und Tatendrang, die quälenden Fragen nach dem Sinn, die Überlegungen zum künftigen Leben, seine tröstlichen Dialoge mit Gott und Maria, die Gedanken zum Sterben, die Frage der Theodizee, Sorge um seine Mutter, seine Pläne zur Fertigstellung des Operndorfs – auch der kritische Blick zurück auf sein hektisches Leben, seine Selbstbefragungen, die Auseinandersetzung mit seinem Vater und dessen Sterben, und der feste Vorsatz, alles langsamer angehen zu lassen: „der Rummelplatz bleibt jetzt einfach mal geschlossen.“


    Dieses Tagebuch ist das Buch eines Egomanen, zweifellos, den wir als Leser durch seine Gedankenwelt achterbahnartig begleiten – aber gerade darin liegt auch das Berührende. Der Glaube Schlingensiefs an „meine drei Leute da oben“ (S. 129) wirkt kindlich anrührend, so wie sein Satz „Ich lebe doch so gerne!“ Da muss auch der kritische Leser tief Luft holen…


    Aus der Fülle der Gedanken will ich nur zwei kurz herausheben, die ich interessant finde und weiter nicht kommentieren will:


    1. Schlingensief leidet darunter, dass ihm die Krankheit die Autonomie raubt. Ein selbstbestimmtes Leben ist nicht mehr oder nur in kleinen Dosen möglich, die Krankheit dominiert Inhalte und Tempo des Lebens. Gleich im Vorwort nennt er daher die Zielsetzung seines Tagebuchs: es soll eine Kampfschrift sein „für die Autonomie des Kranken und gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens“ (S. 9), und damit eine Kampfschrift für die Schönheit des Lebens und die Liebe zu sich selbst.


    2. Schlingensief datiert auf der Basis der histologischen Ergebnisse die Entstehung seines Tumors auf seine Bayreuther Zeit, in der er damals schon fürchtete, durch seine (wunderbare ….) Inszenierung von Parzival krank zu werden. Er ist überzeugt davon, dass "Wagner und seine Todesmusik" (S. 175) ihn infiziert haben, dass Wagners rauschhafte "Teufelsmusik" (S. 174) "diesen dunklen Kanal geöffnet" (S. 173) hat und dass er sich "von dieser Musik genau auf den Trip habe schicken lassen, den Wagner haben will" (S. 174).

    Bei Thomas Mann kann man ähnliches zu Wagner lesen...

          

    Fazit:

    Ein sehr persönliches, trauriges, bewegendes und schönes Buch. „Ich habe die Wunde der Welt berührt, die Wunde des Leben-Wollens und Sterben-Müssens“ (S. 196).


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Zitat von drawe

    Er ist überzeugt davon, dass "Wagner und seine Todesmusik" (S. 175) ihn infiziert haben, dass Wagners rauschhafte "Teufelsmusik" (S. 174) "diesen dunklen Kanal geöffnet" (S. 173) hat und dass er sich "von dieser Musik genau auf den Trip habe schicken lassen, den Wagner haben will" (S. 174).

    Bei Thomas Mann kann man ähnliches zu Wagner lesen..

    Da ist wirklich heftig. Weißt Du, wo Thomas Mann dazu etwas sagte?


    Ich hatte das Buch vor Jahren geschenkt bekommen, aber nie wirklich begonnen. Vielleicht war bisher noch nicht der richtige Zeitpunkt. Deine Rezi hat jetzt mein Interesse geweckt.

  • Weißt Du, wo Thomas Mann dazu etwas sagte?

    Es gibt einen Essay von Thomas Mann: "Leiden und Größe Richard Wagners" (oder so ähnlich) aus dem Wagner-Jahr 1933.

    Den Essay habe ich zwar hier liegen (geerbt), aber nicht gelesen.

    Ich dachte eher an die Buddenbrooks. Der Niedergang der Familie hat allerlei Anzeichen, und dazu gehört neben den kariösen Zähnen auch die Musik. Gerda Buddenbrook musiziert mit ihrem Lehrer und führt Hanno, den Sohn, auch an die Musik heran, und zwar an Wagner. Hanno sträubt sich erst, aber erliegt dann auch dieser Musik.


    Ich habe diese Stellen einfach mal mit Interesse zur Kenntnis genommen. Schlingensief schildert übrigens an anderer Stelle, dass er die Ouvertüre von "Tristan und Isolde" im Krankenhaus gehört hat und direkt Anfälle, fast epileptisch, bekam. Wegen der Todessehnsucht, die aus dieser Musik spricht.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).