Edgar Lee Masters - Die Toten von Spoon River / Spoon River Anthology

  • Der Autor (nach Wikipedia): Edgar Lee Masters wurde am 23. August 1868 als Sohn eines Anwalts in Garnett, Kansas, geboren. Er war ein US-amerikanischer Schriftsteller, der als Verfasser des Gedichtbandes „Spoon River Anthology“ bekannt wurde. Die meisten Personen entsprechen realen Vorlagen aus Petersburg und Lewistown (zum Beispiel Ann Rutledge, die Gerüchten zufolge eine Jugendliebe von Abraham Lincoln war und in Petersburg begraben liegt). Das Buch war ein großer Erfolg, schuf ihm aber in seiner engeren Heimat auch Feinde, da er zu schonungslos die Engstirnigkeit der Kleinstädter geschildert hatte. Er arbeitete als Anwalt und veröffentlichte bis 1942 einige Romane, Gedichte, Theaterstücke und Biografien von Abraham Lincoln, Walt Whitman und Mark Twain, 1924 die von Kritikern wenig geschätzte, beim Publikum aber beliebte Spoon River-Fortsetzung "The New Spoon River" und 1936 seine Autobiografie unter dem Titel „Across Spoon River“. Er verstarb am 5. März 1950 in Petersburg, Illinois.


    Ich las die englische Ausgabe als Taschenbuch bei Collier-Macmillan aus dem Jahr 1962, die auch eine als neu bezeichnete, achtseitige Einführung von May Swenson umfasst, die recht informativ ist. Das Buch umfasst 318 Seiten, einschließlich des epischen Pseudo-Fragmentes "The Spooniad", das die Stadtgeschichte und die Schicksale einige ihrer Bewohner noch einmal anders zusammenfasst, und des Epilogs, einem 21-seitigen dramatischen Wechselgesang verschiedener Stimmen einschließlich der von Beelzebub, Loki und Yogarindra.


    Es gibt etliche englischsprachige Ausgaben, auch als sehr preiswerte E-Books, aber die Collier-Macmillan-Ausgabe hat nach meinem Geschmack das ansprechendste Umschlagmotiv.:)


    Eine deutsche Übertragung als "Die Toten von Spoon River" gab es zuerst im Jahr 1924 von Hans Rudolf Rieder, veröffentlicht im Deutschland-Verlag München und im Jahr 1947 beim Drei-Säulen-Verlag in Bad Wörrishofen. Eine Neuübertragung von Wolfgang Martin Schede erschien unter dem gleichen Titel 1959 beim Artemis-Verlag in Zürich (dort bezeichnet als "Roman in Gedichten"), 1966 im Aufbau-Verlag Ost-Berlin/Weimar und 1967 als Taschenbuch mit einem Nachwort von Fritz Güttinger bei dtv in München. Diese Übersetzung wurde das letzte Mal 1987 bzw. 1991 bei Piper herausgebracht.


    Ein US-amerikanischer Klassiker, zuerst im Jahr 1914 in Fortsetzungen in der Zeitschrift „Reedy’s Mirror“ in St. Louis, ein Jahr später in Buchform veröffentlicht, und seinerzeit ein Erfolg bei Kritikern und Lesepublikum. Ein Gedichtband in freien Versen, der fast wie Prosa daherkommt – das Buch war ursprünglich als Roman geplant - als Annäherung an eine (fiktionale) Kleinstadt im Mittelwesten der USA vermittels der Inschriften auf dem Friedhof bzw. über das Gewisper der Toten. 244 verstorbene Einwohner, die jetzt auf dem Grabhügel liegen, sprechen ihre eigenen Epitaphe, ihre letzten Worte (die sind gedruckt nur sehr selten länger als eine Buchseite), Nachrufe in ihren eigenen Worten, in denen sie – jetzt „im Jenseits“, wo Geflunker keinen Sinn mehr ergibt – überwiegend die Lügen ihres Lebens enthüllen: Was sie scheitern ließ, was ihnen Auftrieb gab im Leben, ihren Größenwahn, ihre Ideale, ihre Betrügereien. Sehr viele, die als Lebende für edel angesehen wurden, sind innerlich verdorben, dafür offenbart sich der gute Kern der Randständigen und Belächelten. Langsam füllt sich der Flickenteppich der Stadtgeschichten, wenn das eine Epitaph die Ereignisse eines anderen aufgreift. Verwandte liegen neben Verwandten und enthüllen jeweils ihre Versionen einer Geschichte. Mit der Moral der Kleinstadtgesellschaft scheint es nicht zum Besten zu stehen. Es herrscht zwischenmenschliche Kälte und Zwietracht vor. Machtgier, Neid, Streitigkeiten und vergleichsweise viele gewaltsame Tode sind an der Tagesordnung.


    Ein außergewöhnlicher Gedichtzyklus über das Sein hinter dem Schein, der die Idylle des Landlebens in den Kleinstädten als Trugbild bloßstellt. Sehr traurig im Tonfall, oft sogar berührend. In kraftvoller Sprache ohne allzu viele Klischees. Und wenn, mögen sie den sprechenden Stimmen geschuldet sein.:wink: Gedichte von sehr schönem Klang und mit einiger Wucht. Mal mit lauter Stimme wie ein Prediger des Alten Testaments vorgetragen, dann wieder gewispert wie eine böse Moritat. Oder mit traurig ersterbendem Atem. Ein literarisches Unikat mit im Grunde ganz einfachen Geschichten voller menschlicher Leidenschaften und Schlechtigkeiten! Der Band schrammt knapp an der Höchstwertung vorbei, doch leider hängte Masters noch zwei fürchterliche Epiloge an, die eher wie total bemühtes Schultheater klingen. Vielleicht lässt man sie am besten einfach aus. :wink: 


    Masters poetisches Amerikanisch fördert oftmals ungewöhnliche Worte, sprachliche Verknappungen und - zumindest mir - unbekannte Wendungen ans Licht. Da hätte ich einen Blick in die deutsche Nachdichtung manchmal sehr hilfreich gefunden. Aber die deutsche Ausgabe ist derzeit nur relativ hochpreisig bei Weiterverkäufern und in Antiquariaten zu bekommen. Eine Neuauflage wäre schön, auch wenn man mit ihr als Verlag wahrscheinlich keinen Gewinn einfährt!


    Viereinhalb :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: Sterne

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


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  • Die letzte deutsche Ausgabe aus dem Jahr 1991 - als Bd. 504 bei Piper in München und Zürich erschienen - enthält auf 257 Seiten die zweite deutsche Übersetzung von Wolfgang Martin Schede und das Nachwort von Fritz Güttinger.

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  • Hier eine aktuelle französische Ausgabe unter dem Titel "Spoon River", übersetzt von Gaëlle Merle.

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  • Und hier eine italienische Ausgabe unter dem Titel "Antologia di Spoon River", die anscheinend neben der Übertragung von Fernanda Pivano auch den englischen Originaltext und drei Begleittexte von Cesare Pavese enthält

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  • Die alte deutsche Übersetzung von Hans Rudolf Rieder, z.B. 1947 in Bad Wörrishofen erschienen.

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  • Da mir jetzt auch die deutsche Übersetzung von Wolfgang Martin Schede vorliegt, kann man ja mal Original und Nachdichtung vergleichen:


    (S. 25)


    (S. 13)


    Übersetzen ist ja schon eine schwierige Angelegenheit, die nicht immer den Ton trifft. Aber in diesem Fall scheint mir der Klang des Originals etwas verhunzt.:-s

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