Michael Ondaatje - Kriegslicht / Warlight

  • Kurzmeinung

    Mojoh
    Ein für mich äußerst ambivalentes Buch: Immer zwischen Abbrechen aus Verwirrtheit und Weiterlesen aus Neugierde
  • Klappentext (Amazon):


    Nach Kriegsende wird der vierzehnjährige Nathaniel mit seiner Schwester Rachel von den Eltern in London zurückgelassen. Der geheimnisvolle „Falter“, der sie in Obhut genommen hat, und dessen exzentrische Freunde kümmern sich fürsorglich um sie. Wer aber sind diese Menschen wirklich? Und was hat es zu bedeuten, dass die Mutter nach langem Schweigen aus dem Nichts wieder zurückkehrt? „Meine Sünden sind vielfältig“, wiederholt sie, mehr gibt sie nicht preis. Als er erwachsen ist, beginnt Nathaniel die geheime Vergangenheit seiner Mutter als Spionin im Kalten Krieg aufzuspüren. Fünfundzwanzig Jahre nach dem „Englischen Patienten“ hat Michael Ondaatje ein neues Meisterwerk geschrieben.


    Mein Leseeindruck:


    Diese Geschichte ist wie ein Gespinst.

    Gehe ich jetzt, wir haben Herbst, morgens in den Garten, legen sich die Spinnfäden des Altweibersommers über mein Gesicht - und so verhält es sich mit dieser Geschichte.


    Aus der Rückschau versucht der Ich-Erzähler zunächst als Junge (1. Teil), dann als junger Mann (2. Teil), das rätselhafte Leben seiner Mutter und die Gründe für ihr Verschwinden zu ergründen.


    Der Krieg endet nicht mit dem Ende im Jahre 1945, die Stunde Null ist eine Fiktion. Der Krieg geht weiter und legt seine Schatten über die Menschen, die an logistischen Operationen beteiligt waren – und führt schließlich auch zur Ermordung der Mutter, die als britische Agentin gegen den Faschismus in Deutschland und (nach dem Krieg) auf dem Balkan arbeitete.


    Die Mutter des Erzählers erscheint ambivalent. Sie geht in den Geheimdienst, um aus ihrem übersichtlichen Leben auszubrechen, zugleich aber auch, um auf einer höheren Ebene ihre Kinder zu schützen. Der Schutz der Kinder ist ihr ein lebenslanges Anliegen, und die beiden Wächterfiguren, denen sie diese Sorge überträgt, haben durchaus selbstlose Züge.

    Die wiederholten Anfragen ihres Sohnes nach ihrer Rückkehr laufen ins Leere. Sie gibt nichts preis. Sie lebt zurückgezogen auf dem Lande, ohne Kontakt zu anderen Menschen, und erträgt die Tatsache, dass ihre Tochter sich verbittert von ihr abwandte. Dafür sichert sie aber ihren Sohn. Alle Spuren ihres Lebens sind verwischt, es gibt keine Erinnerungsstücke, die Auskunft geben könnten. Der Sohn, der Ich-Erzähler, beginnt daher, sich aus Zufallsfunden, kleinen Bemerkungen und Erinnerungssplittern das Leben der Mutter zu rekonstruieren - um dabei ständig auf neue Schatten zu stoßen.


    Im "Literarischen Quartett" wurde bemängelt, dass der zweite Teil gegenüber dem 1. Teil deutlich abfalle.

    Diese Meinung kann ich nicht teilen, ganz im Gegenteil. Der 2. Teil – Nathaniel ist inzwischen ein junger Erwachsener – zeigt Nathaniels aktives und konkretes, wenngleich ergebnisloses Bemühen, aus den Archiven des Foreign Office Informationen über seine inzwischen verstorbene Mutter zu gewinnen. Auf der Basis eines Jugendfotos wechselt er nun von der Erinnerung in die Erzählung: er geriert sich als allwissender Erzähler und erzählt die vermutete Geschichte seiner Mutter oder, um im Bild zu bleiben, er verknüpft die fliegenden Spinnwebfäden miteinander.


    Und so entsteht ein überaus kunstvolles Gespinst.

    Nichts wird ganz klar, nichts ist, wie es scheint, keine Person ist, was sie vorgibt zu sein, und Namen verbergen nur wahre Identitäten. Trügerische Wahrnehmungen, Lügen, bewusste Täuschungen und ständige Zweifel an der eigenen Wahrnehmung, die sich in einem anderen Lebensalter und mit einem anderen Wissen wieder ändern, bestimmen das Leben des Ich-Erzählers. Vermeintlich sichere Wahrheiten entpuppen sich als Vermutungen, als Gespinste.

    Eine nebulöse Schattenwelt tut sich auf. Viele Figuren wirken eher wie Schemen vor einem ebenso schemenhaften Hintergrund. Einige Figuren bleiben im Schattenhaften stecken: was ist mit dem Vater der Kinder? Wie sieht das Leben der Schwester aus?

    Der Ich-Erzähler versöhnt sich schließlich, wenngleich posthum, mit seiner Spinnweb-Mutter - und kehr zurück in sein Haus mit dem ummauerten Garten, in der er geschützt und sicher leben kann.


    Ondaatje ist ein Meister des indirekten Erzählens, und diese Erzählweise passt wunderbar zum Thema.

    Fast behutsam, fast lyrisch führt er dem Leser kleine Erzähleinheiten vor, wie Gespinstfäden, und der Leser zieht selber seine Schlüsse und setzt die Fäden zu einem Gewebe zusammen.

    Nichts wird zerredet.


    Fazit: ein unaufgeregtes, dennoch spannendes und kunstvoll erzähltes Buch über die Spurensuche eines jungen Mannes.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Michael Ondaatje - Kriegslicht“ zu „Michael Ondaatje - Kriegslicht / Warlight“ geändert.
  • Als Nathaniel Williams 14 Jahre alt ist, verkünden die Eltern ihm und seiner älteren Schwester Rachel, dass sie für länger als ein Jahr nach Singapur gehen werden. Ein Kollege von Rose Williams wird zu den Kindern ins Haus ziehen und sich um sie kümmern. Nach den Ferien sollen beide wie geplant ins Internat. Sie nennen ihren Aufpasser „den Falter“ (im Original: the moth). Rose und der Falter haben im gerade beendeten Zweiten Weltkrieg nachts gemeinsam Feuerwache gehalten. Rund 20 Jahre später erkennt Nathaniel, dass die nächtliche Verdunkelung und Ausgangssperre zugleich eine wunderbare Legende gewesen sein muss, um Dinge zu erledigen, von denen niemand wissen soll. Die Verdunkelung und das blaue Licht, mit dem im Krieg nachts die Straßen beleuchtet wurden, sind titelgebend. „Schon damals hätte ich es wissen müssen“, rückt er als Erwachsener die dünnen Auskünfte zurecht, die Rose ihren Kindern über ihre Erlebnisse im Krieg gab. Nathaniel weiß heute, dass England damals mit einer Invasion der deutschen Wehrmacht an der Ostküste rechnete und dass für diesen Fall Vorbereitungen getroffen wurden, um den Angriff so schwer wie möglich zu machen. Außer seiner Mutter müssen im Schutz der Nacht Menschen mit den verschiedensten, ungeahnten Talenten unterwegs gewesen sein.


    Die Eltern reisen - für die Kinder überraschend – getrennt voneinander ab, offensichtlich nicht nach Singapur. Das Verlassen- und Belogenwerden der Kinder wird die Beziehungen aller nachhaltig belasten; jahrelang werden die Kinder sich fragen, ob ihre Mutter eine Haftstrafe absitzen muss oder ob ihre Tätigkeit sie in Gefahr bringt. Auch die Beziehung zwischen Nathaniel und Rachel wird distanziert bleiben. Man könnte unverschämt finden, wie der Falter sich im Haushalt der Williams einrichtet und von dort aus in einer Zwischenwelt halb legale Geschäftskontakte pflegt. Nach Kriegsende gelten plötzlich wieder Gesetze, über die man während der Kriegsjahre hinweggesehen hat. Schade um die vielfältigen Talente des Falters und seiner Kontakte. Wenn die Kinder Probleme haben, ist der Falter jedoch äußerst fürsorglich für sie da, und Nathaniel wundert sich über die Autorität, mit der er sich für sie einsetzt. Während Rachel sich mit einer schweren Krankheit abfinden muss, die niemand ahnte, tritt Nathaniel durch einen Kellnerjob in die Welt der Erwachsenen ein, in der weitere Figuren eine schützende Hand über ihn halten. Beide Kinder werden später gern an ihr Leben auf dem Fluss zurückdenken, als sie mit dem „Boxer von Pimlico“ unterwegs waren und auf einem flachen Muschelboot im Themsegebiet Hunde transportierten, die angeblich das Publikum bei Hunderennen mit No-Name-Teilnehmern verwirren sollten. Schließlich müssen der Falter und die Kinder erkennen, dass Rose sich mit ihrer Tätigkeit Feinde gemacht haben muss, die nicht davor zurückschrecken, sich an ihren Kindern zu rächen.


    Jahre später sortiert Nathaniel rückblickend seine Erlebnisse, immer noch auf der Suche nach dem geheimen Auftrag seiner Mutter. Die ungewöhnlichen Personen seiner Jugendzeit erscheinen ihm nun in anderem Licht, als er die schützenden Hände erkennt, die sie über ihn hielten. Der Falter, der Boxer von Pimlico, Harry Nkoma, Olive, Mr Malachite, MacCash, der jugendliche Marsh, sie alle sind wunderbare Figuren, die hier einzeln vorgestellt werden müssten … Nathaniel kombiniert Schritt für Schritt Namen und Tarnnamen, studiert Landkarten und alte Fotos. Die Figuren scheinen jede einen zweiten, wohlgewählten Spitznamen zu haben, was der geheimnisvollen Atmosphäre einen besonderen Kick gibt. Im Theaterstück seiner Familie waren die Rollen zwar sichtbar, aber weder der Titel des Stücks noch sein Text. Die Kulisse ermittelt Nathaniel im Kartenstudium an seinem Arbeitsplatz im Archiv, Textbuch und Besetzung, indem er sich mit der Herkunft seiner Mutter befasst. Er wirkt wie ein Opfer des Kalten Krieges, das das schützende Archiv nicht verlassen kann und an dem das Leben draußen vorbeigeht. Seine tiefsitzende Unsicherheit wird er nicht wieder verlieren, wie auch seine Zeitgenossen nicht, denen der Krieg zeigte, dass ihre Häuser sie nicht mehr schützen konnten.


    Fazit

    Michael Ondaatje wechselt zwischen seinem inzwischen erwachsenen Icherzähler und einem allwissenden Erzähler, der mir fast schon zu viel Wissen hatte über Rose Williams, die sich beinahe perfekt getarnt hatte. Nathaniel bleibt neutral, er ordnet Namen einander zu und sichtet Dokumente. Jeder Leser kann also seine eigene Interpretation der Ereignisse vornehmen. Vordergründig alltägliche Erlebnisse eines Geschwisterpaars in der Nachkriegszeit fügen sich zu einer Geschichte, von der ich mich gern wegtragen ließ. Ein Roman, der lange nachwirkt und den ich mit dem Wissen um Roses Auftrag gern noch einmal lesen würde.

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

    :musik: --


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow