Dörte Hansen - Mittagsstunde

  • Kurzmeinung

    Bridgeelke
    Anfangs etwas schwierig, aber nach kurzer Zeit hat es mir besser gefallen als Altes Land.Ich wäre gerne länger geblieben
  • Kurzmeinung

    eigenmelody
    Eine exquisit geschriebene, sehr menschliche Geschichte. Wenig deutsche Autoren haben Dörte Hansens Qualität.
  • Inhalt / Klappentext

    Die Wolken hängen schwer über dem flachen Land, als Ingwer Feddersen in das kleine nordfriesische Geestdorf Brinkebüll zurückkehrt. Hier leben seine Großmutter Ella, die dabei ist, den Verstand zu verlieren, und sein Großvater Sönke, der in seinem alten Dorfkrug stur die Stellung hält. Der hat die besten Zeiten hinter sich, genau wie das ganze Dorf, das ganze Land. Wann hat dieser Niedergang begonnen? In den 1970ern, als die Landvermesser kamen und die Flurbereinigung begann? Als erst die Hecken und dann die Vögel verschwanden? Als die Kinder plötzlich nicht mehr Bauern werden wollten? Als Ingwer zum Studium nach Kiel ging und die Alten mit der Gastwirtschaft sitzen ließ? Jetzt ist er Archäologe, Hochschullehrer, lebt seit 25 Jahren in derselben Kielger Wohngemeinschaft, und seine Beziehung mit der Architektin Regnhild steckt in einer Sackgasse. Als die Uni sein Sabbatical genehmigt, geht er zurück in sein Dorf, versorgt die Alten und beginnt, Bilanz zu ziehen.



    Über die Autorin

    Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, arbeitete nach ihrem Studium der Linguistik als NDR-Redakteurin und Autorin für den Hörfunk und Print. Ihr Debüt Altes Land wurde 2015 zum "Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels" gekürt und avancierte zum Jahresbestseller 2015 der Spiegel-Bestsellerliste. Dörte Hansen lebt mit ihrer Familie in Nordfriesland.



    Mein persönliches Fazit

    Schon Hansens erstes Buch "Altes Land" hat mich vollkommen begeistert und über die Ankündigung eines neuen Buches war ich überglücklich. Und ich bin nicht enttäuscht worden, denn "Mittagsstunde" hat mich genauso gefangen genommen.


    Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Familie Feddersen. Der Familie gehört der örtliche Gasthof, welcher ein zentraler und beliebter Mittelpunkt des Ortes ist. Anhand dieser Familie erzählt die Autorin die Geschichte eines ganzen Ortes. Auch wenn die Geschichte in den Erinnerungen der Dorfbewohner noch weiter zurückgeht, so stellt doch die Flugbereinigung und der Besuch der Landvermesser einen zentralen und wichtigen Punkt der Handlung dar. Denn von diesem Punkt an beginnt sich das Dorf zu verändern. Land wird neu verteilt, Grenzen neu gezogen, das Land begradigt, Teiche zugeschüttet, Straßen gezogen, alte Schleichwege geraten in Vergessenheit. Althergebrachtes wird über den Haufen geworfen. Umbruch und Wandel - keine einfache Zeit für die alteingessenen Dorfbewohner, für die die neuen Regelungen nur mäßigen Sinner geben. Ging es denn bisher schlecht?


    Doch nicht nur das Land verändert sich, sondern auch die Leute. Die Alteingesessenen werden älter. Durch Krankheit und Tod lichten sich die Reihen der Bauern, die bei Feddersens sonntags zum Frühschoppen kamen. Auch an Ingwers Großaltern macht die Zeit keinen Halt. Großmutter Ella leidet an Demenz, Sönke ist geistig zwar hellwach, dafür aber körperlich sehr gebrechlich. Sönke lässt sein Leben in Brinkebüll noch einmal Revue passieren und so wird die Geschichte des Dorfes erzählt. Von seiner Tochter Marrett "Ünnergang" mit den Klapperlatschen, dem unehelichen Enkelkind. Von Hochzeiten, rauschenden Festen. Einschulungen, Unglücken. Von Zusammenhalt, Stillschweigen, Glück und Arbeit. Vom erwachsenen werden der Kinder bis zur Veränderung der Landwirtschaft.


    Es ist die ganze Bandbreite eines Dorfes. Und ich, selbst ein Dorfkind, habe mich in vielen Punkten wiedergefunden. Dörte Hansen beschreibt die eingeschworene Gemeinschaft der Dörfler und ihre Eigenarten auf so eindrückliche Art und Weise, dass ich das Gefühl habe mitten in diesem Ort zu sein. Dabei macht sie keine überflüssigen Worte und hochverschnörkelten langen Sätze. Ihre Landschaftsbeschreibungen sind so gut gelungen, dass ich das Rauschen der Bäume und die Schreie der Schwalben schon meinte selbst zu hören. Sie erzählt charmant von Schrullen, Macken und lustigen Anekdoten und einfühlsam von den Schicksalsschlägen, die einzelne Familien ereilen.

    Wie sie über die Demenz von Ella schreibt, ist für mich ein grandioses Meisterstück. Realistisch und so feinfühlig, dass es mir eine Gänsehaut beschert.


    Ich kann ehrlich gesagt gar nicht genug der lobenden Worte für dieses Buch finden, dass mich so berührt hat wie noch keines in diesem Jahr. Eine absolute Leseempfehlung von mir und :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: !

  • Nach „Altes Land“, das mir ausnehmend gut gefiel, las ich nun das zweite Buch von Dörte Hansen, das in derselben Gegend Norddeutschlands spielt, und in dem ähnliche Typen auftreten.


    Diesmal ist der Protagonist ein Mann, fast 50, unverheiratet, Dozent für Archäologie an der Uni Kiel, zuhause in einer WG. Irgendwie erscheint Ingwer immer noch eher als Student denn als Professor. Er ist ein ganz Lieber, einer, der anpackt, der organisiert, der nicht immer weiß, wo es langgeht, der aber seinen Weg jedes Mal findet. Irgendwie. So ein richtig liebevoller, behutsamer, sanfter Mann – einer von der Sorte, mit der man kuschelt, während die Erotik auf der Strecke bleibt.


    Er kümmert sich um seine Großeltern, bei denen er aufwuchs, nachdem seine Mutter mit 17 Jahren nach einem One-Night-Stand mit einem Unbekannten schwanger wurde. Großvater Sönke, dem Dorfwirt, geht’s körperlich nicht gut, Oma Ella leidet an Demenz. Haushalt und Gasthaus versorgt Ingwer gleich mit.

    Wie schön, dass eine Autorin ein Buch schreibt, in dem Sorge, Pflege und Haushalt von einem Mann erledigt werden.

    Vielen Dank, Frau Hansen, das hat mich sehr gefreut.


    Man erkennt die Atmosphäre des Debütromans wieder, auch wenn hier eher ein mitfühlender Humor zum Tragen kommt statt der ironischen Betrachtungen.


    Die Umwälzungen im Ort, das Ende des kleinbäuerlichen Lebens und eine Neuorientierung, die noch kein eindeutiges Ziel verfolgt, kennen Leser, die auf dem Land leben. Das Verschwinden der Familienbetriebe, die Schließung des Tante-Emma-Ladens, die Verbreiterung der Durchfahrtsstraßen, das Abwandern der jüngeren Generation – Brinkebüll ist überall.


    Im Vergleich zu „Altes Land“ wird den Dialogen in Plattdeutsch viel Platz eingeräumt. Weiter südlich beheimatete Leser kommen zwar mit, verstehen aber vielleicht nicht jedes Wort.


    „Mittagsstunde“ entfacht bei mir nicht dieselbe Begeisterung wie Hansens Erstling, dennoch: Ein lesenswertes, ruhiges Buch.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Im Vergleich zu „Altes Land“wird den Dialogen in Plattdeutsch viel Platz eingeräumt

    Danke dir für diese Anmerkung:friends: Auch wenn das Buch mich erst noch interessiert hat, nach diesem Satz, werde ich es sicher nicht mehr lesen. Böse Erfahrungen mit Dialekten aller Art gemacht. Mich stören die dermaßen beim Lesen, dass ich das Lesen kaum genießen kann.

    2024: Bücher: 90/Seiten: 39 866

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

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    Mein Blog: Zauberwelt des Lesens
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    "Das Nicht-Wahrnehmen von Etwas beweist nicht dessen Nicht-Existenz "

    Dalai Lama

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    Lese gerade:

    Scalzi, John - Die Gesellschaft zur Erhaltung der Kaiju-Monster

  • Emili , versuch es einfach mit Dörte Hansens erstem Buch. Sie ist auf alle Fälle eine Autorin, die sich zu entdecken lohnt.

    Danke für die Empfehlung :friends:Habe mir das Buch auf die Merkliste gesetzt.

    2024: Bücher: 90/Seiten: 39 866

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

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    Lese gerade:

    Scalzi, John - Die Gesellschaft zur Erhaltung der Kaiju-Monster

  • Wir haben uns im Lesekreis (meine Bücherwürmer :)) letzt auf dieses Buch geeinigt und ich bin froh darüber. Es war für mich eine Entdeckung, nachdem ich um "Altes Land" bisher eher einen Bogen gemacht hatte. Aber das werde ich auch noch lesen, denn mir hat "Mittagsstunde" sehr gut gefallen. Dörte Hansen kann auf alle Fälle erzählen, Atmosphäre schaffen, Land und Leute zum Leben erwecken, auch wenn gar keine "großartige Geschichte", sondern nur das banale Leben erzählt wird.


    Auch wenn die Geschichte in den Erinnerungen der Dorfbewohner noch weiter zurückgeht, so stellt doch die Flugbereinigung und der Besuch der Landvermesser einen zentralen und wichtigen Punkt der Handlung dar. Denn von diesem Punkt an beginnt sich das Dorf zu verändern.

    Die Geschichte erscheint mir wie ein kunstvoll gewebtes Spinnennetz: die Flurbereinigung als Mittelpunkt, von der aus die Fäden in alle Richtungen laufen und doch alle eng miteinander verwoben sind. Ich finde das toll gelöst. Und dann werden so manche Fäden vom Anfang ganz leise in Nebensätzen gelöst, verknüpft, erklärt - ganz hervorragend. :D


    Es ist die ganze Bandbreite eines Dorfes. Und ich, selbst ein Dorfkind, habe mich in vielen Punkten wiedergefunden.

    Oh ja, ich auch - bin auf einem kleinen Dorf in Hessen aufgewachsen, aber nicht als einer der Ur-Dorfbewohner, sondern als eine aus "der Siedlung", eine Zugezogene. Aber auch das ist ja Teil der Geschichte: die Hinzugekommenen, die "Fremden", die dann im Dorf auftauchen und erst recht das Dorf als solches, die engen Strukturen der Dörfler sichtbar machen. Ich glaube, jeder, der egal wo auf dem Land im Dorf aufwuchs, findet sich hier wieder.

    Dabei macht sie keine überflüssigen Worte und hochverschnörkelten langen Sätze. Ihre Landschaftsbeschreibungen sind so gut gelungen, dass ich das Rauschen der Bäume und die Schreie der Schwalben schon meinte selbst zu hören.

    Die Sprache hat mir sehr gut gefallen, das ist genau die Art von Sprache, die ich liebe. Und auch wenn ich persönlich oft gar nicht so viel mit Landschaftsbeschreibungen anfangen kann, so ging es mir wie Dir und ich fühlte mich nach Nordfriesland versetzt. :love:

    Irgendwie erscheint Ingwer immer noch eher als Student denn als Professor. Erist ein ganz Lieber, einer, der anpackt, der organisiert, der nicht immer weiß, wo es langgeht, der aber seinen Weg jedes Mal findet. Irgendwie. So ein richtig liebevoller, behutsamer, sanfter Mann – einer von der Sorte, mit der man kuschelt, während die Erotik auf der Strecke bleibt.

    Das ist auch mein Bild im Kopf von Ingwer. Manchmal tat er mir ein wenig leid so als ewiger Studi, der in der WG hängen blieb, aber am Ende findet er ja auch wieder seinen Weg weiter - ohne dass es ausführlich erklärt werden muss.

    Man erkennt die Atmosphäre des Debütromans wieder, auch wenn hier eher ein mitfühlender Humor zum Tragen kommt statt der ironischen Betrachtungen.

    Den Debütroman werde ich ganz sicher auch noch lesen, denn jetzt weiß ich, warum so viele davon begeistert sind. Ich habe "Mittagsstunde" wirklich begeistert gelesen, war tief versunken im Dorf, lebte mit all den unterschiedlichen Menschen ihr Dorfleben und hab mich in vielem wiedergefunden. Ein ganz toller Roman :applause:

  • Nordfriesland, wie das Land, so die Leut. Hansen richtet unerbittlich ihr Brennglas ein halbes Jahrhundert auf Dorf, Stadt und Land und Leut. Dass sich das Landleben geändert hat und ändert: Landflucht, technischer Fortschritt, vermeintlich Moderne und „back tot he roots“ ist allen Lesern geläufig, aber das WIE, wie es von Hansen in Wortform gegossen wird ist herausragend. Hansen seziert das Dorf, die Gesellschaft, die Menschen im Stile einer peniblen Gerichtsmedizinerin unbarmherzig und schonungslos, während andere Augen, Nase und Mund verschließen. Keine Spur von Sentimentalität oder nostalgisch romantische Verklärung, fast schmerzt die unfassbare Direktheit. Man hätte vielleicht einen verklärten Rückblick erwartet, aber nichts von dem. In jede Wunde wird nicht einen Finger gesteckt, sondern zwei. Fossilien fürs nächste JT.

    Ich liebe Ingwer, getrocknet als Tee, nicht pur, sondern mit grünem Darjeeling. Ingwer hat etwas von mir - ich bin auch ein Fensterputzerfan. Wenn man Hansen heißt, dann muss man solche Bücher schreiben. Wie Thomas Bernhard. Meinen nächsten Urlaub mache ich in Nordfriesland.

    „The Times They Are A-Changin' „, der neue Header. Elegie und Melancholie bis zum geht nicht mehr. Hansen schildert den Pflegealltag von Ingwer bei Ella und Sönke. Der Leser erschrickt wie treffend und pointiert die Realität beschrieben wird. Jeder Richter müsste Verständnis für einen Pfleger haben, wenn dieser „durchdreht“ – er muss ja nicht gleich zum Killer werden.

    Ingwer (48 Jahre) sinniert während der Ganzkörperpflege von Sönke über sein Leben: Zweieinhalb Jahre in einer Dreier-WG mit Claudius und Ragnhild (50, rat gebende Kämpferin oder herrschende Göttin - sucht’s euch aus). Drei verlorene Seelen - fossilisiert. Ein Fressen für Psychologiestudenten, eine nichtteilnehmende Beobachtung mit „open end.“

    Das „Platt“ hat die zweite Lautverschiebung nicht mitgemacht, die Gesellschaft hat sich verändert, der Wind ist immer noch der gleich, ein literarisches Meisterwerk.

  • Mittagsstunde von Dörte Hansen



    Eigentlich wurde zu diesem Buch schon alles Wissenswerte geschrieben.

    Ich möchte nochmal auf das Plattdeutsche eingehen.

    Anfangs haben mich die Plattdeutschen Sätze sehr irritiert, da sie in indirekter Rede verfasst sind.

    Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wann kommen jetzt eigentliche Dialoge zustande?

    Das hat zuerst bei mir dazu geführt, dass ich mich mit dem Buch nicht identifizieren konnte.

    Doch dann erstand vor meinen Augen ein immer klareres Bild.

    Und die Autorin hilft mit den ersten Sätzen aus, das Platt zu verstehen, was in den darauf folgenden Sätzen immer weniger der Fall ist, was auch nicht stört, da man immer mehr vom Platt versteht.

    Es dauerte eine Weile, bis Dörte Hansen alle Charaktere vorgestellt und in ihrer Eigenart entwickelt hat.

    Aber ab dann konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen.


    Die hin und wieder eingestreute indirekte Rede störte kaum noch und das Buch plätscherte vor sich hin.


    Wie schon von einer anderen Leserin beschrieben, fand ich es geradezu einfühlsam, wie die Autorin es versteht, die Begegnung der pflegenden Person Ingwer Feddersen zum alten Sönke als Pflegefall zu beschreiben. Mit was für einer Selbstverständlichkeit Ingwer diesen Job versieht, und wie man sich dabei der zu pflegenden Person zu verhalten hat, wo man die Aufmerksamkeit hin lenkt, wenn man einen alten Menschen pflegt und was man aus Respekt vor dem Alter einfach auszublenden hat.

    Wenn alle Pfleger/innen so wie Ingwer ihren Job versehen würden, herrschte in Pflegeheimen mehr Menschlichkeit.

    Mir ist schon bewusst, dass es im wahren Leben leider nicht immer so geht, wie im Buch beschrieben, aber eine schöne Vorstellung ist es schon.


    Auf alle Fälle versteht die Autorin alle menschlichen Schicksale und Schwächen und Stärken der Protagonisten aus Brinkebüll miteinander zu verweben.

    Und irgendwann schwimmt man mit den Figuren durch das Buch mit.


    Ich bin ehrlich gespannt auf das erste Buch „Altes Land“, dass ich unbedingt noch lesen will und ihr drittes Buch „Zur See“.


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