Lorenz Wagner: Der Junge, der zu viel fühlte

  • Kurzmeinung

    SirPleasant
    Erhellend; Ein Bericht über einen Hirnforscher, der einen Autisten zu verstehen sucht.
  • Kurzmeinung

    Lavendel
    Erhellende Einsichten in die Welt des Autismus, aber auch in die großen Herausforderungen betroffener Familien.
  • Kurzmeinung

    Pasghetti
    Spannende Informationen zum Thema Autismus; Schreibstil leider nicht so toll, daher der Abzug
  • Autor: Lorenz Wagner

    Titel: Der Junge, der zu viel fühlte

    Seiten: 214

    ISBN: 978-3-95890-229-9

    Verlag: Europaverlag


    Autor:

    Lorenz Wagner wurde 1970 geboren, studierte u.a. Romanistik und schloss ein Wirtschaftsstudium ab. Nach dem Volontariat arbeitete er für die Financial Times Deutschland als Redakteur, derzeit schreibt er für das Magazin der Süddeutschen Zeitung. Bekannt wurde er durch das einzige private Interview mit BMW-Erbin Susanne Klatten. Seine Artikel wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit den Theodor-Wolff-Preis. Zu den meistgelesenen Artikeln wurde die Erzählung der Geschichte des Hirnforschers Henry Makrams und seines autistischen Sohnes, woraus dieses Buch entstand.


    Inhalt:

    Henry Makram zählt zu den bekanntesten Hirnforschern der Welt. Seine Arbeiten gewinnen Preise, die größten Universitäten umwerben ihn, doch dann wird sein Sohn Kai geboren. Schnell wird klar: Kai ist anders, er ist Autist. Henry fühlt sich so hilflos wie alle Eltern. Schmerzhaft wird ihn bewusst, wie wenig seine vielbeachteten Aufsätze ihn zu helfen vermögen und so stürzt sich der Forscher auf die Frage, was Autismus wirklich ist. Erst als sich der Blick des Wissenschaftlers mit dem des Vaters verbindet, gelingt nach Jahren der Durchbruch. Seine Erkenntnisse stürzen um, was wir bisher über Autismus zu wissen glaubten. Lorenz Wagner hat Makram und seinen Sohn begleitet. Beide haben ihm ihre Geschichte erzählt.


    Rezension:

    Wer über Autismus spricht, meint zumeist eine bestimmte Spielart dieses Syndroms. Wir alle kennen Filme wie Mercury Puzzle oder Rain Men. Einigen von uns ist vielleicht die Reportage im Gedächtnis, wo für ein Autist über eine Häuserskyline geflogen wurde und diese hinterher fenstergenau auf einen Bogen Papier zeichnen konnte. Zwischen vollständiger Zurückgezogenheit und Hochintelligenz scheint es nichts anderes zu geben und doch umfasst Autismus unzählige Varianten. Wer einen Autisten kennt, kennt genau einen und so ist es schwierig, ein allgemeingültiges Bild zu bekommen.


    Das gilt für Laien, aber auch für die Wissenschaft. Zumindest seit kurzem. Einem, den das schmerzhaft bewusst wurde, ist der Hirnforscher Henry Makram. Der Journalist Lorenz Wagner hat ihn einige Wochen begleitet und dessen Geschichte aufgeschrieben.


    Henry Makram ist nicht irgendwer, sondern jemand, der sein Fachgebiet versteht. Dort anerkannt, forschte er über Jahre hinweg über Zusammensetzung und Kommunikation zwischen Gehirnzellen und entwickelte sich zu einem gefragten Experten. Seine Aufsätze waren viel beachtet, doch muss selbst eine Koryphäe irgendwann an seine Grenzen stoßen. Das geschah bei Makram jedoch nicht im wissenschaftlichen, sondern im privaten Bereich, als sein Sohn geboren wurde, der sich anders und langsamer entwickelte als gleichaltrige Kinder.


    Schnell ist klar, Kai ist Autist und so stürzte Henry sich zur Problemlösung auch hier in die Forschungen. Was ist Autismus? Wodurch wird es ausgelöst? Wie kann man Betroffenen helfen und zugleich Verständnis der Mitmenschen für eben diese fördern? Ein ums andere Mal stehen der Hirnforscher und sein Team vor einer Lösung, scheitern jedoch immer wieder, bis sie alle bisherigen Erkenntnisse in Frage stellen. Dann gelingt der Durchbruch. Lassen sich die Erkenntnisse auf die Allgemeinheit der Autisten übertragen? Der Rest der wissenschaftlichen Welt ist skeptisch und Kai, seinem Sohn, ist noch immer nicht geholfen.


    Lorenz Wagner hat die Familie Makram über Wochen begleitet, für eine Reportageriehe des SZ-Magazins, aus der dieses Buch entstand. Zunächst skeptisch, da ich selbst mit einer Spielart von Autismus umgehen muss, auch mit anderen Autisten im Alltag zu tun habe, Vorurteile kenne und Verallgemeinerungen skeptisch gegenüber stehe, war ich doch neugierig über die Ansichten Henry Makrams, der eine neue Sichtweise in die noch junge Autismusforschung hinein gebracht hat, die jedoch immer mehr Anhänger gewinnt. Bisher war es so, dass in der Arbeit mit Autisten empfohlen wurde, diese bestimmten Reizen auszusetzen, um sie so in die "normale" Welt zurück zu holen. was aber, wenn genau das falsch ist?


    Wenn man eher die Zurückgezogenheit und Reizarmut fördern sollte, um sich so der Gefühlswelt von Autisten anzunähern? Was, wenn Autisten nicht gefühlsarm wären, sondern sich zurückzogen, weil sie in einer reizüberfluteten Welt zu viel fühlen mussten? Waren dann nicht alle bisherigen Behandlungsansätze falsch? Wie genau muss sich unser Bild von Autismus ändern, damit Betroffene als vollwertig angesehen werden? Muss sich die Umgebung nicht den Autisten anpassen, nicht umgekehrt?


    Der Journalist, der den Forscher und dessen Familie begleitet hat, entwarf das interessante Portrait eben dieser, welches zugleich den jüngeren Wandel in der Autismusforschung wiederspiegelt. Entstanden ist ein hoch interessantes Buch, welches die neuen Ansätze, die langsam in Betrachtung der Autisten Fuß fassen, Laien und Interessierten, sowie Angehörigen von Betroffenen, verständlich näher bringt. Tatsächlich kann ich nicht wenige Erkenntnisse Makrams auf mich übertragen, die aus den Betrachtungen seines Sohnes Kai und aus seinen Forschungen heraus entstanden. Die neuen Ansätze werden in Zukunft helfen, einen freundlicheren und verständnisvolleren Umgang mit Autisten zu fördern, alleine dies ist schon ein großer Verdienst Makrams für die Forschung, denWagner hier hervorhebt.


    Es geht jedoch noch weiter. Der Journalist beschreibt in verständlicher und einfacher Sprache, Laien zugänglich, in wie weit Henrys Arbeiten dazu beigetragen haben, Aktivitäten des menschlichen Gehirns zu entschlüsseln, wobei man mit den Forschungen noch lange nicht am Ende ist, und warum Tierversuche bis zu einem gewissen Punkt wichtig waren, um heute vielfach ohne Tierversuche auszukommen. Diese kleinen Exkurse, die alle aus der beschäftigung mit Autismus heraus entstanden, zeigen zugleich den Wandel der medizinischen Wissenschaft und der Wirkung, die neue Erkenntnisse haben können.


    In sofern ist dieses Portrait eben nicht nur Betroffenheitsbericht und Familiengeschichte, sondern zeigt auch den Wandel in der jüngeren Medizingeschichte. So einfach und verständnisvoll, dabei nicht einseitig und sehr aufgeschlossen betrachtet, liest man dies noch viel zu selten, weshalb jeden Interessierten die Lektüre zu empfehlen ist. Manche Erläuterungen zwar, hätte ich mir persönlich etwas ausführlicher gewünscht, doch auch so dürfte Wagners feinfühlige Erzählweise und Makrams differenzierte Autismusforschung das Bild verändern, welches wir von Autisten haben. Dies ist beider Verdienst.

  • Danke für die ausführliche Rezension! Da ich mich selbst seit einiger Zeit mit dem Thema beschäftige und es auch in manchen TV-Serien gut umgesetzt fand (Beispiele House MD und Hannibal), ist mir das Buch schon ein paar Mal über den Weg gelaufen.


    Bisher war ich Büchern mit diesem Thema gegenüber skeptisch, da man häufig entweder "Wunderkinder" im Asperger/Autisten-Spektrum erwartet oder eben jene, deren Gefühle vermeintlich verflacht sind. Wie grausam muss da die Reiztherapie gewesen sein! Ertappt sich hin und wieder nicht jeder dabei, wie einem die Flut an Eindrücken von Umwelt und Medien zu viel wird und man am liebsten einen Schalter umlegen möchte, um dem nicht mehr ausgesetzt zu sein? Es ist gut, dass man heute einen differenzierten Blickwinkel hat. Das Buch leistet dazu offenbar einen guten Beitrag. Ab auf die WL damit.

  • Klappentext:

    Als Henry Markram ein autistisches Kind bekam, zählte er zu den berühmtesten Hirnforschern der Welt. Er arbeitete am Weizmann-Institut und am Max-Planck-Institut, gewann zahlreiche Forschungspreise und hielt Vorträge auf der ganzen Welt. Seine Methode, die misst, wie Zellen sich vernetzen, wurde internationaler Standard. Doch dann kam Kai. Und Fragen und Sorgen lagen auf einmal im Kinderzimmer, zwischen Teddybär und Mondlampe. Markrams geachtete Aufsätze vermochten seinem Sohn weniger zu helfen als das Liederbuch, aus dem er ihm abends vorsang. Und so stürzte sich der Hirnforscher auf die Frage, was Autismus wirklich ist. Nach Jahren gelang ihm der Durchbruch. Und seine Antworten stellten alles auf den Kopf, was man über Autismus zu wissen glaubte.


    Autor:

    LORENZ WAGNER gehört zu den angesehensten Journalisten Deutschlands. Bekannt wurde er mit einem Langzeitporträt der BMW-Erbin Susanne Klatten, deren Leben zuvor ein großes Geheimnis war. Er schrieb aufwändige Nahaufnahmen von Persönlichkeiten wie Dieter Zetsche, Melinda Gates oder Jeff Bezos, dem reichsten Mann der Welt. Seine Arbeiten als Reporter des Süddeutsche Zeitung Magazins und Chefreporter der Financial Times Deutschland wurden vielfach ausgezeichnet, 2018 mit dem Theodor-Wolff-Preis, Herbert-Quandt-Medienpreis und Deutschen Journalistenpreis. Keine seiner preisgekrönten Geschichten hat die Leser so bewegt wie die von Henry und Kai Markram. In kurzer Zeit stieg sie zu den meistgelesenen Artikeln des SZ-Magazins auf und wurde viele Tausende Male geteilt und empfohlen. Wagner begleitete die Familie Markram nochmals über Monate. Daraus entstand dieses ungewöhnliche Buch.


    Allgemeines:

    Erscheinungsdatum: 21. September 2018

    Seitenanzahl: 216

    Verlag: Europa


    Eigene Meinung:

    Mir fällt es ziemlich schwer dieses Buch zu bewerten. Ich lese sehr gerne Geschichten, Bücher über Neurologie und Medizin im Allgemeinen, ich interessiere mich für Pädagogik und auch die Bereiche der Heilerziehungspflege sind mir nicht fremd. Dieses Buch vereint alles und gibt dem Ganzen durch Kai eine persönliche Note.

    Was mich tatsächlich verwirrt hatte, beziehungsweise mir nicht klar war, das Buch wird nicht aus Sicht des Vaters erzählt, was ich irgendwie angenommen hatte. Sondern der Autor begleitet die Familie abschnittsweise und erzählt nach, gespickt mit Interviews von Vater, Mutter und anderen.

    Das macht mir das Lesen etwas schwerer, irgendwie fand ich mich in dem Stil nicht ganz wieder.

    Es werden zwar interessante Informationen kundgegeben, aber es las sich nicht wie aus einem Guss, weil ich in Gedanken noch bei der Situation vorher bei Kai war und dann gar nicht mit den Informationen arbeiten konnte, die ich bekam, trotz dessen, dass sie auf für Laien verständlich formuliert waren.

    Aber die große Stärke des Buches war für mich wirklich Kai und das fand ich erschreckend. Ich fand es grausam zu lesen, wie es Kai gehen muss, auch am Ende. Welche Selbstbeherrschung es ihn kosten muss, sich so zu verhalten, ohne Ausbruch seinerseits. Ich denke daher, dass dieses Buch trotz der etwas Störenden Dinge wichtig ist. Es sensibilisiert einen nochmals im Umgang miteinander, ob nun mit Menschen mit oder ohne Besonderheiten.


    Fazit: Ein aufwühlendes Buch, das leider durch die in meinen Augen unglücklich gelöste Schreibweise leidet. Mich aber dennoch zum Nachdenken angeregt hat. :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Inhalt

    Anat und Henry Markram bekommen einen Sohn, der die Geduld seiner Umgebung auf eine harte Probe stellen wird. Kai braucht eine strenge Routine, von der nicht abgewichen werden darf. Er reagiert höchst empfindlich auf äußere Reize, spricht für sein Alter zu schlecht und wirkt trotz großen Bewegungsdrangs motorisch ungeschickt. Schon frühzeitig beobachtet seine Mutter, dass Kai anders in die Welt blickt als ihre anderen Kinder, er scheint nur aus dem Augenwinkel zu sehen. Wie vor ihnen viele andere Eltern behinderter Kinder auch fühlen die Markrams sich von den Ärzten nicht ernst genommen. Sie werden beruhigt und keiner der Experten beschäftigt sich mit dem Gesamtbild aus Kais ungewöhnlichen Verhaltenszügen. Doch im Unterschied zu jenen Eltern ist Henry Markram selbst Neurowissenschaftler, den das Schicksal seines Sohnes zu verstärkter Forschungstätigkeit antreibt. Auch wenn seine Eltern auf ihrer Farm in Südafrika nicht nachvollziehen konnten, warum ihr Sohn forschen will statt Kranke zu heilen, führt Markrams Tätigkeit ihn von den USA über Israel schließlich nach Lausanne in der Schweiz. Für ein Kind mit autistischen Zügen wie Kai muss das ständige Neubeginnen in wechselnder Umgebung und immer wieder anderen Sprachen Chaos pur gewesen sein. Anat Markram macht dem schließlich ein Ende und geht mit Kai nach Israel, wo von der Weltöffentlichkeit bisher wenig beachtet, die Inklusion Behinderter erstaunlich weit fortgeschritten ist. Henry stürzt sich indes in seine Forschung und geht eine zweite Ehe ein, in der zwei weitere Töchter geboren werden.


    Als Laie auf dem Gebiet und Mutter mit Interesse an der kindlichen Entwicklung finde ich, dass der Autor – oder der porträtierte Wissenschaftler? – schon zu Beginn des Buches blinde Flecken zeigen, die sie nicht oder erst spät untersuchen. Als Kai noch im Kindergartenalter ist, reist die Familie mit den Kindern in mehrere asiatische Länder. Dort kommt es u. a. zu gefährlichen Szenen durch Kais Impulsivität, es wird jedoch Ende der 90er bereits deutlich, dass Kai in anderer Umgebung und Kultur erstaunlich gut zurechtkommen kann. Hier hätte sich doch jedes Elternpaar gefragt, was machen die Thailänder anders als wir und wie weit sind wir Eltern und unsere Kultur Teil von Kais Problemen. Hermann Schulz hat diesen Zusammenhang bereits vor 20 Jahren in seinem leicht lesbaren Roman "Iskender" dargestellt. Apropos Elternpaar, die Dominanz des Wissenschaftlervaters hätte Wagner in seiner Betrachtung durchaus kritischer hinterfragen dürfen.


    Zu Beginn des Buches ist bereits klar, dass Kais Eltern aus verschiedenen Kulturen stammen und in mehreren Ländern leben. Dass Wagner Henry Markrams besondere Kindheit auf einer abgelegenen Farm in Südafrika erst am Ende des Buches thematisiert, wundert mich jedoch. Die Entdeckung autistischer Züge bei Eltern und Angehörigen autistischer Patienten ist ja nun wirklich nicht neu. Wurde Markram sich dessen wirklich erst 13 Jahre nach Kais Geburt bewusst – oder setzt Wagner die Entdeckung aus dramaturgischen Gründen erst spät ein?


    Fazit

    Im Reportage-Stil schreibt Lorenz Wagner eine Art leicht lesbare Homestory eines weltbekannten Neurowissenschaftlers, eine Geschichte, die sich nicht immer entscheiden kann, ob sie dem Wissenschaftlervater huldigt oder über den Sohn Kai schreibt. Wagner kann zweifellos populärwissenschaftlich schreiben. Seine Passagen über das menschliche Gehirn finde ich überraschend gelungen, gerade weil mich erzählende Sachtexte sonst selten überzeugen können. Zum Thema Autismus bringt sein Buch kaum Neues; da seit Silbermans "Geniale Störung" Irrwege der Autismus-Forschung breiten Leserschichten bekannt sind. Hier hätte mich eine Vertiefung interessiert, welche Details aus der amerikanischen Autismus-Community Markram bekannt waren und welche nicht. Hoch anzurechnen ist Lorenz Wagner allerdings, dass er die Irrwege verdeutlicht, die durch zu frühe Diagnosen und Zuschreibungen entstehen, bevor die Probleme eines besonderen Kinds umfassend beobachtet und dokumentiert sind.


    (27.11.2018)


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