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512 Seiten
Rowohlt Buchverlag
24. Juli 2018
Klappentext (Quelle: Amazon)
Sie ist eine der bekanntesten Patientinnen
des 20. Jahrhunderts: Dora, das jüdische Mädchen mit der 'petite hystérie' und
einer äußerst verschlungenen Familiengeschichte. Dora, die kaum achtzehn war,
als sie es wagte, ihre Kur bei Sigmund Freud vorzeitig zu beenden, und ihn, wie
er es fasste, "um die Befriedigung [brachte], sie weit gründlicher von
ihrem Leiden zu befreien."
Für Katharina Adler war die widerständige Patientin lange nicht mehr als eine
Familien-Anekdote: ihre Urgroßmutter, die - nicht unter ihrem wirklichen Namen
und auch nicht für eine besondere Leistung - zu Nachruhm kam, und dabei mal zum
Opfer, mal zur Heldin stilisiert wurde. „Nach und nach wuchs in mir der Wunsch,
dieses Bild von ihr zu ergänzen, ihm aber auch etwas entgegenzusetzen. Ich
wollte eine Frau zeigen, die man nicht als lebenslängliche Hysterikerin abtun
oder pauschal als Heldin instrumentalisieren kann. Eine Frau mit vielen Stärken
und auch einigen Schwächen, die trotz aller Widrigkeiten bis zuletzt um ein
selbstbestimmtes Leben ringt.“
Von ihr, von 'Ida', handelt dieser mitreißende Roman. Mit großem
gestalterischem Weitblick und scharfem Auge für jedes Detail erzählt Katharina
Adler die Geschichte einer Frau zwischen Welt- und Nervenkriegen, Exil und
Erinnerung. Eine Geschichte, in die sich ein halbes Jahrhundert mit seinen
Verwerfungen eingeschrieben hat. Ida ist ein Plädoyer für die Wahrheit der
Empfindung und die Vielfalt ihrer Versionen. Der Roman eines weitreichenden
Lebens, das – mit Freuds Praxistür im Rücken – erst seinen Anfang nahm.
Die Autorin (Quelle: Rowohlt Verlag)
Katharina Adler wurde 1980 in München geboren, wo sie nach Stationen in Leipzig und Berlin heute wieder lebt. Für das Manuskript ihres ersten Romans, 'Ida', erhielt sie das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und wurde 2015 für den Döblinpreis nominiert.
Mein Leseeindruck:
Die Autorin unternimmt den Versuch, das Leben ihrer Urgroßmutter Ida Bauer-Adler nachzuzeichnen. Die Quellenlage ist eher mager.
Den Mittelpunkt bildet Freuds Dokumentation „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“, um die herum die Autorin ihre vermuteten Ereignisse anordnet. Diese Situation spiegelt das Titelbild sehr schön wieder: es zeigt einen nur unscharfen Frauenkopf.
Wir haben hier also eine Mischform zwischen Biografie und Roman.
Ida Bauer stammt aus dem jüdischen Großbürgertum Wiens, und so wird der Leser mitgenommen in die k.u.k.-Zeit und in das fin de siecle mit seinen krisenhaften Umbruchsituationen. Idas Bruder Otto engagiert sich, trotz oder wegen seiner Herkunft, für die Sozialdemokratie und gilt als Begründer des sog. Austromarxismus – und so zeichnet das Buch nicht nur die Geschichte der Familie nach, sondern entwirft zugleich ein Sittengemälde, ein Bild einer Zeit und einer Gesellschaft, die im I. Weltkrieg und den darauffolgenden Wirren untergehen wird.
Ida wird zu Beginn des Romans als ausgesprochen unsympathische ältere Person vorgestellt: missmutig, hochnäsig, fordernd, kapriziös, eifersüchtig auf die Schwiegertochter – sie ist ein ausgesprochener Widerborst. In wechselnden Zeitebenen erfahren wir dann ihre Geschichte. Sie wird als junges Mädchen wegen psychosomatischer Beschwerden zu Freud gebracht, und es ist direkt erfrischend, wie selbstbewusst die junge, damals schon widerborstige Ida Freuds Therapien ablehnt und sich seinen sexuell orientierten, paternalistischen Deutungsversuchen entzieht. So deutet Freud z. B. Idas kleine Tasche „mit seidigem Innenfutter“ als Genital, und Ida setzt sich selbstbewusst zur Wehr. „Ob Schachtel oder Schüssel, alles wurde ihm zum Genital.“
Tatsache ist allerdings, dass Ida schon als Kind unterschiedlichen Missbräuchen ausgesetzt war: ihr Vater verwechselt sie im Fieberwahn mit ihrer Mutter, ein Geschäftsfreund belästigt sie, die alleinige Pflege des kranken, erblindenden Vaters wird dem 12jährigen Mädchen aufgebürdet. Dazu kommt die recht dekadente Familiensituation: der Vater an Syphilis erkrankt, Ehebruch rundherum, Kindsmissbrauch und so fort.
Idas Familie verarmt nach dem Krieg, sie hält sich mit einem Bridge-Club über Wasser, erlebt den Anschluss Österreichs und kann sich abenteuerlich in die USA retten.
Wie die Zeitebenen wechseln auch die Erzählperspektiven zwischen der von Ida, ihrem Bruder Otto und ihrem Sohn Karl. Großen Raum nehmen die politischen Ereignisse um Idas geliebten Bruder Otto ein. Gelegentlich wird die Perspektive unglaubwürdig – z. B. wenn aus der Sicht des Kindes das Gespräch der Eltern über die kaiserliche Verzichterklärung und die drohenden Enteignungen wiedergegeben wird, was wohl den Horizont eines Kindes übersteigt.
Auch manche Parallelitäten wirken sehr aufgesetzt: so wird während Idas Therapiesitzung ständig der Blick auf den benachbarten Metzger gelenkt, der mit rohem Fleisch und gerupften Hühner agiert.
Insgesamt fragt man sich nach der Lektüre, worum es eigentlich geht. Ida und auch die anderen Figuren, auch Freud!, bleiben eher eindimensional – also kein Entwicklungsroman. Ein historischer Roman? Vielleicht „nur“ eine Spurensuche? Also ein Familienroman? Dafür spräche die Widmung der Autorin.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Mein Problem besteht nicht darin, diesen Roman in ein Genre zu pressen. Mein Problem ist die Frage nach dem Schwerpunkt.
Und den habe ich einfach vermisst.
Fazit: ein durchaus kurzweiliger Roman, der den Leser in eine Zeit entführt, in der Altes untergeht und Neues noch gesucht wird, und in der die psychisch belastete Ida ihren
Weg geht.