Roberto Saviano und Giovanni di Lorenzo - Erklär mir Italien! Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?

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    Verlag Kiepenheuer & Witsch

    erschienen 9.11.2017

    Gebundene Ausgabe 272 Seiten


    Klappentext (Quelle: amazon)


    Italien – ein Land zwischen Wunder und Wahnsinn
    Sehnsuchtsort der Deutschen, Sorgenkind Europas: Wie kann ein Land bloß so schön und doch so verdorben sein? Zwei Männer, die Italien eng verbunden sind, versuchen im Gespräch dieses Rätsel zu ergründen: Roberto Saviano, der nicht nur die Machenschaften der Mafia durchleuchtet, sondern sich auch als herausragender Interpret der italienischen Politik und Zeit-geschichte erweist, und Giovanni di Lorenzo, der mit der leidvollen Leidenschaft eines Weggezogenen auf seine frühere und heute noch zeitweilige Heimat schaut.
    Von der Herzlichkeit der Italiener, hinter der oft nichts anderes steckt als Schlitzohrigkeit, über die Frömmigkeit der Mafiosi bis zu den Helden von Lampedusa – Giovanni di Lorenzo und dem fantastischen Erzähler Roberto Saviano gelingt gemeinsam das Porträt eines Landes zwischen Wunder und Wahnsinn. Es wird klar, warum die Neapolitaner dem Königreich nachweinen, warum sich mancher Italiener dem Maghreb stärker verbunden fühlt als Berlin oder Paris und warum die einzige Revolution dieser niemals vollendeten Nation die massenhafte Auswanderung gewesen ist. Bei all dem erlaubt Roberto Saviano auch einen ganz persönlichen Blick auf seine Kindheit zwischen Schießereien und Schopenhauer – und er offenbart, wie sehr ihn das Leben unter Polizeischutz belastet, zu dem er gezwungen ist.


    Die Autoren (Quelle: amazon, wikipedia, SZ)


    Roberto Saviano, geboren am 22. 9. 1979 in Neapel, beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Problem der Wirtschaftskriminalität in Italien. 2006 veröffentlichte er seinen Roman Gomorra – Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra. Der Titel spielt auf das biblische Gomorrha und auf die wirtschaftskriminellen Clans der Camorra an. Das Buch – eine Mischform zwischen Roman und Reportage - machte seinen Autor berühmt und brachte ihm mehrere Auszeichnungen ein. Es wurde in mehr als 50 Ländern übersetzt, weltweit wurden mehr als 10 Millionen Exemplare verkauft.

    Detailliert schildert der Autor hier die Praktiken der organisierten Wirtschaftskriminalität und ihre Vernetzung mit politischen und gesellschaftlichen Strukturen und Organisationen.

    Im deutschsprachigen Raum erschien das Buch unter dem Titel Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra. Nach dem Buch entstand 2008 der Spielfilm Gomorrha und 2014 eine gleichnamige Fernsehserie.


    Seit dem Welterfolg seines Buches steht Saviano auf den Todeslisten der Mafia/Camorra/ `Ndrangheta und steht rund um die Uhr unter Polizeischutz – ein Zustand, den er nach eigener Aussage als sehr quälend empfindet. Vor einigen Wochen kritisierte Saviano in einem Artikel im Guardian die italienische Flüchtlingspolitik: Italien führe einen Krieg gegen die Migranten. Daraufhin drohte der italienische Innenminister Salvini (Lega Nord), Saviano diesen Polizeischutz zu entziehen, worauf Saviano den Minister als „Minister der Unterwelt“ bezeichnete, der die „Sprache eines Mafioso“ spreche.


    Giovanni di Lorenzo, geboren am 9.3. in Stockholm, ist Deutsch-Italiener und lebt in Hamburg. Er ist Chefredakteur von DIE ZEIT, Mitherausgeber des Berliner Tagesspiegels und Moderator der Talkshow 3 nach 9 bei Radio Bremen.


    Mein Leseeindruck:


    Italien, das Land, wo die Zitronen blüh’n, das Sehnsuchtsland der Deutschen – hier wird es demaskiert.


    Saviano und di Lorenzo unterhalten sich: di Lorenzo führt (führt??) das Gespräch, er fragt, und Saviano antwortet. In einzelnen Gesprächskapiteln – die Gespräche erstreckten sich über zwei Jahre - streifen die beiden verschiedene Lebensbereiche: das Essen, die Bedeutung der Familie, die italienischen Mütter, die „wahre Bestien“ sind, und natürlich und in der Hauptsache über die Mafia. Das Gespräch beachtet dabei vor allem den Süden des Landes, der wohl auch uns Deutschen unverständlicher als der eher verwandte Norden ist.


    Der Leser erfährt, dass nach dem Mord der Rufmord folgt, um das Opfer im Nachhinein zu desavouieren und den Mord quasi als gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Wir lesen von Korruption, von blutrünstigen Grausamkeiten, von der Rolle der Kirche, die mit dem Kommunismus zusammengehen kann, von chaotischen Zuständen in der Verwaltung, von Anarchie, wir lesen über „Fluch und Segen eines Weltbestsellers“, der Saviano zu einem Leben im Versteck zwingt. Über Reformstaus, politisches Versagen, Rache-Morde an Kindern, die italienische Besonderheit namens Berlusconi („Berlusconi konnte sich fast alles erlauben“) und Trump als Epigonen Berlusconis, über gekaufte Wählerstimmen, skandalöse Steuerpraktiken, Doppelmoral, Babykiller und Gesetzesverdrehungen, über den besonderen Umgang Italiens mit seiner schwarz-braunen Vergangenheit, und und und: Saviano breitet seine internen Kenntnisse bereitwillig und kenntnisreich aus. Eines ist den Kenntnissen aber gemeinsam: sie beziehen sich fast ausnahmslos auf den Süden des Landes, und der Leser erkennt, dass es das Italien des Südens ist, in dem der Staat offenbar kein Bein auf den Boden bekommt. Ja, und er lästert auch bisschen über den Verkaufserfolg der Elena Ferrante ab.


    Saviano zeichnet ein trostloses und düsteres Bild seines Landes.

    Italien habe es „nicht verdient, dass man sich politisch engagiert". Italien sei keine Nation, zu groß seien die Diskrepanzen der einzelnen Regionen; lediglich bei Fußballweltmeisterschaften und bei antieuropäischen Aktionen sei so etwas wie Nationalgeist zu spüren.

    Diesen Pessimismus versteht man, wenn man Savianos Biografie kennt. Ich verstehe aber nicht, dass sein Interviewpartner di Lorenzo nicht auch andere Seiten in das Gespräch holt. Ganz kurz nur klingen die Seiten an, auf die Italien gerade im Zusammenhang mit der Mafia stolz sein könnte: die erfolgreichen zivilen Anti-Mafia-Bewegungen und das Wirken couragierter Staatsanwälte wären einen Hinweis wert gewesen. Ganz zum Schluss erst fallen di Lorenzo andere positive Dinge ein: Erdbebenhilfe und der Umgang der Bevölkerung mit den Migranten. Na gut.


    Das Gespräch läuft in einem leichten und freundschaftlichen Plauderton. Aber ich finde es sehr schade, dass sich di Lorenzo damit zufrieden gibt und sich immer wieder auf die Plauderei zurückzieht, statt eine Diskussion zu beginnen – oder wenigstens nachzuhaken. So plädiert Saviano z. B. dafür, politische Ämter nicht per Wahl, sondern durch ein Losverfahren zu vergeben. Di Lorenzo nimmt es verwundert zur Kenntnis – und das war’s dann auch. Oder Savianos Gedanke, mit Hilfe der Migranten Italiens Süden wieder zu bewirtschaften. Da kann man doch mal nachfragen und sich auch ein bisschen streiten!


    „Erklär mir Italien!“

    Habe ich es jetzt verstanden?

    Hm.

    Ich weiß immer noch nicht, wieso ich auf meine Steuerrückzahlung biblische 7 Jahre warten musste, aber das treibt mich nicht zur „Verzweiflung“.


    Trotzdem: Ein packendes Buch.

    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:




    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).