ZitatUnzufrieden mit dem kapitalistisch-feudalistischen Gesellschaftssystem des Planeten Urras beschlossen die nach ihrer philosophischen Führerin genannten Odonier den unwirtlichen, bisher nur als Ressourcenlieferanten dienenden Mond Anarres zu besiedeln. Dort soll eine neue Form des Zusammenlebens auf der Basis der absoluten Gleichberechtigung in Bezug auf Status und Besitz gegründet werden. Jeder Kontakt mit der Herkunftswelt wird konsequent abgelehnt. Nach 170 Jahren fast vollständiger Isolation macht sich der geniale Temporalphysiker Shevek als erster Odonier auf den Weg nach Urras, um die Grenzen der Kommunikation zwischen den Planeten, sogar zwischen allen von Menschen besiedelten Welten, einzureißen.
Original: The Dispossessed, erschienen 1974
deutsche Übersetzungen:
- Planet der Habenichtse, übersetzt von Gisela Stege, 1976
- Planet der Habenichtse, korrigierte Übersetzung von Hiltrud Bontrup,1999
- Die Enteigneten. Eine ambivalente Utopie, neu übersetzt von Joachim Körber, 2006
- Freie Geister, neu übersetzt von Karen Nölle, 2017
(ich kenne nicht alle Übersetzungen, aber wenn man mich fragt: im Zweifel immer Körber)
Ursula K. Le Guins bekannter Roman kann seine Entstehungszeit nicht verleugnen: Die Geschichte ist unbestritten ein Produkt des Kalten Krieges. Ebenso unbestritten ist sie aber auch heute noch relevant. Das Buch wäre als Schullektüre nicht ganz fehl am Platz, insbesondere in der heutigen Zeit, die so damit beschäftigt ist, Mauern aufzubauen, statt sie einzureißen. Mauern sind eine wichtige Metapher in diesem Roman.
Am erfolgreichsten ist The Dispossessed als Gedankenexperiment, als mögliche Antwort auf die Frage, wie und unter welchen Bedingungen Anarchismus – oder genauer: Anarchosyndikalismus - funktionieren könnte (in einem isolierten System mit begrenzten, aber nicht zu begrenzten Ressourcen). Le Guin hat sich spürbar viele Gedanken über diese Frage gemacht. Im Englischen trägt der Roman den Untertitel „An Ambiguous Utopia“, "eine ambivalente Utopie" heißt es in der Körber-Version - und genau diese Ambivalenz ist der Kern der Geschichte: Le Guin stellt den Anarchosyndikalismus dem gängigen Kapitalismus, aber auch dem Sozialismus gegenüber; sie hat eindeutig ihre Präferenzen, unterlässt es jedoch nicht, auch die Nachteile ihrer anarchistischen Utopie zu betrachten. Dabei ist das Buch wesentlich weniger didaktisch, als ich zu Beginn befürchtet hatte. Dennoch hat mich die Geschichte etwas unbefriedigt zurückgelassen. Zum Teil liegt das daran, dass ich Le Guins Gedankengängen einfach zu sehr zustimme – ich bevorzuge Bücher, die mich zwingen, auch mal in neuen Bahnen zu denken. Das ist jetzt kaum Le Guins Schuld, hat die Lektüre für mich aber etwas langweilig gemacht.
Weniger erfolgreich ist The Dispossessed außerdem als unterhaltsame Science Fiction-Geschichte. Selbst für Le Guins Standard ist der Stil trocken, staubtrocken. Ich habe Analysen gelesen, die im trockenen Stil einen Spiegel von Sheveks Persönlichkeit und der ebenfalls sehr staubigen Welt Anarres sehen; mag ja sein, nur liest es sich dadurch auch nicht angenehmer. Lange Passagen widmen sich zudem Sheveks Arbeit und seiner Suche nach der einen, Raum und Zeit vereinenden physikalischen Theorie. Ich musste mich wirklich arg anstrengen, diese Passagen nicht zu überblättern.
Das Buch ist keineswegs schlecht geschrieben, immerhin reden wir hier über Le Guin. Es gibt wundervolle, sogar humorvolle Passagen. Aber sie erzählt ihre Geschichte aus der Draufsicht; als Leser ist man nicht mitten unter den Personen und erlebt die Geschichte mit ihnen mit, sondern lauscht, mit einigem Abstand, einem Bericht über die Ereignisse. Ich habe schlicht die Details vermisst. Etwa, wenn es um so etwas Alltägliches wie das Essen geht: Le Guin erwähnt die opulenten Partys, die in der Stadt A-Io auf Urras gefeiert werden, die Massen an ausgefallenen Speisen; aber nie beschreibt sie, was es eigentlich zu essen gibt. Ich habe auch eine Möglichkeit zur Einfühlung vermisst. Hin und wieder gibt Le Guin dem Leser die Chance, ihren Figuren nahe zu kommen. Aber in den emotional wichtigsten Momenten wählt sie wieder die Distanz. Das kann man so machen, es ist aber keine Erzähltechnik, die ich schätze. („indirect reportage“ hat Delany das in seinem langen Essay „How to Read The Dispossessed“ genannt und fand das auch nicht sehr begeisternd; in seiner eigenen Antwort auf Le Guins Roman, Triton, geht er dann auch den komplett gegensätzlichen Weg und zwingt den Leser dazu, immer im Kopf des Protagonisten zu bleiben.)
Fazit: Ein wichtiges Buch, auch heute noch, aber nicht unbedingt der unterhaltsamste Science Fiction-Roman. Ich denke, wenn ich das Buch 20, 25 Jahre früher gelesen hätte, als ich noch leichter zu beeindrucken war, hätte es mir besser gefallen. So bleiben: viel Meinungsbestätigung und etwas Langeweile.