Ein vielleicht subjektiver Eindruck: Seit längerem schon fällt mir auf, dass Lesen für viele nicht das ist, was es für mich (und hoffentlich viele andere) bedeutet. Nämlich sich bewusst Zeit zu nehmen für einen Roman, auf den man sich so richtig freut. Dessen Erscheinungsdatum man heiß erwartet oder ihn aufgeregt erstanden hat und bei dem man weiß: ich will in die Geschichte eintauchen, mir Gedanken dazu machen, mitfiebern und mir kleine Rituale einrichten (Tasse Kaffee, Kuscheldecke, Schnittchen machen), um das Buch so richtig zu genießen.
Vor allem in Lesergruppen der sozialen Medien wird gewetteifert, wer am meisten Bücher im Monat gelesen hat, und es scheint mir irgendwie, dass dabei die erzählte Geschichte auf der Strecke bleibt und man den Inhalt sofort nach der Lektüre wieder vergisst, weil ja schon die nächste subbt. Wen kümmert es noch, von welchem Thema Monats-Buch Nr. 1 gehandelt hat, wenn man sich bis Monatsbuch Nr. X durchackern muss? Und mir kommt es so vor, als leide unter dem neuen Leseverhalten auch die Qualität der Romane. Es gibt kaum mehr originelle Geschichten neueren Datums, und die Autoren / Autorinnen hauen eben das raus, was gerade von der Masse konsumiert wird (weil man freilich seine Bücher auch verkaufen will). Natürlich gibt es Ausnahmen, doch von denen habe ich bisher nicht viel gesehen.
Früher hatte man Lieblingsautoren, die durch Stil und Sprache einzigartig waren (Beispiel Kafka, Charles Bukowski), heute - so scheint es mir - stößt eine markante Sprache eher ab oder wird nicht verstanden. Ich habe keine Ahnung, ob das auch mit dem Alter zusammenhängt, doch in den Gruppen, die ich beobachte, sind es nicht nur junge Leser, die sich an Lesechallenges und Lesestatistiken aufhängen, als gäbe es einen Pokal dafür. Bücher mit mehr als 500 Seiten werden schon als anstrengend empfunden, weil man länger braucht als die eingeplanten drei Tage pro Buch. Kann man da überhaupt noch von Lesen als Hobby reden oder wird es nicht eher Arbeit?
Das Thema klingt vermutlich provokativ, und ich möchte damit niemandem zunahe treten, es ist nur meine persönliche Einschätzung, von der ich glaube, dass sie im "Teile alles und sammle möglichst viele Likes"-Zeitalter nicht so selten ist. Welche ist eure Beobachtung in punkto Leseverhalten? Und seid ihr eher der Genuss-Leser oder begeisterter Challenge-Teilnehmer? Wie würdet ihr euer eigenes Leseverhalten definieren? Habt gern den Mut, mir zu widersprechen...