Über die Autorin:
Annie Ernaux (*01.09.1940) ist eine französische Schriftstellerin. Ihr Werk ist im Wesentlichen autobiografisch. Aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen, konnte sie das Lycee besuchen, studieren und arbeitete ihr ganzes Leben als Lehrerin. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1974. Sie wurde vielfach für ihr Werk ausgezeichnet.
Buchinhalt:
»Das Schwarz-Weiß-Foto eines Mädchens in dunklem Badeanzug auf einem Kieselstrand. Im Hintergrund eine Steilküste. Sie sitzt auf einem flachen Stein, die kräftigen Beine ausgestreckt, die Arme auf den Felsen gestützt, die Augen geschlossen, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Sie lächelt. Ein dicker brauner Zopf fällt ihr über die Schulter, der andere verschwindet hinter ihrem Rücken. Offensichtlich imitiert sie die Pose der Filmstars aus Cinémonde oder aus der Werbung für Ambre-Solaire-Sonnenmilch und will so ihrem demütigend unreifen Kleinmädchenkörper entfliehen. Auf ihren Schenkeln und Oberarmen zeichnet sich der helle Abdruck eines Kleides ab, ein Hinweis darauf, dass ein Ausflug ans Meer für dieses Kind eine Seltenheit ist. Der Strand ist menschenleer. Auf der Rückseite: August 1949, Sotteville-sur-Mer.«
Kindheit in der Nachkriegszeit, Algerienkrise, die Karriere an der Universität, das Schreiben, eine prekäre Ehe, die Mutterschaft, de Gaulle, das Jahr 1968, Krankheiten und Verluste, die so genannte Emanzipation der Frau, Frankreich unter Mitterrand, die Folgen der Globalisierung, die uneingelösten Verheißungen der Nullerjahre, das eigene Altern. Anhand von Fotografien, Erinnerungen und Aufzeichnungen, von Wörtern, Melodien und Gegenständen vergegenwärtigt Annie Ernaux die Jahre, die vergangen sind. Und dabei schreibt sie ihr Leben – unser Leben, das Leben – in eine völlig neuartige Erzählform ein, in eine kollektive, »unpersönliche Autobiographie«.
Geschichte ihrer selbst, Gesellschaftsporträt, universelle Chronik: Annie Ernaux hat ein melancholisches Meisterwerk der Gedächtnisliteratur geschrieben und einen schillernden roman total.
(Quelle: Amazon)
Das Buch umfasst 256 Seiten. Übersetzt wurde es von Sonja Fink.
Meine Meinung:
Zitat von WikipediaErnaux selbst betrachtet ihr Werk im Zusammenhang von Literatur, Soziologie und Geschichte und will in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden und so die Geschichte mit Leben füllen. Sie beschreibt ihr Ich als fragmentarisch, nicht kontinuierlich, vom Zufall bestimmt. Traumatisierende Erlebnisse in Kindheit und Jugend wurden in der Familie verschwiegen und sind Ursache einer lebenslangen Scham.
Dieses Zitat beschreibt gut, was den Leser bei diesem autobiografischen Roman erwartet: fragmentarische Erinnerungen eingebettet in Erzählungen über die Zeit und die gesellschaftlichen Gegebenheiten, die entsprechend herrschten. Begonnen und beendet wird der Roman mit „Bildern“, die verschwinden oder gerettet werden sollten, nach Meinung der Autorin.
So fragmentarisch die Erinnerungen, so groß ist auch die Distanz der Autorin zu ihren eigenen Erinnerungen wie auch den Umständen, in denen diese verankert sind. Diese Distanz ist gewollt, Ernaux schreibt nicht in Ich-Form, sondern die Protagonistin wird stets als „Sie“ bezeichnet. Auch kann man diese Distanz schon dem Zitat oben entnehmen, denn Ernaux geht es um beides: ihre eigene Geschichte und die gesellschaftliche Geschichte der Zeit, in der sie aufwuchs, sozialisiert wurde, sich suchte und fand oder auch nicht. Diese Distanz funktioniert auch über weite Strecken gut, jedenfalls für die ersten Jahrzehnte. Aber nach meinem Empfinden wird sie mit jedem erzählten Lebensabschnitt größer und noch unpersönlicher als zuvor und irgendwann reißt die Verbindung für mich ab. Irgendwo in den 80er Jahren verliert der persönliche Teil den Kontakt zu mir als Leserin und entsprechend sinkt mein Bezug zum Gelesenen bis zu dem Punkt, an dem ich nur noch sehr unbeteiligt und auch durchaus unaufmerksam gelesen habe. Mag diese Distanz für viele funktionieren, bei mir hat sie am Ende versagt, ließ mich nur noch unbeteiligt zurück.
Ganz sicher hat die Autorin es geschafft, den Zeitgeist der jeweiligen geschilderten Zeiten und Epochen zu treffen und einzufangen, aber das alleine reichte mir am Ende nicht aus, sondern wurde mir zu funktional und unpersönlich – noch unpersönlicher als es wohl beabsichtigt war. Es liegt auch nicht daran, dass ich manches aus der jüngeren französischen Geschichte nicht weiß, denn ich musste eher zu Anfang des Buches (v.a. in den 60er Jahren) recherchieren, auf welche Ereignisse sich Ernaux in Aussagen bezieht, als gegen Ende der Erzählung. Es ist der Gesamteindruck, der mich zum Schluss irgendwie irritiert, befremdet und weit entfernt vom Erzählten zurücklässt. Und ich weiß ehrlich gesagt noch immer nicht, was ein „roman total“ denn sein soll.
Meine Bewertung liegt noch immer bei 4 Sternen und das liegt daran, dass das Konzept doch immerhin zu etwa ¾ des Buches auch bei mir funktioniert hat und ich die Erinnerungen, v.a. der gesellschaftlichen Umstände, über einen großen Teil als gelungen empfinde. Auch der kühle, distanzierte Stil an sich liegt mir ja durchaus. Aber den absoluten Lobeshymnen, die man allerorten liest und hört, kann ich mich dann doch nicht anschließen.
Ich hab das Buch für meinen Lesekreis gelesen, war auch mit der Auswahl des Buches absolut einverstanden. Jetzt bin ich mal gespannt, wie das Empfinden bei den anderen ist, was so in der Diskussion alles aufkommen wird. Aber da wir uns erst im September wieder treffen, wird es noch eine Weile dauern, bis ich eventuell noch mehr oder anderes über dieses Buch schreiben kann. Aber ich werde berichten.