Charlotte Roth - Wenn wir wieder leben

  • 1963 Berlin. Wanda ist eine junge Studentin, die sich für die Vergangenheit ihrer bereits verstorbenen Mutter Matti interessiert. Sie stellt Nachforschungen an, die sie nach Danzig und auch in das Ostseebad Zoppot führen. Dort formierten sich in den 20er Jahren die vier Freunde Gundi mit Halbschwester Lore, Julius und Erik sich zu einer Combo und unterhielten die dortigen Kurgäste mit flotter Musik. Durch ihren wachsenden Bekanntheitsgrad gelang es ihnen, sich ein Engagement auf dem Urlaubsschiff „Wilhelm Gustloff“ zu ergattern und machen mit ihrer Tanzkapelle die Meere „unsicher“. Dann verliebt sich Gundi in den Sänger Tadek, der sich kurz darauf dem polnischen Widerstand anschließt, als Hitler in Polen einmarschiert. Was wird nun aus Gundi? Wird sie Tarek je wiedersehen? Und was bedeutet das für die vier Freunde?


    Charlotte Roth hat mit ihrem Buch „Wenn wir wieder leben“ einen sehr unterhaltsamen und spannenden historischen Roman vorgelegt. Der Schreibstil ist flüssig, gefühlvoll und fesselnd zugleich, der Leser taucht direkt ein in das Jahr 1963, wo er sich unsichtbar an die Seite von Wanda begibt, um mit ihr eine abenteuerliche Reise in die Vergangenheit zu unternehmen, wobei ihm die Gedanken und Gefühle von Wanda nie verborgen bleiben. Die Handlung verteilt sich auf zwei Zeitebenen, die eine beschäftigt sich mit Wanda und ihrem gegenwärtigen Leben bzw. der Suche nach Einzelheiten über ihre verstorbene Mutter, der andere lässt die Zeit von 1920 bis 1945 wieder aufleben und gibt den Blick frei auf Guni Frieböse und ihre Freunde, die zur damaligen Zeit mit einer eigenen Musikkapelle einige Erfolge aufzuweisen hatte. Durch die wechselnden Erzählperspektiven steigert sich auch der Spannungsverlauf der Geschichte. Die Autorin hat akribisch recherchiert und den historischen Hintergrund auf wunderbare Weise mit ihrer Handlung verwebt. So lässt sie den Leser an der Atmosphäre auf dem Luxusdampfer „Gustloff“ ebenso teilhaben wie an der politischen Situation mit der Erstarkung der Nazis, die Formierung des Widerstands sowie an der damaligen Stimmung der Menschen. Auch die eingestreuten damals recht gebräuchlichen Worte, die heute kaum noch einer kennt, geben der Geschichte zusätzliche Authentizität. Die Landschaftsbeschreibungen von Danzig und dem Ostseebad Zoppot sind so bildgewaltig, dass man sich als Leser während der Lektüre gedanklich dort wähnt und das Gefühl hat, der Tanzkapelle selbst zu lauschen.


    Die Charaktere wurden von der Autorin sehr schön ausgestaltet und in Szene gesetzt. Sie besitzen individuelle Konturen und wirken sehr lebendig und realitätsnah. Wanda ist eine intelligente junge Frau, die in einer turbulenten Zeit lebt. Sie ist aufgeschlossen, neugierig auf die Welt und hat einen jüdischen Freund. Durch die Recherche über die Vergangenheit ihrer Mutter versucht sie auch, etwas über sich selbst zu erfahren, was ihr unterschwellig auch Angst macht. Doch sie ist mutig und entschlossen. Gundi ist eine Frau, die auf den ersten Blick sympathisch wirkt, doch je mehr man sie kennenlernt, umso mehr stellt sie sich als egoistisch heraus. Sie will alles und auf nichts verzichten, was ihr den nötigen Mut verleiht. Sie ist eine Träumerin, die sich ihre Wünsche erfüllen will, doch gleichzeitig verletzt sie damit ihr eng verbundene Menschen. Dadurch wirkt sie oft rücksichtslos und hart, doch insgeheim hat sie wohl auch Angst, alles, was sie liebt zu verlieren. Weitere Protagonisten wie Julius, Erik oder Lore verstärken die Handlung mit ihren eigenen Geschichten und geben ihr zusätzlich Kontur.


    „Wenn wir wieder leben“ ist ein wunderbarer historischer Roman, der den Leser tief in vergangene Zeiten eintauchen lässt und mit dessen Empfindungen und Emotionen spielt. Auch nach der letzten gelesenen Seite wirkt die Geschichte noch nach. Absolute Leseempfehlung!


    Bewegende :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    Bücher sind Träume, die in Gedanken wahr werden. (von mir)


    "Wissen ist begrenzt, Fantasie aber umfasst die ganze Welt."
    Albert Einstein


    "Bleibe Du selbst, die anderen sind schon vergeben!"
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    gelesene Bücher 2020: 432 / 169960 Seiten

  • Das Cover weist von der Farbgebung her ein stimmiges Bild zum Hintergrund und auch zur abgebildeten Dame auf. Die Kleidung der Frau passt absolut dazu. Der Blick, der auf mich etwas frech wirkt und einen gewissen Kampfgeist erkennen lässt, passt genau zum Inhalt des Buches.


    Der Schreibstil lässt sich, trotz schwieriger Thematik, flüssig lesen. Die Autorin versteht es, durch die sich abwechselnden Erzählungen der Protagonistinnen Gundi und Wanda, die unterschiedliche Zeitstränge abdecken, ein vollständiges und interessantes Bild der damaligen Gegebenheiten widerzugeben.

    Die beiden Erzählstränge nähern sich mehr und mehr an und lassen den Leser am Geschehen teilhaben.

    Die Charaktere, die sehr lebhaft und den Zeiten angemessen erläutert werden, lernt man so intensiv kennen und verstehen, dass man sich an Zeit und Ort wähnt.


    Das Thema, das die Umstände und Gegebenheiten der Vorkriegs- und Kriegszeiten darstellt, wird schonungslos und umfassend dargestellt. So kann man sich als Leser gut in die damalige Zeit hineinversetzen und die Zusammenhänge bildhaft begreifen.


    Mein Fazit: schonungslos ehrliches und gut recherchiertes Buch, das die damaligen Verhältnisse gekonnt aufzeigt



  • Berlin 1963, die junge Studentin Wanda begibt sich inspiriert durch einen Freund, auf die Suche nach der Vergangenheit ihrer verstorbenen Mutter. Diese Suche führt sie nach Danzig und in das benachbarte Ostseebad Zoppot in den 1920er-Jahren. Vier Freunde, Lore, Gundi, Julius und Erik haben sich der Musik verschrieben und spielen für die Urlaubsgäste. Ihre rauschenden Erfolge führen die "Vier aus Zoppot" mit dem das luxuriösen Urlauberschiff "Wilhelm Gustloff" über die Meere. Die Zeiten haben sich geändert, als Gundi sich in den Sänger Tadek verliebt. Kurz darauf überfällt Hitlerdeutschland Polen und Tadek wird Widerstandskämpfer. Auch für die vier Freunde bleibt nichts mehr wie es vorher war.



    Das gelungene Cover mit der selbstbewussten jungen Frau im Vordergrund stimmt bereits wirkungsvoll auf das Buch ein.

    Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen, zum einen im Berlin des Jahres 1963, zum anderen in Danzig und Sopot von den 1920-er Jahren bis zum Kriegsende 1945. Wie in ihren bisherigen Romanen verknüpft Charlotte Roth gekonnt deutsche Vergangenheit und Gegenwart, sie bringt so Geschichte bildhaft näher. Wieder prägen kraftvolle Protagonisten ihren Roman, vor allem mutige Frauen. Historische Geschehnisse werden sehr emotional aufbereitet. So beschreibt die Autorin überzeugend die bedrückende Atmosphäre in Danzig und Sopot, vom Aufleben der nationalsozialistischen Bewegung bis hin zum Einnahme durch Nazideutschland. Einziger Minuspunkt war, dass die Erzählung sehr langsam an Tempo gewann. Ich vergebe für das Buch vier Sterne und spreche eine Kaufempfehlung aus.

  • Squirrel

    Ist 1963 schon oder noch historisch?:scratch: Du müsstest das ja eigentlich wissen...:loool: Ich hätte diese Bücher eher bei den Romanen/Erzählungen vermutet.

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Du müsstest das ja eigentlich wissen.

    das hängt bei mir von der Tagesform ab :-, nach Klaus Antwort fühl ich mich grad sehr alt ...

    Aber da das Buch von der Geschichte her zurückreicht bis in die Weimarer Republik, steht es wohl richtig. :wink:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

    :study: Mike Dash - Tulpenwahn


  • Ich würde sagen, dass 1968 historisch ist und somit ist es auch 1963.

    In der Schule (Geschichtsunterricht) ist sogar 1989/ 1990 schon historisch. Dann muss ich mich wohl an den Gedanken gewöhnen, dass auch meine Kinder schon "historisch" sind.:shock:



    das hängt bei mir von der Tagesform ab

    Wie kommt es denn, dass Du plötzlich Jahrgang 1918 bist? Warst Du letztes Jahr nicht noch Jahrgang 1900? Möchtest Du Deinen 100. häufiger feiern?:mrgreen:

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  • "Monte Carlo des Nordens“, so wurde das frühere Fischerdorf Zoppot genannt. In dem vornehmen Ostseebadeort leben Gundi Frieböse und ihre Freunde Lore, Julius und Erik in den 1920er-Jahren. Als Musiker unterhalten sie die Kurgäste und träumen von ihrem Durchbruch. Dann erhalten sie die Chance, auf dem Luxusschiff „Wilhelm Gustloff“ mitzufahren. Die junge Gundi verliebt sich in den Sänger Tarek. Doch dann überfällt Hitler Polen. Was wird aus ihrer Liebe? In den 1960er-Jahren in Berlin stellt die Lehramtsstudentin Wanda Scharneck Nachforschungen zur Vergangenheit ihrer Familie an, die sie nach Danzig und nach Zoppot führen. Welchem Geheimnis kommt sie auf die Spur?

    „Wenn wir wieder leben“ von Charlotte Roth ist ein historischer Roman, der in die Zeit des Naziregimes zurückführt und sich mit der Familiengeschichte der Autorin beschäftigt.

    Meine Meinung:
    Der Roman besteht aus neun Teilen und 58 Kapiteln mit einer angenehmen Länge. Es gibt zwei Handlungsstränge. Der eine betrifft Wandas Suche vorwiegend im Jahr 1963 und spielt an mehreren Schauplätzen, der andere dreht sich um Gundis Geschichte und umfasst die Zeit von den 1920er-Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Erzählt wird im Wechsel überwiegend aus der Sicht von Wanda und der von Gundi. Dieser Aufbau hat mir gut gefallen.

    Auch sprachlich konnte mich der Roman überzeugen. Der Schreibstil ist lebhaft und anschaulich. Die Beschreibungen, Sprachbilder und Vergleiche sind gelungen und schaffen es, die Atmosphäre früherer Zeiten zu vermitteln. Mir fiel es daher leicht, in die Geschichte einzutauchen.

    Mit Wanda und Gundi stehen zwei junge Frauen im Vordergrund. Vor allem Wanda war mir sofort sympathisch, aber auch Gundi ist ein interessanter Charakter. Die übrigen Personen sind ebenfalls gut ausgearbeitet und wirken authentisch.

    Die Handlung ist abwechslungsreich und größtenteils fesselnd. An mehreren Stellen konnte mich der Roman emotional berühren und zum Nachdenken anregen.

    Gut gefallen hat mir, wie die Autorin wahre, historische Begebenheiten wie die Fahrten der „Wilhelm Gustloff“ mit fiktiven Figuren und Erlebnissen verwoben hat. Die fundierte Recherche wird an mehreren Stellen deutlich. Auf unterhaltsame Art lernt der Leser nicht nur die Lebensumstände junger Frauen in den 1960er-Jahren kennen, sondern erfährt auch einiges über die Stadt Danzig und ihre Umgebung zu der Zeit vor und während des Zweiten Weltkrieges. Ein Pluspunkt des Buches ist das Glossar mit weniger bekannten Begriffen. Interessant finde ich auch das Nachwort der Autorin.

    Die gelungene Optik des Covers gefällt mir sehr und passt sich gut dem Look der vorherigen Romane der Autorin an. Schön ist, dass man dem Stil auch beim Titel treu bleibt. Etwas enttäuschend finde ich hingegen, dass die Buchseiten so dünn sind, dass die Schrift durchscheint.

    Mein Fazit:
    „Wenn wir wieder leben“ von Charlotte Roth ist ein lesenswerter Roman, der mir unterhaltsame Lesestunden beschert hat.


    Ich vergebe 4 von 5 Sternen.

  • Charlotte Roth, Wenn wir wieder leben

    Der Einstieg in den Roman ist durchaus vielversprechend, war es doch eine Zeit in Deutschland, die wir heut nur noch durch den Nebel der Erinnerung heraufbeschwören können. Ja, ja, die Sechziger, als Studenten sich siezten und der erste Hauch des Aufruhrs durch die Republik wehte. Arbeiterkinder an der Uni waren Exoten, und die Medien sprachen von ‚Heimatvertriebenen und Flüchtlingen‘ - gemeint waren die Zuwanderer aus dem Osten des untergegangenen Nazi-Reichs.

    Aber je weiter die Lektüre voranschreitet, desto mehr Distanz baut der Leser insbesondere gegenüber den Protagonisten auf: es sind weitgehend Pappkameraden, die für etwas stehen, was die Autorin sie behaupten lässt, die aber keinesfalls ein Eigenleben entwickeln.

    Geht es dann rückwärts mit der historischen Perspektive, entwickelt sich Charlotte Roths Roman zu einem Volkshochschulkurs: vielerlei Kenntnisse über Danzig während der Nazizeit werden ausgebreitet, ohne dass die erzählte Geschichte der Menschen und der historische Hintergrund wirklich zu einer unauflöslichen Einheit verschmelzen.

    Schade - denn die deutsch-polnische Vergangenheit ist doch bestimmt noch eine terra incognita für die meisten von uns!

  • Beitrag an bestehenden Thread angehängt :wink:


    Batyr bitte schau immer erst, ob es bereits einen Rezensionsthread zum Buch gibt und häng deine Rezensionen gegebenenfalls dort an. Falls nicht und Du erstellst einen Thread, dann gib in die Titelzeile bitte immer den Autorennamen und den Buchtitel ein, sonst findet niemand deinen Beitrag zum Buch :wink:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

    :study: Mike Dash - Tulpenwahn


  • Buchmeinung zu Charlotte Roth – Wenn wir wieder leben

    „Wenn wir wieder leben“ ist ein historischer Roman von Charlotte Roth, der 2018 bei Knaur TB erschienen ist.

    Zum Autor:
    Charlotte Roth, Jahrgang 1965, ist Berlinerin, Literaturwissenschaftlerin und seit zehn Jahren freiberuflich als Autorin tätig. Mit ihrem Roman "Als wir unsterblich waren", der auf einem Stück ihrer eigenen Familiengeschichte basiert, erfüllte sie sich einen langgehegten Traum, und der Roman wurde zum Bestseller. Charlotte Roth hat Globetrotter-Blut und zieht mit Mann und Kindern durch Europa, hält an ihrem Koffer in Berlin aber unverbrüchlich fest.

    Klappentext:
    Das vornehme Ostseebad Zoppot bei Danzig in den 1920er Jahren. Hier herrschen überschäumende Lebenslust und unbeschwerte Sommerfrische.
    Die vier Freunde Lore, Gundi, Julius und Erik erfreuen die Kurgäste mit flotten Rhythmen und eingängigen Melodien und träumen vom Durchbruch als Musiker.
    Bald ist ihnen tatsächlich Erfolg beschieden, auf dem Luxusschiff Wilhelm Gustloff befahren sie die Meere – und ignorieren, dass sich die Zeiten schon lange geändert haben. Gundi verliebt sich in den Sänger Tadek, aber dann überfällt Hitler Polen, und Tadek schließt sich dem Widerstand gegen die Nazi-Besatzer an: Das Ende einer großen Liebe?

    Meine Meinung:
    Es sind die weiblichen Hauptfiguren, mit denen ich bei Charlotte Roth Probleme haben. Sowohl Gundi wie auch Wanda verhalten sich nach meiner Einschätzung nicht nachvollziehbar. Als Gundi sich in Tadek verliebt, benimmt sie sich wie ein pubertierendes Mädchen. Alles andere, sogar ihr Kind, ist ihr egal, hauptsache sie ist mit Tadek unterwegs. Bei Wanda ist es die starre Haltung ihrer Mutter gegenüber. Sie besteht auf einer Auskunft, was vor und während des Krieges geschehen ist. Dabei ist sie extrem starrsinnig und nach dem Selbstmord macht sie sich auf Spurensuche in Polen.
    Die Geschichte spielt in zwei Zeitebenen, die auch unterschiedliche Sichten auf ein und dasselbe Ereignis ermöglichen. Die vier Piroggen sind eine mäßig erfolgreiche Musikgruppe, die seit ihrer frühen Jugend Freunde sind. Dann haben sie großen Erfolg mit einem Lied, das Gundi bei ihrer polnischen Freundin Rosi kennenlernt. Unauffällig wächst der Einfluss der Nationalsozialisten in Danzig und Zoppot und auch das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen geht den Bach runter. Ironischerweise ermöglicht es aber ausgerechnet der Nazi und Gauleiter Forster, dass Gundi ihre polnischen Bekannten verstecken kann. Sympathisch sind vor allen POP und Gundis Tante, für die nur der Mensch und nichts anderes zählt. Gundi agiert in manchen Dingen sehr rücksichtslos, bedauert dies dann aber meist wieder. Allein ihr Verhältnis zu ihrem Mann Julius ist deprimierend. Aber dann gibt es eine Aktion, die sie in einem anderen Licht erscheinen lässt.
    In der zweiten Zeitebene ist Wanda unterwegs. Dort wird es erst interessant, als sie in Polen unterwegs ist. Ihr Freund Andras sagt einmal, dass es die Opfer sind, die die Erinnerung nicht aushalten. Diese Erfahrung führt zu einer abweisenden, wenn nicht gar feindlichen Haltung Wanda gegenüber. Wanda will aber trotzdem die Wahrheit wissen, muss aber erkennen, dass dies eine sehr schmerzhafte Erfahrung sein kann.
    Sehr gelungen fand ich die Beschreibung des aufkommenden Nationalismus und der Besonderheiten, die mit dem politischen Status Danzigs verbunden waren. Man versteht die Vorbehalte, die Polen damals und zum Teil heute noch gegen Deutsche haben, weil ihnen unsägliches Leid zugefügt wurde. Gut gefallen haben mir auch die meisten der Charaktere, auch wenn ich Gundi, Wanda und auch Tadek für überzeichnet halte.

    Fazit:
    Dieses Buch ist keine leichte Kost und die Autorin macht es ihren Figuren nicht leicht. Anschaulich wird der zunehmende Einfluss der Nazis in Danzig beschrieben und wie sie das Verhalten großer Teile der deutschen Bevölkerung verändert haben. Auch die Szenen im Nachkriegspolen waren überzeugend. Allein die Hauptfiguren haben mir nicht zugesagt. So vergebe ich knappe vier von fünf Sternen (75 von 100 Punkten) und spreche eine Leseempfehlung aus.

    :study: James Lee Burke - Die Tote im Eisblock


    :musik: Hanna von Feilitzsch - Bittersüße Mandeln

  • Lesemeinung - Wenn wir wieder leben


    Die Geschichte beginnt mit der jungen Studentin Wanda, die in den 60er Jahren auf Andras Goldfarb trifft. Selbst bemüht, die Auschwitzprozesse vorzubereiten, fordert er Wanda auf, ihre Mutter zu fragen, was diese zwischen 1933 und 1945 getan habe. Doch Wandas Mutter schweigt und so macht Wanda sich selbst auf die Weg, um Antworten zu suchen. Sie reist nach Danzig und Zoppot, die heute Gdansk und Sopot heißen. In eine Heimat, an die sie sich nicht erinnert. Um eine Vergangenheit zu finden, von der sie nicht sicher ist, sie ertragen zu können.

    Dazu kommt eine zweite Zeitebene, 1927 bis 1945, angesiedelt Danzig und dem Ostseebad Zoppot. Hier tauchen Gundi, Lore, Julius und Erik auf. Alle kommen sie aus einfachen Verhältnissen, alle haben sie ihr Päckchen zu tragen. Was sie verbindet, ist der Wunsch, Musik zu machen und groß hinaus zu kommen auf die Bühnen der Welt.


    Beide Handlungsstränge sind eindrücklich und bewegend geschildert, jedoch konnte ich mich in Wanda besser hineinversetzen. Vielleicht weil ihre ruhigerer Art mir näher ist als die der lebensfrohen Gundi Sonnenschein, die so lange nicht sieht, nicht sehen will, was mit ihrer Welt geschieht. Gundi kam mir so blind vor und ich hätte sie schütteln mögen, in den Roman hineintreten um ihr zu sagen, sie solle die Augen aufmachen. Sie wird von anderen immer als herzlich beschrieben, wirkt hinter der Fassade aber egoistisch, naiv und sieht nur was sie sehen will. Doch auch wenn ich Mühe hatte, mich wirklich in sie hineinzuversetzen, ist sie zweifellos eine interessante Figur.

    Obwohl die Vergangenheit zum größten Teil aus ihrer Sicht geschildert wurde, gab es auch Passagen aus Julius und aus Lores Perspektive, sodass man als Leser von verschiedenen Seiten auf das Geschehen blicken kann.

    Insgesamt treten interessante, komplexe und sehr eigene Figuren auf, die diese Geschichte tragen, mehr als die Handlung, die von dem Klappentext zu einem großen Teil bereits vorweggenommen wird. Der Schluss allerdings hält noch eine überraschende Wendung bereit.


    Die Geschichte ist wunderschön geschrieben, in einer Sprache, für die man sich Zeit nehmen muss, über die man nicht einfach hinweglesen kann. Der Schreibstil ist besonders, anschaulich, eindrücklich, teilweise sehr bildlich. Und in der wörtlichen Rede tritt auch der für den Ort und die Gesellschaftsschicht typische Dialekt zu Tage, sodass dem Bild eine weitere Dimension verliehen wird.


    Zu guter Letzt zum Ende: es ist passend. Gerade so glücklich wie es für diese Geschichte, diese Zeit und diese Schicksale sein kann, ohne ihnen ihren Ernst, ihre Gültigkeit, ihre Wahrhaftigkeit zu nehmen.


    Insgesamt eine Geschichte, die bleibt, die man mit sich trägt und die zum Nachdenken anregt, auch wenn das Buch schon längst aus der Hand gelegt ist.

  • „Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Wenn Menschenfeinde aufmarschieren, müssen wir eine Zeit lang aufhören, Schneider, Buchhalter und Musiker zu sein, und zusammen zur Mauer werden, an der Verbrecher abprallen. Darum kämpfen, wieder zu leben. Unser richtiges Leben.“

    Berlin 1963. Die neunzehnjährige Wanda hat bisher ein unbeschwertes und beständiges Leben geführt. Keines, in dem das Geld reichlich fließt, aber es geht ihr und ihrer Familie, die aus Mutter, genannt Matti, Tante Lore und den Schwestern Vera und Ariane besteht, gut. Zudem ist sie privilegiert: sie darf studieren. Mit ihrem offenen, den Menschen zugewandten Wesen findet sie schnell Freunde.

    Als sie eines Tages Andras kennenlernt, ist die bisherige Gleichmut ihres Daseins vorbei, denn der streitbare junge Mann, der im Holocaust Mitglieder seiner jüdischen Familie verloren hat und sich vehement für die Opfer des Naziregimes einsetzt, gibt ihr eine harte Nuss zu knacken:

    Warum hat es sie eigentlich nie interessiert, wo sie herstammt, wo ihre Wurzeln liegen? Warum wird in ihrer Familie nie darüber gesprochen? Hat diese womöglich in den Zeiten des Krieges Schuld auf sich geladen und versucht, wie viele andere einen Mantel des Schweigens darüber zu legen? Wanda lässt nicht locker und akzeptiert die wenigen, ausweichenden und vertröstenden Antworten nicht. Als sie ein erschütternder Schicksalsschlag trifft, muss sie sich selbst auf die Reise nach Polen an den Ort ihrer Geburt begeben, um die Schatten, die über der Vergangenheit liegen, lüften zu können...

    In den Zwanziger Jahren genießen Gundi, Lore, Julius und Erik in Danzig und dem angrenzenden Ostseebad Zoppot ihre Jugend und die Sommerfrische und träumen von einer Karriere als Musiker. Sie wollen anderen Menschen Freude bringen und mit beschwingten Melodien unterhalten. Eine entsprechende Tanzkapelle haben sie bereits, indes der Erfolg will sich für „Die Piroggen“ noch nicht richtig einstellen. Danzig wird vom internationalen Völkerbund verwaltet, die Nazis haben in der Stadt, in der Deutsche und Polen relativ problemlos zusammenleben, bislang nichts zu melden. Doch ziehen bereits erste dunkle Wolken auf.

    Aber das interessiert Gundi Sonnenschein – wie sie von allen genannt wird – nicht. Sie ist das glücklichste Kind von der Ostsee. Auch ohne Vater und Mutter, dafür verwöhnt vom heiß geliebten Großvater Pop und Tante Karl, nimmt sie das Leben leicht, redet sich die Welt schön, und keiner kann sich ihrem überschäumenden Gemüt und ihrer schwingenden Sinnlichkeit entziehen und ihr lange böse sein.

    Als Gundi und „Die Piroggen“ mit dem Lied „Morgen am Meer“ ihren Durchbruch haben und zu einer bekannten Größe avancieren, dauert es nicht lange und sie fallen auch der ortsansässigen erstarkenden NSDAP ins Auge. Deren Gauleiter Forster ist in das Lied verliebt und protegiert „Die vier aus Zoppot“, wie sie inzwischen heißen, bis hin zu Auftritten auf der „Wilhelm Gustloff“, einem Kreuzfahrtschiff des von den Nazis kreierten „Kraft durch Freude“-Programms. Dort begegnet Gundi, zwischenzeitlich mit Julius verheiratet und Mutter einer Tochter, dem Sänger Tadek und der wahren Liebe, um die sie kämpfen muss, als Polen von Hitlers Deutschland überfallen wird und Tadek sich dem Widerstand anschließt. Zu welchen Opfern ist sie für die Erfüllung ihrer Sehnsüchte bereit?


    Charlotte Roth überzeugt mit „Wenn wir wieder leben“ mit einer meisterhaften Geschichte, die nicht nur kraftvoll, sondern auch mit Gedankentiefe, Emotionalität und einer Botschaft erzählt wird. Durch ihren respektvollen Umgang mit der Vergangenheit, gelingt es der Autorin, mit ihrem Werk dem sich breit machenden Vergessen ein Erinnern entgegenzusetzen, das neben innigen, ergreifenden, traurigen und wütend machenden Momenten auch ungemein viel Hoffnung Humanität und Liebe offenbart.

    Wortkonstrukte und Satzgesänge lassen unschwer die Autorin erkennen. Ihrem herausragende, bilderreichen, manchmal auch larmoyanten Schreibstil, der gleichermaßen zu Tränen rührt und einen lächeln lässt, wohnt ein einzigartiger Zauber inne, der nur in ihren Romanen zu finden ist. Erhöht wird der Lesegenuss dadurch, dass die Autorin es gekonnt versteht, dem Geschehen durch die Verwendung von Begriffen und Redewendungen des im Danziger Raum gesprochenen Missingsch zusätzliche Atmosphäre zu verleihen.

    In den Figuren von Charlotte Roth steckt enormes Herzblut. Sie lotet deren charakterliches Potential aus, erspart ihnen nichts, heischt kein Wohlwollen ein, sondern lässt sie durchaus zum Unverständnis aller agieren. So erzeugt sie eine markante Lebensnähe, die nichts beschönigt. Deutlich wird dies insbesondere an Gundi, die mit ihrem Verhalten, ihrer politischen Unwissenheit und dem damit einhergehenden Desinteresse, ihrer Sorglosigkeit und starken, rücksichtslos scheinenden Sehnsucht nach Liebe nicht immer Sympathiepunkte sammelt, weil sie in der privaten kleinen Welt nicht über den Tellerrand schaut und die Auswirkungen auf die Ereignisse um sie herum begreift. Nicht rechtzeitig zumindest...


    Es ist Charlotte Roths persönlichstes Buch, wie sie im Nachwort erklärt. Weil Danzig und seine Menschen Teil ihrer eigenen Familiengeschichte sind. Und weil es wichtig ist, in dieser Zeit die Stimme zu erheben. Gut, dass sie es geschrieben hat.


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