Wenn wir es zulassen...
Wer „Das
Finkenmädchen“ von Nicole Trope zur Hand nimmt, darf sich von dem
verträumten Cover nicht täuschen lassen. Denn inhaltlich geht es
keinesfalls idyllisch zu. Vielmehr greift die Autorin ein schwieriges
Thema auf und erzählt eine kraftvolle und herausfordernde Geschichte,
die für einige Menschen schwer zu lesen sein wird.
Da sind Birdy
und Rose, zwei Frauen, die nicht unterschiedlicher sein können und doch
mehr als eine Gemeinsamkeit haben. Beide sind sie Insassinnen eines
Gefängnisses mit geringerer Sicherheitsstufe. Während Birdy, die nur
noch wenige Monate ihrer Strafe wegen Körperverletzung verbüßt, genau
weiß, wer Rose ist, hat diese keine Ahnung. Die Vierundfünfzigjährige
ist eine nationale Berühmtheit, soll sie immerhin ihren Mann, den
landesweit bekannten Fernsehmoderator Simon Winslow getötet haben. Aber
die Bekanntschaft der beiden reicht viel weiter zurück.
Fünfundzwanzig
Jahren zuvor lebt die siebenjährige Felicity mit Mutter und Schwester
in direkten Nachbarschaft der Familie Winslow. Felicity ist besonders,
eher ruhig und in sich gekehrt, zudem ein wenig langsam. Das Lernen
fällt ihr schwer, so dass sie ständig Dinge wiederholen muss. Nach der
Trennung der Eltern ist die Mutter mit den zwei Kindern überfordert. So
findet Felicity des Öfteren Aufnahme bei den Nachbarn: Rose und Simon
Winslow. Unter anderem züchtet Simon Finken und bringt Felicity alles
darüber bei.
Auch im Gefängnis kümmert sich Felicity, die sich
inzwischen Birdy nennt, um die Finken. Sie ist eine vorbildliche
Gefangene und hält sich von Schwierigkeiten fern, weil sie immer daran
denkt, nach Hause zu ihrer Tochter zu kommen. Zwar ist sie äußerst
geschickt daran, gegenüber den sie behandelnden Therapeuten nur das zu
sagen, was diese hören wollen, jedoch brodeln Wut und Hass in ihr. Diese
Gefühle versteckt sie. Genauso gut wie die Erinnerungen an ihre
Vergangenheit.
Als Rose auftaucht, treten diese versteckten Gefühle und vergrabenen Erinnerungen mit Macht an die Oberfläche...
Nicole
Trope wagt sich mit „Das Finkenmädchen“ an ein schwieriges, gleichwohl
wichtiges und aktuelles Thema: Belästigung und Missbrauch. Ihr gelingt
es mit sensibler Ernsthaftigkeit, nicht nur die Verletzlichkeit der
stillen Opfer darzustellen, ihnen eine Stimme zu geben, sondern sie
zeigt ebenso auf, welche weitreichenden Auswirkungen und irreparablen
Schäden die Handlungen eines Einzelnen für alle Beteiligten,
einschließlich der Angehörigen haben.
Sie vermag es, nicht nur
die Hilflosigkeit und den Schmerz der Opfer deutlich zu machen. Vielmehr
schildert sie genauso eindrucksvoll, dass es selbst Menschen, die unter
einem Dach wohnen, nicht immer möglich ist, zu erkennen, was vor ihren
Augen geschieht.
Die Autorin lässt Birdy und Rose in
abwechselnden Kapiteln in der Gegenwart und mit Rückblenden zu Wort
kommen, wobei sich das Geschehen zwangsläufig kreuzt und Wiederholungen
auftreten.
Die realistische und feinsinnig ausgeführte
Charakterisierung ihrer Figuren, einschließlich der Nebenfiguren, gibt
der Geschichte Tiefe und ermöglicht eine Anteilnahme an deren Leben und
Empfinden. Das Ringen und Wachsen der Beteiligten im Verlauf der
Handlung ist glaubwürdig und einprägsam und zeugt von der Stärke, die
Opferrolle hinter sich zu lassen und für die eigene Zukunft zu sorgen.
Birdy
hat es nicht leicht gehabt, ihr ist bewusst, dass sie nicht so
intelligent wie andere ist. Allerdings gleicht sie dieses Manko mit
Entschlossenheit aus. Sie möchte lernen und nutzt das ihr gegebene
Potential, ist stolz auf das Erreichte. Und vor allem möchte sie eins:
Eine gute Mutter sein, die das Beste für ihre Tochter zu tut, damit sie
immer zusammen sind.
Rose lernt Simon mit fünfzehn kennen und
heiratet sehr jung und ohne Unterstützung ihrer Eltern wird – noch keine
Zwanzig - Mutter. Während der ersten Jahre der Ehe arbeitet sie. Später
muss sie das nicht mehr, weil Simon genug Geld verdient. Ihr Ehemann
ist eine australische Fernsehgröße, als Missbrauchsvorwürfe gegen ihn
erhoben werden. Rose ist fassungslos. An der Seite ihres
charismatischen, selbstbesessenen Mannes hatte sie zwar ein traumhaftes
Leben, doch ebenso ein fremdbestimmtes. Denn erst jetzt wird Rose
wirklich bewusst, dass sie in der Ehe mit Simon keine Chance, sich zu
einer Persönlichkeit zu entwickeln, sich selbst ebenfalls wichtig zu
nehmen, emotional zu wachsen und Entscheidungen zu treffen.
Bis zu dem Tag, an dem sie es getan hat...