Kazuo Ishiguro - Der Maler der fließenden Welt / An Artist of the Floating World

  • Kurzmeinung

    Squirrel
    Ein ungewohntes Buch für Ishiguro, dass sich mit der japanischen Nachkriegszeit und dem Aufarbeiten & Vergessen beschäft
  • Über den Autor:
    Kazuo Ishiguro wurde 1954 in Nagasaki, Japan, geboren, wuchs aber in England auf, wo er zunächst Englisch und Philosophie studierte, dann ein Studium über Kreatives Schreiben mit einem MA in Literatur abschloss. Bereits für seinen dritten Roman „The Remains of the Day / Was vom Tage übrigblieb“, der 1989 erschien, erhielt Ishiguro den Booker Prize. Weitere Preise folgten, als bisher letzter der Nobelpreis für Literatur 2017. Etliche seiner Bücher wurden bereits verfilmt, an der Verfilmung von „Alles, was wir geben mussten“ wirkte er als Produzent mit. (Quelle: u.a. Wikipedia)


    Buchinhalt:
    Der Maler Masuji Ono hat in den Dreißigerjahren mit seiner regimetreuen Kunst Karriere gemacht. Nach Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg ist sein Patriotismus anrüchig geworden und sein Name in Verruf geraten. Schließlich wird Onos einstige Gesinnung sogar zur Belastung für die Familie, denn seine heiratsfähige Tochter gilt nun als schlechte Partie. Gesellschaftlich ins Abseits geraten, kommt Onos altbewährter Verdrängungsmechanismus zum Erliegen und er muss, wie das ganze Land, zu einer neuen Haltung finden.
    (Quelle: Klappetext)


    Das Taschenbuch umfasst 270 Seiten unterteilt in einige wenige Kapitel, die jeweils mit Monat und Jahr überschrieben sind.
    Übersetzer: Hartmut Zahn


    Meine Meinung:
    Der Klappentext fasst den Inhalt des Buches sehr gut zusammen, und doch steckt noch viel mehr darin als es scheint. Erzählt werden die zwei Jahre von Oktober 1948 bis Juni 1950 im Rückblick durch den Maler Masuji Ono selbst. Sieht er sich und sein Leben anfangs noch als ganz normal dahingleitend, sicherlich erschüttert durch den Krieg und auch selbst erlittene Verluste, so muss er sich nach und nach mit sich selbst, seinen Gedanken und Einstellungen und schlussendlich auch seinen Taten während der Kaiserzeit auseinandersetzen. Dies geschieht nicht freiwillig, sondern wird ausgelöst durch Gespräche mit seiner älteren Tochter, die immer wieder in sehr höflichen Gesprächen andeutet, dass Onos Position aufgrund seiner Vergangenheit in der Gesellschaft der Nachkriegszeit nicht mehr Onos eigener Wahrnehmung entsprechen. Verdeutlicht wird das anhand von Heiratsverhandlungen für die jüngere Tochter, die bereits einmal aufgrund fadenscheiniger Argumente scheiterten, und für die Ono nun Sorge tragen soll, dass dies nicht erneut passiert.


    All dies wird erst nach und nach wirklich deutlich. In diesem Roman wird sehr viel angedeutet und wenig deutlich ausgesprochen. Es vollzieht sich alles sehr langsam, fließend, niemals abrupt oder plakativ – so wie die Welt eben fließt. Immer wird zunächst langsam auf etwas hingewiesen, oft zwischen den Zeilen, und erst gegen Ende wird die Bedeutung offener dargestellt. So begegnen wir dem Maler das erste Mal auf dem Weg zu seinem Haus, einer Villa im klassischen Stil, die im Prinzip dem Maler entspricht. Klassisch und traditionell erbaut, ist sie durch den Krieg beschädigt – so wie der Protagonist selbst. Doch während die Beschädigungen der Villa offensichtlich sind, sind es die des Malers nicht, die liegen unter der Oberfläche, nicht offen sichtbar und dennoch stets präsent. Erst langsam, im Zuge der Erinnerungen, werden diese Beschädigungen klarer,

    Das Schüler-Lehrer-Prinzip taucht mehrfach auf – Ono selbst erinnert sich an seine Lehrzeit und wie er sich irgendwann von seinem Lehrer weg und zu seinem eigenen Stil hin entwickelte. Litt er selbst unter der harten Haltung seines Lehrers, so ist er doch unfähig, selbst anders zu handeln und geht die gleichen Wege. Diese Wege holen ihn nun in der Gegenwart ein, denn während der aufwendigen Heiratsverhandlungen werden Privatdetektive engagiert, die Familien erkunden gegenseitig die Vergangenheit des anderen, und jeder versucht, eventuell wichtige Personen aus der Vergangenheit zu beeinflussen. Doch gibt es Dinge, die lassen sich nicht wiedergutmachen.


    Erinnerung, das Aufarbeiten der eigenen Vergangenheit sowie der der Gesellschaft, in der man lebt – ein Thema, dass in Japan wie Deutschland von Bedeutung ist. Doch habe ich das Gefühl, dass es in diesen beiden Gesellschaften unterschiedlich gehandhabt wurde und wird. Auf jeden Fall bleibt Ishiguro dem Leser die Antwort auf die Frage schuldig, ob der Maler Masuji Ono wirklich einsichtig auf seine Vergangenheit blickt. Diese und weitere Fragen muss sich der Leser selbst beantworten.


    Mein Fazit:
    Bereits in diesem Buch erkennt man Ishiguro und seinen eindeutigen Stil – seinen Schreibstil und die Art, wie er seine Geschichten erzählt. Still, klar und unaufgeregt im Stil, gibt Ishiguro keine klaren Antworten, sondern schildert seine Geschichten, trifft seine Aussagen, aber lässt den Leser selbst denken und zu seinen eigenen Schlüssen kommen. Etwas ungewohnt für mich waren die Schilderungen von Japan, seiner Gesellschaft und seiner Konventionen, die ich als gegeben annehme, aber bei denen ich mir nicht sicher bin, inwieweit hier westliche Klischees über Japan dargestellt werden, die so evtl. doch nicht der Realität entsprachen. Das können nur Leser beurteilen, die selbst Erfahrung mit der japanischen Kultur haben.

  • Etwas ungewohnt für mich waren die Schilderungen von Japan, seiner Gesellschaft und seiner Konventionen, die ich als gegeben annehme, aber bei denen ich mir nicht sicher bin, inwieweit hier westliche Klischees über Japan dargestellt werden, die so evtl. doch nicht der Realität entsprachen.

    In seiner Nobelpreisrede sagt der Autor, dass er sich im Kopf sein persönliches Japan irgendwie selbst zusammengebastelt hat, da er ja nie richtig dort gelebt hat. Es könnte also durchaus sein, dass gewisse Dinge nicht der Realität entsprechen :-k

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  • Ausgezeichnete Rezi, Squirrel, top!


    Mein eigenes Lesen liegt lange zurück; vielleicht war es mein erster Ishiguro vor -zig Jahren? Aber Grundthemen und - motive sind schon da. Und ich meine mich erneut erinnern zu können, dass es nicht so sehr (ähnlich wie in anderen Büchern) um das ganz große Unrecht geht, das man begangen hat, quasi eine offensichtliche Straftat, einen Mord etc, sondern wieder um dieses klammheimliche Einverständnis in eine schleichende Gefahr, einfach weil es einfacher ist. So deckt Ishiguro eventuell ein historisches japanisches Übel auf, aber zur selben Zeit hat das ja durchaus einen universalen Charakter. Das ist also eine Form symbolischen Realismus', der nicht unbedingt hier absolut kulturell, historisch geerdet sein muss.


    Es gab in diesem Roman über dieses Grundmotiv heraus dann auch die Besonderheit (soweit meine Erinnerung), dass selbst ein ästhetische Vorgehensweise (der malende Künstler), Verarbeitung der Realität nicht schützt vor dem Ausgleiten. Ja, eventuell im Gegenteil? Weil man Anerkennung und Öffentlichkeit braucht???

  • In seiner Nobelpreisrede sagt der Autor, dass er sich im Kopf sein persönliches Japan irgendwie selbst zusammengebastelt hat, da er ja nie richtig dort gelebt hat. Es könnte also durchaus sein, dass gewisse Dinge nicht der Realität entsprechen

    Das bestätigt ja mein Gefühl, dass das geschilderte Japan - seine extreme Höflichkeit, dieses Das-Gesicht-wahren, der Hang zum Selbstmord u.a. - sehr unserem westlichen Bild von Japan entspricht und evtl. nicht ganz so realistisch ist.

    Ausgezeichnete Rezi, Squirrel, top!

    danke :uups: dabei habe ich das Gefühl, dass irgendwie noch immer etwas fehlt :-?

    dass es nicht so sehr (ähnlich wie in anderen Büchern) um das ganz große Unrecht geht, das man begangen hat, quasi eine offensichtliche Straftat, einen Mord etc, sondern wieder um dieses klammheimliche Einverständnis in eine schleichende Gefahr, einfach weil es einfacher ist.

    Das hast Du richtig in Erinnerung - es geht nicht um das große Verbrechen, sondern um die Schuld und die Verantwortung des Einzelnen, der vielleicht noch nicht mal viel getan hat, aber auch im Nichts-Tun kann man sich schuldig und verantwortlich machen.

    dass selbst ein ästhetische Vorgehensweise (der malende Künstler), Verarbeitung der Realität nicht schützt vor dem Ausgleiten. Ja, eventuell im Gegenteil? Weil man Anerkennung und Öffentlichkeit braucht???

    Auch das kann ich unterschreiben - ein Maler ohne Publikum ist zwar immer noch ein Maler, aber mit welchem Status? Und der Protagonist Ono ist die Figur eines berühmten Malers, der eben die Vorgänge, die Politik des untergegangenen Regimes mit seiner Kunst mitgetragen und glorifiziert hatte. Nur so konnte er auch berühmt werden, so dass sich hier die Katze in den Schwanz beißt. Eine Aufarbeitung oder Verarbeitung der Realität danach findet aber nicht mehr malerisch, künstlerisch, statt, denn nun hat er sein Publikum verloren - und was bleibt von ihm als Maler?

  • ... dabei habe ich das Gefühl, dass irgendwie noch immer etwas fehlt :-?

    Ich glaube, dass das auch wirklich ein Zeichen von "Genie" ist, dass man nie alles ausschöpfen kann, sondern immer noch der Eindruck bleibt, etwas nicht gesehen, erwähnt zu haben. Und meines Erachtens ist es das, was Ishiguro sicher auszeichnet. Und: er tut dies mit scheinbar so "einfachen" Mitteln, ohne große Mätzchen, Schnörkeleien etc. Ich frage mich dauernd, wie er das anstellt?

  • dabei habe ich das Gefühl, dass irgendwie noch immer etwas fehlt

    Wenn es Dich tröstet: So fühle ich mich fast nach jeder Rezension. (Außer nach Verrissen :wink:)


    Je vielschichtiger und "tiefer" ein Buch ist, desto schwieriger ist es, anderen Lesern möglichst umfassend darüber zu berichten. Nimm das Gefühl einfach als Kompliment (für das Buch und für Dich). :thumleft:

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)