Navid Kermani - Entlang der Gräben

  • Autor: Navid Kermani

    Titel: Entlang der Gräben

    Seiten: 442

    ISBN: 978-3-406-71402-3

    Verlag: C.H. Beck


    Autor:

    Navid Kermani wurde 1967 in Siegen geboren und ist ein deutscher Schriftsteller, Publizist und habilitierter Orientalist. Er arbeitere nach der Schule als freier Mitarbeiter und Redakteuer für verschiedene Zeitungen, studierte Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaften. Seit 2007 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Von 2006-2009 war er Mitglied der deutschen Islamkonferenz. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und beschäftigen sich mit Grenzerfahrungen im Alltag, der Auseinandersetzung mit Tod und der islamischen Mystik. Für den Spiegel berichtete er aus mehreren Krisengebieten der Welt. Kermani lebt mit seiner Familie in Köln.

    Inhalt:

    Ein immer noch fremd anmutendes, von Kriegen und Katastrophen zerklüftetes Gebiet beginnt östlich von Deutschland und erstreckt sich über Russland bis zum Orient. Navid Kermani ist entlang den Gräben gereist, die sich gegenwertig in Europa auftun: von seiner Heimatstadt Köln nach Osten bis ins Baltikum und von dort südlich über den Kaukasus bis nach Isfahan, die Heimat seiner Eltern. Mit untrüglichem Gespür für sprechende Details erzählt er in seinem Reisetagebuch von vergessenen Regionen, in denen auch heute Geschichte gemacht wird. (Klappentext)


    Rezension:

    Europa ist ein politisches geschaffenes Gebilde, welches den Frieden auf den gleichnamigen Kontinent sichert. So scheint es. Doch im Inneren und an den Rändern gährt es. Egal ob wir von den Parallelgesellschaften reden, die sich längst innerhalb der deutschen Städte aus Religions- und Volksgruppen gebildetet haben, ob man sich in Polen mit der Aufarbeitung der eigenen und fremden Geschichte schwer tut oder in der Ukraine im Spannungsfeld des Konfliktes im Donbass versucht, zu überleben, die Gräben in Europa scheinen tief. Navid Kermani hat sich im Auftrag des Magazins Der Spiegel aufgemacht, diese Regionen aufzusuchen und zu erfahren.


    Vom heimischen Köln bis hinein nach Isfahan, der ursprünglichen Heimat seiner Eltern. Er trifft die jenigen, die am Rande vergessener Konflikte leben müssen, mit den politischen und wirtschaftlichen Begebenheiten zurechtkommen müssen. Einfache Bewohner in der Region im Sperrgebiet von Tschernobyl, geschasste Schriftsteller in Aserbaidschan, Weissrussen und Iraner, die auf die Zukunft nach den jetzt dort herrschenden Mächten hoffen. In mehreren Etappen durchquert er den Kontinent, stöbert interessante und nachdenklich stimmende Lebensläufe und Geschichten auf. Mit feiner Beobachtungsgabe seziert er den Zustand Europas, erkennt, dass es Konflikte auch hier gibt, die unlösbar scheinen, Menschen jedoch überall mit den gleichen Sehnsüchten nach Frieden zu Hause sind.


    Obwohl Kermani für mehrmalige Reisen in die verschiedensten Winkel Europas aufgebrochen ist, ergibt sich eine zusammenhängende Route, die der Leser anhand von zwei Karten innerhalb der Buchdeckel verfolgen kann. Genau so übersichtlich sind auch die Berichte, geschrieben als Tagebucheinträge des Reiseberichts. Detailliert beschreibt der Autor, was er sieht, welche Gespräche sich ergeben, manchmal mit Nennung der Namens seiner Kontakte, oft genug musste er jedoch Namen ändern, um die Personen in ihren Heimatländern keiner Gefahr auszusetzen. Entstanden ist ein intimes Portrait einer Kette von Ländern, die uns oberflächlich gesehen, nicht ferner liegen könnten und doch so nah sind. Und immer wieder stößt er auf Neues, was den Autor selbst überrascht, wenn etwa das Brot in der selben Tradition hergestellt wird, wie bei uns, nur hunderte Kilometer von Deutschland entfernt und Literaturmuseen dort auftauchen, wo man es am wenigsten erwartet.


    Besonders eindrücklich schildert er den Umgang der machthabenden Behörden mit den Menschen in den jeweiligen Ländern, aber auch die verschiedenen Sichtweisen, die etwa den Konflikt in der Ukraine und auf der Krim wachhalten, sowie das Zerwürfnis zwischen Aserbaidschan und Armenien. Mit wohlwollenden und zuweilen traurigen Blick beobachtet er Vorgänge, die der Sichtweise eines friedlichen kulturellen Europas zumindest an seinen Rändern Lügen strafen. Detailliert schreibt er auf, ohne seine poetische Sprache zu verlieren, was er sieht.


    Das Besondere sind die Bilder, die er wie ein Schwamm aufsaugt, Bilder von örtlichen Begebenheiten und von Menschen, deren Mut und Zuversicht, manchmal auch nur bloßer Wille zu überleben in jeder einzelnen Zeile sichtbar wird. Wer etwas über Europa lernen möchte, der sollte zu diesem Buch greifen. Als Kind iranischer Eltern kommt er im Osten mit AfD-Wählern ins Gespräch, überall sonst berichtet er jeweils von beiden Seiten des zu benennenden Konflikts. Immer ausgewogen zu sein, Markenzeichen seiner Reportagereise, die packender und einprägsamer nicht erzählt werden könnte.


    Kermani auf der Suche nach der Idee von Europa, und wie sie an den Rändern des Kontinents in Frage gestellt wird, zuletzt auch eine Suche nach sich selbst, die es sich zu begleiten lohnt. Eine sehr eindrückliche Leseempfehlung im Sachbuch-Bereich.

  • In einem Interview sprach der Autor über das was ihm wichtig war bei diesem Buch

    Navid Kermani im Interview

    Zitat

    Gräben des Krieges, aber auch geistige Gräben habe er auf dieser Reise gesehen, Gräben zwischen Ost- und Westeuropa, Gräben in den Gesellschaften der bereisten Länder. Über die Stationen seiner Reise berichtet er im Interview mit SWR2.

    Fast vergessen:uups: Sehr gute Rezension, wie immer toll geschrieben. Das Buch ist nun auf meinem Reader :wink:

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Mein Leseeindruck:


    Die Texte des Buches basieren auf verschiedenen Reisen, die zu einer einzigen Reise von 54 Tagen kondensiert werden. Da bleibt nicht viel Zeit für die einzelnen Stationen. Diese Verknappung kann kritisch gesehen werden: Kermani kann den bereisten Gegenden und Städten niemals gerecht werden, er ist gezwungen, Schwerpunkte zu setzen, und die Setzung dieser Schwerpunkte ist subjektiv. Und genau darin liegt aber auch der Reiz dieses Buches: der sehr persönlichen Auswahl und Sicht der Reisestationen.


    Kermani hakt seine Reisestationen nicht nur ab, sondern erzählt Geschichten zu dem Gesehenen. Er holt historisch und literarisch aus (und

    vergisst dabei manchmal die Gegenwart), wir erfahren Heldenlegenden und kuriose Anekdoten, wir nehmen mit ihm an überbordenden Trinkgelagen in Georgien teil, besuchen das wunderbare Kulturzentrum in Baku, gebaut von der genialen Zaha Hadid, https://www.detail.de/artikel/…ter-von-zaha-hadid-11364/, wir hören von Korruption und Amtsmissbrauch und dem Schweigen der Opfer.


    In jeder Stadt bzw. Gegend trifft der Autor mit unterschiedlichsten Gesprächspartnern zusammen: mit regierungsnahen Politikern und Oppositionellen, Literaten, Lehrern, Architekten, Künstlern, Wissenschaftlern, Museumsleitern, kirchlichen Würdenträgern und – man staunt – auch mit Vertretern lokaler LGBT-Gruppierungen.

    Immer ist Kermani ein gut vorbereiteter, belesener und kundiger Gesprächspartner, der aufmerksam und offen zuhört, so dass interessante, teils verblüffende Gespräche entstehen.


    Kermani beschwört Europa: ein Europa, in dem die Vielfalt beheimatet ist, in dem trotz kultureller Unterschiede eine friedliche Koexistenz

    möglich ist – und damit auch ein Europa, das vielen der postsowjetischen Länder, die er bereist, als Vorbild und als Ansporn gilt.

    Immer wieder verweist Kermani auf die Vergangenheit, die durch ethnische und kulturelle Vielfalt geprägt war. Die Multikulturalität scheint ihm in den Randgebieten Europas tiefgreifender bewahrt zu sein als im Westen. Z. B. leben in Georgien nach dem Zusammenbruch der SU „außer Georgiern noch Aserbeidschaner, Armenier, Adscharier, Mingrelier, Swanen, Kisten, Emeretier, Juden, Jesiden, Mescheten, Griechen, Tschetschenen und so weiter“ (S. 231).

    Aber er klagt auch resignierend: „So viele Völker, die auftauchen, wo sie dem Schulatlas nach gar nicht hingehören, die wandern, vertrieben werden oder sich miteinander, nebeneinander arrangieren, selten zu Freunden werden und wenn, dann meistens erst, nachdem sie sich die Köpfe eingeschlagen haben, Griechen, Russen, Kosaken, Tataren, Deutsche, Juden, Armenier, Italiener, Polen und Dutzende weiterer Völker auf der Krim“ (S. 170).


    Ursache der Auseinandersetzungen ist für Kermani der Nationalismus. „So viele Menschen wurden ermordet, überall, so viele Kulturen vernichtet, die ganze gewachsene Vielfalt, damit sich Nationen herausbilden konnten, und dann haben diese Nationen sich auch noch gegenseitig mit Kriegen überzogen, weil sie sich entweder überlegen oder bedroht fühlten – oder beides zugleich.“ Eine interessante Gedankenkette - die ihren Ausgang letztlich in Herders Überlegungen zu Staat und Nation hat…

    Ich frage mich, was wohl Herder sagen würde, wenn er heute in den sog. bloodlands (wie der amerikanische Historiker Timothy Snyder die Kriegsgebiete von Polen-Weißrussland-Ukraine nannte) den Gedenkstätten von 14 Millionen zivilen Opfern der Nazi- und Stalin-Zeit begegnet?


    Ein kulturell vielfältiges Europa als Hoffnungsschimmer – das ist Kermanis Botschaft und sein Anliegen.

    Und damit kann man sein Buch durchaus als politische Botschaft verstehen.


    Dennoch: höchst kurzweilig zu lesen!


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).