Noémi Kiss - Dürre Engel / Sovány angyalok

  • Über die Autorin:
    Noémi Kiss, geb. 1974 in Gödöllö in der Nähe von Budapest, ist Autorin, Kritikerin und Essayistin. Sie studierte Hungarologie, Komparatistik und Soziologie an der Universität Miskolc, wo sie seit 2000 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Komparatistik arbeitet. 2003 promovierte sie mit einer Arbeit über Paul Celan und verbrachte im Rahmen ihrer Promotionsarbeit auch zwei Jahre an der Universität Konstanz. Ihre Werke wurden ins Deutsche, Englische, Schwedische, Bulgarische und Serbische übersetzt. Sie lebt in Budapest und ist Mutter von Zwillingen. In Deutschland wurde sie bekannt durch ihren Roman Was geschah, während wir schliefen sowie ihr literarisches Reisetagebuch Schäbiges Schmuckkästchen. Das Buch wurde 2015 von der Darmstädter Jury zum Buch des Monats Juni gewählt. (Quelle: Amazon)


    Buchinhalt:
    Ungarn, eine Kleinstadt in den 1980er-Jahren, die Zeit des Gulaschsozialismus. Die 40-jährige Volksschullehrerin Lívia wartet nach einem Herzinfarkt im Krankenhaus auf ihren Prozess – sie hat ihren Ehemann Öcsi im Affekt erstochen. In der Rekonvaleszenz geht sie der Frage nach, wie es so weit kommen konnte, was zu der Tat geführt hat, an welchem Punkt ihr Leben völlig aus der Bahn geraten ist. Ihre Erinnerungen sind wie Glasscherben, der verzweifelte Versuch, Bruchstücke ihrer Vergangenheit zu sammeln und zu retten. Und so erzählt sie in Rückblenden, wie sie ihren Mann, den vielversprechenden Athleten, kennenlernte, wie sie ihn als Jugendliche ihrer Freundin Kati ausspannte und bereits als Studentin geheiratet hat, wie seine Eifersucht und ihre Kinderlosigkeit die Beziehung immer stärker belastet und schließlich in verbaler und körperlicher Gewalt endet, die beide, Mann und Frau, ertragen müssen. (Quelle: Klappetext)


    Das Buch umfasst 294 Seiten unterteilt in viele, teils nur wenige Seiten lange Kapitel.
    Übersetzerin: Eva Zador


    Meine Meinung:
    Selten habe ich ein Buch gelesen, in dem mir wirklich jede Person komplett unsympathisch und unzugänglich war. Erwartet habe ich nach dem Klappentext einen Einblick in das Leben ungarischer Menschen in Zeiten des Umbruchs, bekommen habe ich eine Geschichte über eine komplett zerrüttete Familie, lieblose Menschen allerorten, familiäre Gewalt, sexuelle Gewalt und sexuelle Machtspiele überall und zu jeder Zeit. Die Protagonistin stellt sich mir nicht dar als eine Frau, die auf der Suche nach den Gründen ihres kaputten Lebens ist, sondern als eine Frau, die einfach ihren Erinnerungen nicht ausweichen kann, da sie schlicht im Krankenhaus nichts zu tun hat. Sie erinnert sich, aber mir scheint, dass sie das nicht wirklich will, sondern halt einfach tut.
    Die „Glasscherben“, wie sie im Klappentext genannt werden, sind Bruchstücke, die dem Leser hingeworfen werden, wild in den Zeiten und Orten springend, ohne Zusammenhalt oder Chronologie. Die muss der Leser sich selbst zusammen suchen in den Brocken, die ihm hingeworfen werden. Und genau so habe ich das empfunden: es werden Brocken der Erinnerung regelrecht ausgekotzt in einer Sprache, die im Klappentext als „lyrisch, aber sehr direkt“ bezeichnet wird und von mir teils nur noch als obszön unter der Gürtellinie wahrgenommen wurde. Ich kann nicht glauben, dass quasi die Hälfte der ungarischen Bevölkerung ständig und überall ihre Mitmenschen mit den übelsten, sexuellen Schimpfwörtern bedachte. Und die lyrischen Teile der Sprache blieben mir genauso völlig verborgen wie das „faszinierende Bild vom ungarischen Alltag kurz vor Ende des Sozialismus bis in die erste Zeit der Wende“, wie der Roman beworben wird. Am Ende bleibt eine Erzählung über eine kinderlose Frau, die dadurch in die Depression rutscht, eine gescheiterte Ehe, die von Anfang an dazu verurteilt war, Sex an allen Orten, der mit sexueller Freiheit verwechselt wird, sowie ein absolut negatives Bild von Ungarn, das die Menschen dort wohl eher nicht verdient haben. Das mag ich einfach nicht glauben. Die großen gesellschaftlichen Fragen „Liebe und Leiden, Kinderlosigkeit, Ausbildung, Erziehung bis hin zu sexueller Freiheit und häuslicher Gewalt“, mit denen der Roman ebenfalls im Klappentext beworben wird, sind zwar alle in diese Geschichte gezwängt, aber daraus ergibt sich in diesem Fall leider kein rundes Bild, keine gute Geschichte, sondern für mich nur ein zusammenhangloses Zuviel wo weniger mehr gewesen wäre.


    Mein Fazit:
    Wer etwas über das Leben im Ungarn der 80er und 90er Jahre erfahren möchte, der tut meiner Meinung nach gut daran, zu einem anderen Buch zu greifen. Ich kann keine Leseempfehlung für dieses Buch aussprechen.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Squirrel

    Hat den Titel des Themas von „Noémi Kiss - Dürre Engel“ zu „Noémi Kiss - Dürre Engel / Sovány angyalok“ geändert.
  • Wäre Abbrechen keine Option gewesen? :-s

    Leider nein, da ich es mit meinem Lesekreis gelesen habe. Und wie soll man über ein Buch diskutieren, dass man nicht fertig gelesen hat? Aber ich hab echt mit mir gekämpft und war kurz davor, es trotzdem abzubrechen.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Eine Ergänzung nach unserem Lesekreis-Treffen (=meine Bücherwürmer, wie ich sie nenne): wir sind zu sechst und kurz nachdem ich meine Rezension einstellte, schrieb die erste aus dem Italien-Urlaub "ich muss mal einen Kommentar zu diesem Buch loswerden....", die zweite bestätigte sofort das Urteil der ersten über vergeudete Lesezeit und gratulierte mir zu meiner Rezension - sie hat mir 5 von 5 möglichen Sternen dafür gegeben. :twisted:

    Beim Treffen waren wir uns zu viert einig, dass der Roman einfach nur völlig vergeigt, die Autorin an ihren eigenen Ansprüchen grandios gescheitert ist. Dabei sind die Einzelheiten für sich betrachtet - Protagonisten und Teile des Plots - gar nicht mal unrealistisch. Aber das Gesamtbild ist unschlüssig, unlogisch, die Sprache unterirdisch wenn sie in Schimpftiraden unter der Gürtellinie gleitet. Der einzige Mann hat nach unseren WA-Kommentaren das Buch abgebrochen und die sechste im Bunde hat nach unseren Kommentaren das Buch ungelesen umgetauscht :totlach: Ich stehe also nicht alleine da mit meiner Meinung zum Buch. Auffällig finden wir alle, dass im deutschen Internet außer meiner Rezension keinerlei Kommentare zum Buch zu finden sind - nicht mal bei Amazon.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier