James Agee - Preisen will ich die großen Männer / Let Us Now Praise Famous Men

  • Die Autoren (Quelle: Amazon, Wikipedia und Buchumschlag): Der Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor James Rufus Agee wurde 1905 in Knoxville/Tennessee geboren. Er studierte an der Exeter Academy und in Harvard, gab die Zeitschrift "Advocate" heraus und wurde später Mitarbeiter von "Fortune", "Time" und Nation". Für "Fortune" sollte er gemeinsam mit dem Fotografen Walker Evans einen Bericht über das Elend der Baumwollpflücker nach der Depression liefern. Daraus geworden ist ein Riesenwerk, das keine Zeitschrift zu veröffentlichen imstande war und das erst, fast unbeachtet, 1941 als selbstständiges Buch herausgebracht wurde ("Preisen will ich die großen Männer/Let Us Now Praise Famous Men"). Außerdem war er einer der einflussreichsten Filmkritiker seiner Zeit und schrieb u.a. die Drehbücher zu "African Queen" und dem anbetungswürdigen Film noir "Die Nacht des Jägers". Am 16. Mai 1955 starb er überraschend im Alter von 45 Jahren an einem Herzinfarkt. Zurück ließ er das Manuskript eines Romans, an das er nicht mehr letzte Hand legen konnte, das jedoch als abgeschlossen gelten kann: "Ein Todesfall in der Familie", der postum mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Außerdem plante Agee seit 1947 ein Filmprojekt mit Charlie Chaplin, das leider nie verwirklicht wurde, in dem "der Tramp" als einziger Mensch eine Atombombenexplosion in New York überlebt hat.


    Der am 3. November 1903 in Saint Louis, Missouri, geborene Walker Evans war ein US-amerikanischer Fotograf. Seinen Berufswunsch Schriftsteller gab er auf, um sich autodidaktisch mit der Fotografie vertraut zu machen. Auftragsarbeiten für Zeitschriften oder Museen führten ihn nach Tahiti und Kuba. Er fotografierte Menschen in der U-Bahn, bei der Kommunistischen Partei der USA oder Urlauber in Florida. Doch seine Bedeutung als Fotograf beruht im Wesentlichen auf seinen Fotografien, die er während der Großen Depression Mitte der 1930er-Jahre machte. Die Porträts der drei Pächterfamilien Fields, Borroughs und Tingle wurden zu Ikonen der Fotografie-Geschichte. Evans starb am 10. April 1975 in New Haven, Connecticut.


    Kurzinhalt / Klappentext "Die Andere Bibliothek" (Quelle: Amazon): Ein kolossaler Klassiker der amerikanischen Literatur, politisches Dokument und poetischer Traktat, das künstlerische Zeugnis einer Epoche. Im Sommer 1936 waren der 27-jährige Dichterjournalist James Agee und der Fotograf Walker Evans in den amerikanischen Süden gereist - nach Oklahoma und nach Alabama - , um die Baumwoll-Pachtwirtschaft zu dokumentieren: aus dem Reportageauftrag einer Zeitschrift entstand ein erst 1941 veröffentlichtes Werk, das von der New York Library zu den einflussreichsten Buchdokumenten des zwanzigsten Jahrhunderts gezählt wird. Mehrere Wochen lebten James Agee und Walker Evans mit drei ausgewählten weißen Pächterfamilien zusammen und teilten deren erbarmungslos elendigen Alltag und eine kaum vorstellbare Armut, die Bedrohung durch Hunger und Vertreibung. Die schockierende Konfrontation mit diesen Lebensverhältnissen löste auch die Einsicht in die Unmöglichkeit einer herkömmlichen Berichterstattung aus.


    Das Buch erschien zuerst 1941 bei Houghton Mifflin, Boston, unter dem Titel "Let Us Now Praise Famous Men: Three Tenant Families". Die deutsche Übersetzung von Karin Graf erschien zuerst 1989 bei Schirmer-Mosel, München, unter dem Titel "Preisen will ich die großen Männer: Drei Pächterfamilien". Diese Ausgabe umfasst 534 Seiten. Im Jahr 2013 erschien Karin Grafs Übersetzung (von ihr noch einmal durchgesehen) auch bei Die Andere Bibliothek, Berlin. Diese Ausgabe umfasst 520 Seiten.



    Die Lektüre habe ich mir leichter vorgestellt. Vielleicht liegt hier der Hund begraben, warum die ursprünglich als Zeitungsreportage geplante Veröffentlichung sich zerschlagen hat und die einige Jahre später als an Umfang sehr aufgestockte Buchausgabe ziemlich untergegangen ist. Denn Agee gibt einem nicht das, was man erwartet: Er zeichnet keine sentimentalen Armutsbilder. Da merkt man erst, wie sehr man an die sensationslüsternde Draufschau voller vorgeschobenen Mitgefühls gewohnt ist, die ihr billiges Betrübtsein kaum kaschiert.


    Nichts dergleichen bei Agee: Hier ist jedes Mitgefühl echt gefühltes Leid, so wie man den Autor auch in seinem Roman „Ein Todesfall in der Familie“ kennenlernen darf. Allerdings steht er sich in dieser Sozialreportage über drei arme Pächterfamilien Mitte der 1930er in Alabama manchmal ein wenig selbst im Weg: Es ist zwar mehr als löblich, dass Agee zum Ausdruck bringen will, wie sehr ihm daran gelegen ist, so authentisch wie möglich und ganz ohne Sentiment, Vorverurteilung oder billigen Effekt zu berichten; das er klarmacht, dass das fast unmöglich ist, und wie sehr die Beobachtung durch den Umstand des Beobachtens verfälscht wird - der Berichterstatter als "Spion", der in das Leben bescheidener Leute eindringt - , wie wenig der kurze Einblick einen echten Eindruck in einen lebenslangen Zustand zu liefern vermag. Jedoch schreibt er für meinen Geschmack vielleicht etwas zu oft über dieses quasi meta-journalistische Thema. Ganze Kapitel sind eher der Versuch einer Bewusstseinsfindung, der Versuch einer Weltbeschreibung, Ausdruck des eigenen Unvermögens, die Welt adäquat zu beschreiben. Seitenweise sind mir seine Auslassungen dann und wann sogar einigermaßen rätselhaft, und ich wusste nicht immer, worauf er hinauswollte. Das Buch erreicht eine äußerst hohe literarische Komplexität, die den Bereich der Sozialreportage fortwährend sprengt, angereichert mit den Gefühlen und persönlichen Eindrücken des Berichtenden.


    Ich freute mich stets, wenn er zu seinem konkreten Thema zurückfand. Es gibt sehr ausführliche Beschreibungen der Häuser, der Kleidung, des Essen, aber auch der Arbeitsgeräte, der wenigen Nippsachen und der Möbel. Außerdem gibt es Kapitel zu Erziehung und der bäuerlichen Arbeitsweise. Vielen wird das zu ausführlich sein, wie Agee hier versucht, die Neutralität eines Kameraauges nachzubilden. Das ist sehr ausführlich, aber sein Vorhaben gelingt! Denn es gibt immer den Umschaltpunkt, wenn sich aus dem Wust mit plötzlicher Wucht ein tiefes Erkennen herausschält, ein Erschrecken, das einen unmittelbar – alle narrativen Mittel sind vergessen - die grauenvolle Not der Pächter und ihr Bemühen, sich Würde zu bewahren, fühlen lässt. Die Scham über fadenscheinige Kleidung, aber auch den Stolz über etwas Schmuck. Kleider, die immer noch armselig sind, aber mit vollem Bewusstsein als „die schönen Kleider“ getragen werden.


    Wenn es all die Worte braucht, dieses Ergebnis zu schaffen, bitte sehr. Doch etwas mehr Lesbarkeit wäre trotzdem schön gewesen. Ich bin also tief beeindruckt, aber auch ermattet. Die Passagen, in denen er in ganz klaren Worten schreibt – und das sind die meisten – sind beeindruckend. Ein empathischer Meilenstein, der von dokumentarischer Genauigkeit bis zu poetischer Schönheit denkbar viele literarische Facetten abdeckt. Manches Mal habe ich mit dem Autor aber auch gehadert wegen seiner Verquastheit, wenn er sich selbst im Weg steht und von keinem Lektor gebremst wird. Andererseits ist das vielleicht nicht die schlechteste Kombination für Literatur: begeistert, traurig, überwältigt, ermattet, wütend. Figuren, die man nicht aus dem Kopf bekommt. Das Einfache, das zu Archetypen geformt wurde. Und eingewoben in die Abhandlung des Themas immer wieder das Ringen um die bestmögliche Vermittlung von Wahrhaftigkeit. Wenn sich Wahrhaftigkeit denn überhaupt übermitteln lässt. Ein wirklich kolossales, schwieriges, einfaches Buch. :applause:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (54/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Eine amerikanische Neuausgabe aus dem Jahr 2000 mit 432 Seiten Umfang.

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  • Die französische Übersetzung unter dem Titel "Louons maintenant les grands hommes. Alabama : Trois familles de métayers en 1936" erschienen, zunächst 1972 bei Plon in Paris in der Collection "Terre Humaine". Neuausgabe 1993.

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  • Und eine italienische Ausgabe, übersetzt von L. Fontana, erschienen u.a. 1994 und 2013 als "Sia lode ora a uomini di fama".

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  • Mario

    Hat den Titel des Themas von „James Agee & Walker Evans - Preisen will ich die großen Männer. Drei Pächterfamilien / Let Us Now Praise Famous Men. Three Tenant Families“ zu „James Agee - Preisen will ich die großen Männer / Let Us Now Praise Famous Men“ geändert.
  • Marie Bei Agee werden die beobachteten und beschriebenen Figuren nicht in melodramatische oder rührselige Situationen "gebracht". Es gibt kein Arrangement in Armutstableaus. Hier gibt es keine zerlumpten Pächterkinder, die im Unflat spielen, während eine verlebte, überarbeitete Mutter den Haushalt versorgt, herrisch Befehle erteilt und ihre Kinder lieblos anschimpft. Keine großen Kinderaugen, schmutzstarrend, Fliegen summen drum herum. Dabei sind die Kinder tatsächlich zerlumpt. Und ihre Eltern sind tatsächlich verlebt. Aber das erzählt sich eher über eine genaue Beschreibung der Oberfläche, nicht über eine hineingelesene Beschreibung der Gefühlswelt. Der Autor enthält sich auch jeder Wertung. So versucht er, den Figuren so gut wie möglich ihre Würde zu erhalten. Wie ein Kameraauge. Aber eines, das die eigene "Unschärferelation", die eigene Rolle beim Aufnehmen der "äußeren Wirklichkeit" ständig reflektiert - und darüber hadert. Die "Abbilder" werden vor dem Leser ausgebreitet, nicht die beschriebene Gefühle, die sich einstellen sollen, auf dass der Leser selbst eine Haltung zu dem Beschriebenen einnimmt. Als wenn man länger als gewöhnlich ein Foto betrachtet und nach und nach immer mehr als die reinen Oberflächenreize und Ersteindrücke wahrnimmt.
    Das wird für mich an einem der schönsten Fotos (es sind im Vergleich zum Textteil wirklich sehr wenige Fotos, die auch nicht illustrativ verwendet werden, sondern isoliert und fast ohne Beschreibung für sich stehen) besonders gut deutlich: das Porträtfoto von Allie Mae Burroughs, die im Buch Annie Mae Gudger genannt wird. Wenn ich mir das Foto lange Zeit anschaue, fallen alle schnell gefassten Vorurteile (harte, engherzige, wenig liebenswerte Frau) völlig ab, und zurück bleibt - ohne Wertung - ein Mensch, mit all seinen Hoffnungen, Ängsten, Glücksmomenten und Beschwernissen.

    Ich hoffe, das beantwortet die Frage ein wenig! :winken:

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  • Aber das erzählt sich eher über eine genaue Beschreibung der Oberfläche, nicht über eine hineingelesene Beschreibung der Gefühlswelt. Der Autor enthält sich auch jeder Wertung.

    Das klingt nach einem Autor, der das klassische "Show, don't tell" beherrscht. Jetzt ist der Unterschied klar.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)