Original : Französisch, 2018
INHALT :
Eine Insel im Archipel des Hundes. Eine kleine Gesellschaft lebt vom Fischen, dem Weinanbau, Olivenplantagen und Kapern, ziemlich weit ab vom Schuss. Bis zum Tag, an dem drei Leichen an den Strand angespült werden. Die Inselbewohner, bzw die Zeugen, werden in ihrer vermeintlichen Ruhe erschüttert und stehen plötzlich vor Entscheidungen, die ihre wahre Natur enthüllen.
Was sollen sie mit den Körpern tun, die ein gewisses Projekt Infrage stellen, den Ruf der Insel besudeln ? Meinungen weichen voneinander ab, Gewissen und Skupellosigkeit treffen aufeinander… Wie geht’s weiter ?
BEMERKUNGEN :
Der Roman ist nicht geographisch einzuordnen und bedient sich einer Mischung von Elementen aus der Realität und « Fabelwelt ». Dennoch wären einige Charakterisierungen durchaus zutreffend auf zB die Kanarischen Inseln (Canes kommt ebenfalls von « Hund », siehe auch : https://viagallica.com/canaries/index.html ), Auf diesen vulkanisch geprägten Inseln begann letztlich sogar das neu einsetzende Flüchtlingselend mit den ersten aus Senegal fliehenden, teils strandenden, angespülten Menschen. AberElemente treffen in manchen anderen Beschreibungen auch auf Skandinavien, Island etc zu...
Aber in den fulminanten ersten Seiten richtet sich der geheimnisvolle Erzähler, Zeuge, weder Mann noch Frau, aber ein Störenfried an alle, da sich dies alles hätte « überall abspielen können, gestern, vor einem Jahr oder heute, und wir uns quasi mit angesprochen fühlen sollten ». Denn das Beschriebene hat eine Art universaler Gültigkeit.
Die relativ isoliert lebende Inselgemeinschaft wird von den drei angespülten Leichen von afrikanischen Flüchtlingen beunruhigt. Ist dies die Infragestellung der eigenen Ruhe ? Wird dies etwa die Investoren eines Thermenprojektes letztlich sich umdrehen lassen, dies den « guten Ruf gefährden » ? Es bildet sich unter den circa sieben namenlosen, nach ihren Funktionen genannten Zeugen des Geschehens wie eine verschworene Gemeinschaft, wie zu reagieren sei, angeführt vom Bürgermeister, der das Zepter in der Hand hat. Aber letztlich ziehen alle mit. Nur der junge, selber erst kürzlich zugezogene Lehrer bäumt sich ein wenig auf. Nach der « Entsorgung » der Leichen wird anscheinend er allein angetrieben sich zu fragen, was es mit all dem auf sich hat…
Ich lasse es dabei mit inhaltlichen Bemerkungen.
Angesichts gewisser Schlüsselereignisse werden die Menschen in Claudels Romanen oft vor ihre eigene Wahrheit geführt. Die dunkle Seite, die Kleinheit der Menschenseele, des Gewissens… Sie liegt ganz nahe, und es scheint manchmal, als ob das ganze Buch von einem Pessimismus durchzogen ist? Pessimismus angesichts des Verhaltens gegenüber dem « Fremden », dem « Anderen », hier nicht nur allein ausgedrückt durch die drei toten Flüchtlinge, sondern dann zunehmend noch symbolisierter durch den zugezogenen Lehrer...
« Die Mehrheit der Menschen erahnt nicht in sich den dunklen Anteil, den sie doch besitzen. Oft sind es die Umstände, die ihn aufdecken : Kriege, Hungersnöte, Katastrophen, Revolutionen, Genozide. Wenn sie ihn dann zum ersten Male betrachten, dann sind sie davon im Geheimen ihres Bewusstseins zutiefst erschrocken, und sie erzittern. »
Oder schieben wir die Erinnerung weg, ignorieren sie ? Ist der Andere, Fremde, empfindlicher für das an Ebensolchen geschehene Unrecht ? Ist es die Ratio, der Glaube, das Wissen, die politische Macht, die das Gute unterscheiden ? Wie bilden sich ausbreitende Empörungsgemeinschaften, hinter denen eigentlich ein Selbstschutzmechanismus steckt ? Ist der unerwünschte Fremde immer ein « Störenfried » ? Ist aber auch die Verweigerung des Anderen unsere eigene Verneinung und Niederlage, wird zu unserem Albtraum ? Wie viele Fragen hier doch aufgeworfen werden… und universellen Charakter erlangen.
Allerdings
liegt auch darin eine Gefahr : die namenlosen Typen an Reaktion
und Repräsentanten der Gesellschaft ebnen die unterschiedlichsten
Antwortsmöglichkeiten etwas ein. Insofern : Gefahr der
Verallgemeinerung ? Verlust der Individualität?
Der Leser Claudels wird in anderen Büchern ähnliche Themen wiederfinden. Besonders sticht dabei, meines Erachtens, « Brodecks Bericht » hervor, den ich persönlich für das bisherige Meisterwerk des Franzosen halte. Doch sehr weit weg ist er nun mit diesem Buch nicht von einem weiteren großen Wurf. Eventuell manchmal zu explizit, zu erklärend fast schon, dass er uns quasi die Konsequenzen oder Prämissen zu mundgerecht liefert ? Eine gewisse Reduzierung auf Andeutungen hätte eventuell das Ganze noch dichter gemacht ?
Aber unbedingt lesenswert ! Na, übersetzt wird das ja wohl ?!
AUTOR :
Philippe Claudel (* 2. Februar 1962 in Dombasle-sur-Meurthe, Lothringen) ist ein französischer Schriftsteller, Dramatiker und Filmregisseur. Die Mutter war Arbeiterin in der Textilindustrie, sein Vater ehemaliger Widerstandskämpfer, Holzfäller vor dem Kriege. Die Kindheit verbrachte Claudel in seinem Geburtstort. Abitur 1981 und anschliessend während zwei Jahre ein « ungeordnetes » Leben…
Er hat Literatur studiert und ist ausgebildeter Pädagoge mit staatlicher Lehrbefugnis. Vor seiner literarischen Karriere war er elf Jahre lang als Lehrer in einem Gefängnis in Nancy tätig. In den autobiographischen Notizen Das Geräusch der Schlüssel schildert Claudel in kurzen, aneinandergereihten Episoden seine Eindrücke aus der Zeit als Gefängnislehrer. In Nancy unterrichtet er noch heute an der Universität. 2001 Doktorarbeit in französischer Literatur.
1983 lernte er seine spätere Frau Dominique kennen. Sie haben eine Tochter.
Produktinformation
Taschenbuch: 282 Seiten
Verlag: Stock (14. März 2018)
Sprache: Französisch
ISBN-10: 2234085950
ISBN-13: 978-2234085954