Philippe Claudel – L’Archipel du Chien

  • Kurzmeinung

    tom leo
    Der Andere als Störenfried und Eindringling in einer geschlossenen Gesellschaft... Hervorragend!
  • Original : Französisch, 2018


    INHALT :

    Eine Insel im Archipel des Hundes. Eine kleine Gesellschaft lebt vom Fischen, dem Weinanbau, Olivenplantagen und Kapern, ziemlich weit ab vom Schuss. Bis zum Tag, an dem drei Leichen an den Strand angespült werden. Die Inselbewohner, bzw die Zeugen, werden in ihrer vermeintlichen Ruhe erschüttert und stehen plötzlich vor Entscheidungen, die ihre wahre Natur enthüllen.


    Was sollen sie mit den Körpern tun, die ein gewisses Projekt Infrage stellen, den Ruf der Insel besudeln ? Meinungen weichen voneinander ab, Gewissen und Skupellosigkeit treffen aufeinander… Wie geht’s weiter ?


    BEMERKUNGEN :

    Der Roman ist nicht geographisch einzuordnen und bedient sich einer Mischung von Elementen aus der Realität und « Fabelwelt ». Dennoch wären einige Charakterisierungen durchaus zutreffend auf zB die Kanarischen Inseln (Canes kommt ebenfalls von « Hund », siehe auch : https://viagallica.com/canaries/index.html ), Auf diesen vulkanisch geprägten Inseln begann letztlich sogar das neu einsetzende Flüchtlingselend mit den ersten aus Senegal fliehenden, teils strandenden, angespülten Menschen. AberElemente treffen in manchen anderen Beschreibungen auch auf Skandinavien, Island etc zu...


    Aber in den fulminanten ersten Seiten richtet sich der geheimnisvolle Erzähler, Zeuge, weder Mann noch Frau, aber ein Störenfried an alle, da sich dies alles hätte « überall abspielen können, gestern, vor einem Jahr oder heute, und wir uns quasi mit angesprochen fühlen sollten ». Denn das Beschriebene hat eine Art universaler Gültigkeit.


    Die relativ isoliert lebende Inselgemeinschaft wird von den drei angespülten Leichen von afrikanischen Flüchtlingen beunruhigt. Ist dies die Infragestellung der eigenen Ruhe ? Wird dies etwa die Investoren eines Thermenprojektes letztlich sich umdrehen lassen, dies den « guten Ruf gefährden » ? Es bildet sich unter den circa sieben namenlosen, nach ihren Funktionen genannten Zeugen des Geschehens wie eine verschworene Gemeinschaft, wie zu reagieren sei, angeführt vom Bürgermeister, der das Zepter in der Hand hat. Aber letztlich ziehen alle mit. Nur der junge, selber erst kürzlich zugezogene Lehrer bäumt sich ein wenig auf. Nach der « Entsorgung » der Leichen wird anscheinend er allein angetrieben sich zu fragen, was es mit all dem auf sich hat…


    Ich lasse es dabei mit inhaltlichen Bemerkungen.


    Angesichts gewisser Schlüsselereignisse werden die Menschen in Claudels Romanen oft vor ihre eigene Wahrheit geführt. Die dunkle Seite, die Kleinheit der Menschenseele, des Gewissens… Sie liegt ganz nahe, und es scheint manchmal, als ob das ganze Buch von einem Pessimismus durchzogen ist? Pessimismus angesichts des Verhaltens gegenüber dem « Fremden », dem « Anderen », hier nicht nur allein ausgedrückt durch die drei toten Flüchtlinge, sondern dann zunehmend noch symbolisierter durch den zugezogenen Lehrer...


    « Die Mehrheit der Menschen erahnt nicht in sich den dunklen Anteil, den sie doch besitzen. Oft sind es die Umstände, die ihn aufdecken : Kriege, Hungersnöte, Katastrophen, Revolutionen, Genozide. Wenn sie ihn dann zum ersten Male betrachten, dann sind sie davon im Geheimen ihres Bewusstseins zutiefst erschrocken, und sie erzittern. »

    Oder schieben wir die Erinnerung weg, ignorieren sie ? Ist der Andere, Fremde, empfindlicher für das an Ebensolchen geschehene Unrecht ? Ist es die Ratio, der Glaube, das Wissen, die politische Macht, die das Gute unterscheiden ? Wie bilden sich ausbreitende Empörungsgemeinschaften, hinter denen eigentlich ein Selbstschutzmechanismus steckt ? Ist der unerwünschte Fremde immer ein « Störenfried » ? Ist aber auch die Verweigerung des Anderen unsere eigene Verneinung und Niederlage, wird zu unserem Albtraum ? Wie viele Fragen hier doch aufgeworfen werden… und universellen Charakter erlangen.


    Allerdings liegt auch darin eine Gefahr : die namenlosen Typen an Reaktion und Repräsentanten der Gesellschaft ebnen die unterschiedlichsten Antwortsmöglichkeiten etwas ein. Insofern : Gefahr der Verallgemeinerung ? Verlust der Individualität?


    Der Leser Claudels wird in anderen Büchern ähnliche Themen wiederfinden. Besonders sticht dabei, meines Erachtens, « Brodecks Bericht » hervor, den ich persönlich für das bisherige Meisterwerk des Franzosen halte. Doch sehr weit weg ist er nun mit diesem Buch nicht von einem weiteren großen Wurf. Eventuell manchmal zu explizit, zu erklärend fast schon, dass er uns quasi die Konsequenzen oder Prämissen zu mundgerecht liefert ? Eine gewisse Reduzierung auf Andeutungen hätte eventuell das Ganze noch dichter gemacht ?


    Aber unbedingt lesenswert ! Na, übersetzt wird das ja wohl ?!


    AUTOR :

    Philippe Claudel (* 2. Februar 1962 in Dombasle-sur-Meurthe, Lothringen) ist ein französischer Schriftsteller, Dramatiker und Filmregisseur. Die Mutter war Arbeiterin in der Textilindustrie, sein Vater ehemaliger Widerstandskämpfer, Holzfäller vor dem Kriege. Die Kindheit verbrachte Claudel in seinem Geburtstort. Abitur 1981 und anschliessend während zwei Jahre ein « ungeordnetes » Leben…


    Er hat Literatur studiert und ist ausgebildeter Pädagoge mit staatlicher Lehrbefugnis. Vor seiner literarischen Karriere war er elf Jahre lang als Lehrer in einem Gefängnis in Nancy tätig. In den autobiographischen Notizen Das Geräusch der Schlüssel schildert Claudel in kurzen, aneinandergereihten Episoden seine Eindrücke aus der Zeit als Gefängnislehrer. In Nancy unterrichtet er noch heute an der Universität. 2001 Doktorarbeit in französischer Literatur.


    1983 lernte er seine spätere Frau Dominique kennen. Sie haben eine Tochter.


    Produktinformation


    Taschenbuch: 282 Seiten

    Verlag: Stock (14. März 2018)

    Sprache: Französisch

    ISBN-10: 2234085950

    ISBN-13: 978-2234085954

  • Na, übersetzt wird das ja wohl ?!

    Ich hoffe doch!

    ich habe "Die grauen Seelen" hier liegen, irgendwo in den Tiefen der

    ungelesenen Bücher. Sollte ich endlich mal lesen.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Na, übersetzt wird das ja wohl ?!

    Ich warte darauf, habe aber keine Informationen darüber gefunden.

    Nun, das Buch ist wirklich noch ziemlich frisch, gerade zwei Monate alt. Und Claudel ist noch auf Vorstellungstournee... Nächste Woche dann auch hier in unserer Gegend, und ich werde echt versuchen hinzufahren!

  • Der Stein kommt ins Rollen. Erscheint im September schon mal auf Niederländisch! Hallo Brigitte !

  • Dieses gute Buch erschien inzwischen auf Englisch!


    The Dog Islands are a small, isolated cluster of islands in the Mediterranean - so called because together, when viewed from above, they form the shape of a dog, twisting and baring its teeth against a brilliant blue sea. One of the only inhabited islands (the one that takes the place of one of the dog's teeth) is dominated by a gently smoking volcano, fringed by black volcanic beaches and under the iron rule of the heads of community who are loath to let any outside influence disrupt the quiet way of life on the island.

    Then one morning, an old woman comes across three bodies that have washed up with the tide: three young black men, who have apparently drowned in their attempt to cross the sea. The initial reaction of the island community is that this tragedy must be covered up, lest any association with the drownings damages the island's tourism industry . . .

    But the island's deliberate isolation from the realities of the world cannot last for long, and when a visiting detective arrives on the island and starts asking awkward questions, it becomes clear that the deaths of these three men indicate something far more sinister and deeply rotten lying at the heart of this godforsaken fragment of sea-bound land.