Katherine Webb - Das verborgene Lied / A Half Forgotten Song

  • Klappentext:

    In einem einsamen Cottage auf den Klippen von Dorset lebt die betagte Dimity Hatcher. Niemand ahnt, mit welcher Tat aus Liebe und Eifersucht sie einst eine ganze Familie zerstörte. Über siebzig Jahre bleibt ihr Geheimnis unentdeckt, bis eines Tages ein junger Mann vor ihrer Tür steht. Zach ist auf der Suche nach seinen Wurzeln, die ihn an die Küste Dorsets führt. Mithilfe der unnahbaren Hannah, Dimitys Nachbarin, kommt er nach und nach der verheerenden Wahrheit auf die Spur. – Amazon


    Zur Autorin:

    Katherine Webb, geboren 1977, wuchs im ländlichen Hampshire auf und studierte Geschichte an der Durham University. Heute lebt sie in der Nähe von Bath, England. Nach dem großen internationalen Erfolgsdebüt »Das geheime Vermächtnis« folgten zahlreiche Romane wie »Das fremde Mädchen« oder »Italienische Nächte«, die die Autorin auch in Deutschland zu einer festen Größe auf der SPIEGEL-Bestsellerliste machten. (von der Diana-Verlagsseite kopiert)


    Allgemeine Informationen:

    A Half Forgotten Song

    Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Volk

    6 CDs, Lesezeit 418 min

    Gelesen von Anna Thalbach


    Persönliche Meinung:

    Ein geheimnisvoller Maler, seine alten Bilder, eine windumtostes Haus in den Klippen, eine alte Frau mit bewegter Vergangenheit, in der Liebe und Tod die Hauptrollen spielen – ein junger Mann auf der Suche nach dem Leben des Malers, eine interessante junge Frau, ein Dorf bevölkert von schweigenden Leuten.

    Mehr braucht man nicht, um sich während langweiliger Autofahrten zu unterhalten. Sprache und Stil rauschen vorbei, Hauptsache, die Handlung passt.

    Passt sie? Oder ist sie nicht eher an den Haaren herbeigezogen, unglaubhaft und fragwürdig? Oder habe ich mal wieder Probleme – nicht zum ersten Mal mit einer Figur, die an ewiger Liebe erkrankt und nichts für die Heilung unternimmt, sondern sich so in ihre Zustände hineinsteigert, dass ein Unschuldiger sterben muss?

    Die Figurenzeichnung ist die Stärke des Buches, wenn auch manches Klischee herhalten muss. Anderseits wird die Handlung im letzten Drittel aberwitzig bis zur Lächerlichkeit.


    Anna Thalbach liest das Buch wie ein Solo-Hörspiel mit kieksenden Jungmädchen-, zittrigen Altfrauenstimmen und sonor betonen Männern. Zu dumm: Ich möchte ein Buch vorgelesen, nicht vorgespielt bekommen. Thalbachs Stimm-Variationen sind auf den Theaterbühnen sicher großartig, im Hörbuch mag ich sie weniger, auch wenn Tempo und Betonung erstklassig sind.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Nach der Trennung von seiner Frau wendet sich Zach, Betreiber einer wenig erfolgreichen Kunstgalerie, endlich wieder einem seiner vernachlässigten Projekte zu. Für sein Buch über den Maler Charles Aubrey möchte er weitere Einblicke in dessen Leben und Werk gewinnen. In der Hoffnung, noch Unbekanntes über den von ihm verehrten Künstler zutage zu fördern, reist er für seine Recherchen nach Dorset.

    Hier hatte der Maler mit seiner Familie in den 1930-er Jahren mehrere Sommer verbracht, und viele seiner bedeutendsten Bilder geschaffen. Sein bevorzugtes Modell war ein Mädchen aus dem Dorf, Dimity Hatcher, Mittie, die sich mit seinen beiden Töchtern angefreundet hatte.

    Zu Zachs eigener Verwunderung lebt die nun 87-jährige Mittie bei bester Gesundheit immer noch in ihrem Cottage, und ist sogar bereit, mit dem jungen Mann über Charles Aubrey zu sprechen. Im Laufe der Zeit vertraut sie Zach Unglaubliches an, Geheimnisse, die jahrzehntelang in ihrem Innersten verschlossen blieben.

    Auch das Verhalten von Mitties Nachbarin Hannah, zu der sich Zach sehr hingezogen fühlt, gibt ihm immer wieder Rätsel auf. Doch Zach ist entschlossen, endlich die ganze Wahrheit ans Tageslicht zu bringen.


    Im Gegensatz zu anderen Rezensenten, deren Beiträge zu diesem Buch ich im Vorfeld gelesen habe, vermochte mich Katherine Webb mit ihrer Geschichte von Anfang an vollkommen zu fesseln. Möglicherweise liegt eine Ursache dafür auch in der Vortragsweise der Sprecherin Anna Thalbach, die mit ihrer ausdrucksvollen Stimme auch über weniger ereignisreiche Passagen hinwegträgt und Langeweile erst gar nicht aufkommen lässt.

    Der Autorin ist es meiner Meinung nach hervorragend gelungen, die beiden Zeitebenen, auf denen sie ihre Geschichte spielen lässt, miteinander zu verbinden, wobei mir der in der Vergangenheit angesiedelte Handlungsstrang weit besser gefallen hat als der gegenwärtige.

    Ganz großartig zeichnet Katherine Webb ihre Figuren, schildert sie so realistisch und lebendig, dass ich sie alle bildlich vor mir sehen konnte. Die Charakterisierung der Protagonistin Dimity Hatcher ist ihr hervorragend gelungen. Sowohl als junges Mädchen als auch als alte Frau ist mir selten eine Hauptfigur untergekommen, die mir so von Herzen unsympathisch war wie diese Mittie. Wie sie sich immer mehr in das Leben der Familie Aubrey drängt und sich in eine Zukunft hineinträumt, die jeder realen Grundlage entbehrt, konnte ich mir nur mit ihrer lieblosen Kindheit erklären. Ihre verzweifelte Sehnsucht nach Zuwendung, nach Liebe und Geborgenheit rechtfertigt natürlich nicht, wozu sie sich schließlich hinreißen lässt, und doch will mir kein anderes Motiv dafür einfallen. Mit der schmuddeligen alten Frau, die blutige Rinderherzen in den Kamin hängt und sich ihrer roten Handschuhe wohl niemals entledigt, konnte ich erst recht nicht sympathisieren.

    Und doch bezeugen gerade solche facettenreiche Charaktere mit ihren wenig liebenswerten Eigenschaften in meinen Augen das große schriftstellerische Talent der Autorin. Dazu gehört auch Mitties Mutter, die als Wahrsagerin, Kräuterfrau und Prostituierte ein kärgliches und freudloses Dasein fristet.

    Umso deutlicher konnte Katherine Webb den Kontrast zur Familie des Malers Charles Aubrey herausarbeiten. Seine Lebensgefährtin Celeste ist eine marokkanische Schönheit, die für den Geliebten alles aufgegeben hat. Aber auch ihren beiden behüteten und wohlerzogenen Töchtern ist sie eine liebevolle und fürsorgliche Mutter. Und selbst für die kleine Dimity, die Charles so gerne zeichnet, hegt sie zärtliche Gefühle, bis sie erkennen muss, in welchen Wahn sich die Heranwachsende zunehmend hineinsteigert.

    Viel Herz legt Katherine Webb aber auch in so manche ihrer Nebenfiguren. Mitties einziger Verehrer, ein alter Schulfreund, der sie seit Kindertagen liebt, und der sie gerne geheiratet hätte, hat mir in seiner schüchternen Anhänglichkeit und lebenslangen Treue sehr gut gefallen.

    Mich konnte der Roman sowohl inhaltlich als auch sprachlich völlig überzeugen. Flüssig geschrieben, eignet er sich nicht nur zum Selberlesen, sondern ist auch als Hörbuch der reinste Genuss.

    Dass die Autorin am Ende ihrer Geschichte vielleicht mit des Rätseln Lösungen eine Spur zu dick aufgetragen hat, kann meine Begeisterung überhaupt nicht dämpfen. Allein für so viel Fantasie muss es schon die volle Punktezahl geben. Davon abgesehen ist die Umsetzung einer bezaubernden Idee wirklich hervorragend gelungen, und ich durfte mich für 16 Stunden 41 Minuten in ganz andere Zeiten und Welten entführen lassen.

    Besonders berührt hat mich der letzte Satz, der in Anlehnung an Charles häufige Aufforderung zu verstehen ist, Mittie solle in einer bestimmten Position verharren, damit er sie so zeichnen könne:

    Zitat

    "Mittie, nicht bewegen!" Und das tat sie auch nicht, nicht einmal um zu atmen.

    Nicht zuletzt möchte ich noch einmal die beeindruckende Leistung der Sprecherin Anna Thalbach hervorheben. Sie versteht es nicht nur großartig, den Figuren durch ihr Intonation zusätzliches Leben einzuhauchen, sondern auch Lesetempo und Stimmlage den jeweiligen Erfordernissen des Textes hervorragend anzupassen.


    Fantastische :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: