Jesmyn Ward - Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt/ Sing, Unburied, Sing

  • Rassismus, soziales Elend und Enttäuschungen, aber auch eine Familiengeschichte - davon erzählt der mit dem National Book Award ausgezeichnete Roman von Jesmyn Ward.

    Der 13-jährige Jojo und seine kleine Schwester Kayla wachsen bei ihren Großeltern Pop und Mam auf; ihre Mutter Leonie, die zwar ebenfalls dort lebt, kümmert sich kaum um ihre Kinder, fühlt sich überfordert. Leonie arbeitet in einer Bar und wenn sie high ist, hat sie Visionen, bei denen sie ihren toten Bruder sieht.

    Während Mam mit ihrer schweren Krankheit kämpft, kümmert sich Pop um den Haushalt und um die Erziehung seiner Enkel. Er erzählt Jojo des öfteren von seiner Vergangenheit.

    Als Michael, der weiße Vater von Jojo und Kayla, aus dem Gefängnis entlassen wird, packt Leonie ihre Kinder und ihre Freundin ins Auto und macht sich auf den Weg, um Michael vom staatlichen Gefängnis "Parchment Farm" abzuholen.

    Erzählt wird die Geschichte anfangs abwechselnd aus der Erzählperspektive von Leonie und Jojo, später kommt noch eine dritte Erzählstimme, die von Richie, hinzu. Richie gehört zu den "unburied", denjenigen, die durch Gewalt ums Leben kamen und denen ein ordentliches Begräbnis verweigert wurde.

    Richie reist als Geist mit, sitzt im Auto eingezwängt auf dem Boden. Jojo besitzt die seltene Gabe, die Toten zu sehen und mit ihnen reden zu können.

    Jesmyn Ward gewährt dem Leser einen Einblick in die amerikanische Gesellschaft, ihren Losern, Drogen, Kriminalität und ihrem Rassismus, der selbst innerhalb der Familie keinen Halt macht.

    So können Michaels Eltern immer noch nicht akzeptieren , dass ihr Sohn Michael sich mit einer Schwarzen eingelassen hat und wollen ihre Enkel nicht sehen.

    Durch Pops Erinnerungen und die Erzählstimme von Richie umfasst die Geschichte einen größeren Zeitraum.

    Die Vergangenheit prägt die Gegenwart, aus ihr muss man lernen und dann verändern.

    Die Figuren sind gut gezeichnet, besonders gefiel mir Jojo, der sich liebevoll um seine kleine Schwester kümmert und damit sogar mehr Bezugsperson als Leonie ist.


    Die Autorin:

    Jesmyn Ward, geb. 1977, wuchs in DeLisle, Mississippi, auf. Nach einem Literaturstudium in Michigan war sie Stipendiatin in Stanford und Writer in Residence an der University of Mississippi. Sie lehrt derzeit Englische Literatur an der Tulane University in New Orleans. Jesmyn Ward ist die erste Frau, die zweimal mit dem wichtigsten amerikanischen Literaturpreis, dem National Book Award, ausgezeichnet wurde: für "Vor dem Sturm" (Kunstmann, 2013) und für "Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt" (Kunstmann, 2018). 2017 wurde ihr auch der MacArthur Genius Grant verliehen. (Quelle: Verlagsseite)

  • Danke für Deinen Eindruck!


    Das Buch wurde vor 4 Wochen in der SZ geradezu euphorisch besprochen und steht seitdem auf

    meiner Wunschliste - und jetzt habe ich es bestellt. "Was für eine Geschichte! Elend und Poesie, knochenharte Tatsachen, Geister und Magie, Archaisches und

    Gegenwärtiges, Leben und Tod" (SZ) liegen hier beieinander.


    Das Cover der Originalausgabe gefällt mir allerdings besser...!

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Gern geschehen - dann bin ich auf deinen Eindruck gespannt, drawe . Ich hoffe, der Roman gefällt dir ebenfalls.

    Ihren Roman "Vor dem Sturm" habe ich schon länger auf dem SuB und werde ihn sicher bald lesen.

  • Roman "Vor dem Sturm"

    Jesmyn Ward ist für komplettes Neuland!

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • ch hoffe, der Roman gefällt dir ebenfalls.

    Ich bin absolut begeistert. Was für eine Geschichte, und was für eine wunderbare Sprache!

    Bei Gelegenheit schreibe ich eine "anständige" Rezension - das jetzt nur vorab.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Klappentext, gekürzt(Quelle: amazon):


    Jojo und seine kleine Schwester Kayla leben bei ihren Großeltern Mam and Pop an der Golfküste von Mississippi. Leonie, ihre Mutter, kümmert sich kaum um sie. Sie nimmt Drogen und arbeitet in einer Bar. Wenn sie high ist, wird Leonie von Visionen ihres toten Bruders heimgesucht, die sie quälen, aber auch trösten. Mam ist unheilbar an Krebs erkrankt, und der stille und verlässliche Pop versucht, den Haushalt aufrecht zu erhalten und Jojo beizubringen, wie man erwachsen wird. Als der weiße Vater von Leonies Kindern aus dem Gefängnis entlassen wird, packt sie ihre Kinder und eine Freundin ins Auto und fährt zur »Parchment Farm«, dem staatlichen Zuchthaus, um ihn abzuholen. Eine Reise voller Gefahr und Hoffnung.


    Mein Eindruck:


    Der Klappentext klingt, als handele es sich hier um einen Road Movie. Eine solche Einordnung greift entschieden zu kurz und wird dem Buch in keiner Weise gerecht.

    „Elend und Poesie, knochenharte Tatsachen, Geister und Magie, Archaisches und Gegenwärtiges, Leben und Tod … liegen ganz nah beieinander“ (SZ). Vor dem Leser entfaltet sich die Geschichte von drei Generationen einer schwarzen Familie im Mississippi-Delta. Drogen, Armut, Grausamkeit, Gefühlskälte, Ausgrenzung und der überall gegenwärtige Rassismus bestimmen ihren Alltag – aber auch Pflichtbewusstsein, Sorge und liebevolle Zuwendung zu den Anvertrauten. Mit wenigen Strichen zeichnet die Autorin ihre Personen, jeder der Akteure lebt und hat seine lebensbestimmende Geschichte.

    Die Autorin vermeidet eine zeitliche Einordnung, und dadurch erhält die Geschichte eine beklemmende Realität, die manchmal schwer auszuhalten ist.

    Die wiederholten Schilderungen von Erbrechen fallen in diesem Buch auf. Da kehrt sich das Innerste der Menschen nach außen – ein beklemmendes Bild.


    Das Buch beginnt mit einem alttestamentarischen Opferritual: der Schlachtung eines Ziegenbocks – und das Motiv des Opferrituals wird gegen Ende wieder aufgegriffen und in eine menschliche, zutiefst anrührendeTragödie eingebettet, bei der sich mentalen, seelischen Kräfteverhältnisse zwischen Enkel und Großvater umkehren.


    Dazu kommen die Geister der Vergangenheit, die zusammen mit den Ungeborenen die Lebenden umgeben und die die Hilfe der Lebenden brauchen, um ihre Geschichte zu Ende zu bringen und endlich „nach Hause“ zu kommen. Es sind schreckliche Schicksale, die sich hier auftun, archaisch, dunkel und gewaltig wie aus einem alten Mythos. Die krebskranke Großmutter, eine Heilerin, glaubt an christliche Heilige, aber auch an die Göttin Oya, „die Herrin der Winde, des Blitzes und der Stürme“ und kann schließlich nach einem fremdartigen Ritual sterben.


    Wunderschön erzählt wird die Liebe der beiden Geschwister, die die Hoffnungsträger in diesem Buch sind. Beide Geschwister leben in Verbindung mit ihren Vorfahren und erkennen im Gespräch mit den Toten mehr vom gegenwärtigen Leben. Es ist schließlich die kleine Schwester, die zusammen mit den Geistern ihr Lied singt: „Nach Hause“.


    Und die Sprache ! – ein Gesang wie der Gesang der kleinen Schwester, niemals larmoyant, aber immer einfühlsam.


    Das sind nur einige wenige Eindrücke.

    Ich bin begeistert, angerührt, betroffen von diesem wunderbaren Buch. 5 Sterne reichen kaum aus.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Es freut mich, dass dir das Buch ebenfalls gefiel; danke für die schöne Rezi.

    Mir hat das Buch über alle Maßen gefallen, und es geht mir irgendwie auch nach, und zwar so sehr, dass

    ich noch kein nächstes angefangen habe. Die Autorin ist eine so junge Frau - unglaublich.

    Statt dessen habe ich mir "Vor dem Sturm" gekauft.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Jesmyn Ward - Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

    Heimkehren

    Ein sehr interessant und extrem anders geschriebener Roman, bei dem für mich der Sog erst recht spät kam. Dafür gewinnt das Buch am Ende eine starke Intensität. Am Anfang war es nicht so die Durststrecke, aber ich kam nicht so ganz in die Geschichte, es war nicht so einfach zu lesen für mich. Aber das liegt denke ich bei mir. Die Sprache ist sehr poetisch und sehr mystisch, bildhaft und die Bilder sprechen zu einem, erzeugen Empfindungen/Gefühle. Aber das Geschriebene ist auch sprunghaft und verworren. Es ist bei dem Ganzen ein sehr starkes archaisches dunkles Element zu spüren. Die Autorin bedient sich sehr in diesem Buch bei Elementen des magischen Realismus, den ich wiederum sehr mag. Und bei diesem Roman sehr genießen konnte. Vielleicht sind es auch die Charaktere die mir das Lesen recht schwer gemacht haben. Die Drogenproblematik, Bindungsproblematik und Gefühlskälte lösen bei mir recht dunkle Empfindungen aus. Das sind Dinge mit denen ich nicht kann, für mich nicht nachzuvollziehen sind und einen tiefen Abscheu zu tage fördern. Andererseits wenn man sich mit den Charakteren einlässt, ist es doch wieder nachzuvollziehen. Aber diese Tiefe des Empfindens bedeutet ja auch irgendwie, das die Autorin etwas mit mir macht.


    Die Handlung zeichnet sich für mich darin aus, das aus drei verschiedenen Seiten heraus das Bild einer Familie gezeichnet wird, die Kapitel werden aus der Sicht von Leonie, Jojo und Richie erzählt. Es geht um eine arme schwarze Familie aus Bois Sauvage in Mississippi: Pop, der Großvater, sein Leben in der Familie, aber auch um einen zurückliegenden Gefängnisaufenthalt; Mam, die Großmutter, ihre Stellung in der Familie, eine Heilerin mit Bindung an einen alten Glauben/alte Götter, die unheilbar krank ist und stirbt; Leonie, die Tochter, ihre Drogensucht, ihre Bindungsprobleme, ihre Liebe, ihre Gefühlskälte; Given, der tote Bruder; Jojo, der Sohn von Leonie, der in seinen jungen Jahren recht früh erwachsen sein muss; Kayla/Michaela, die Tochter von Leonie, die in etwas hineinwächst, was ihr nicht gut tut; Michael, weiß, der Freund von Leonie, steht zwischen zwei Welten, ebenso mit einem Drogenproblem; Richie, ein toter Junge, der Pop im Gefängnis begegnet, eigentlich nicht zur Familie gehört, aber irgendwie an Pop/River gebunden ist und aus einer anderen Welt diese Familie betrachtet. Die Autorin schafft es mit recht wenigen Worten eine seelische Tiefe zu zeichnen/zu zeigen/zu erzeugen, das ist schon eine Kunst, es ist schön/aber auch schwer sich darauf einzulassen. Es geht um den Rand der amerikanischen Gesellschaft, es geht um Drogenprobleme, ehemalige Gefängnisaufenthalte, Gewalt, Tod, Bindungsprobleme, Gefühlskälte und natürlich auch die Rassenproblematik. Ganz schön viele Thematiken in einem Buch, vielleicht erklärt das auch die Probleme beim Lesen, bei Einigem sträubt man sich förmlich dagegen. Auf jeden Fall hat dieses Buch jede Menge Gefühle herausgeholt, und das denke ich ist auf jeden Fall etwas Gutes. Und ein wichtiger Aspekt in diesem Buch ist eine tiefe archaische Mystik, die die Autorin perfekt zu zeichnen weiß.


    Ein interessanter Roman ! Aber ich denke man muss für diese Geschichte bereit sein, muss sich auf sie einlassen können !

  • ch hoffe, der Roman gefällt dir ebenfalls.

    Ich bin absolut begeistert. Was für eine Geschichte, und was für eine wunderbare Sprache!

    Genauso erging es mir auch beim Lesen von diesem so wundervollen Buch. Jesmyn Ward hat einen ganz eigenen/eigentümlichen Stil und verzaubert ungemein. Ich habe es noch nicht geschafft vor dem Sturm zu lesen. Mal schauen, ob dieses Buch ebenso bei mir einschlägt.

  • habe es noch nicht geschafft vor dem Sturm zu lesen. Mal schauen, ob dieses Buch ebenso bei mir einschlägt.

    Ich wünsche es dir! Es hat nicht diese alttestamentarischen Bezüge, aber es ist eines dieser Bücher, die mir nachgegangen sind, weil sich ihr eigentlicher Inhalt so nach und nach entfaltet hat.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).