Die Saat der Tränen

Buch von Daniel Picouly, Stefan Linster

Bewertungen

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Rezensionen zum Buch

  • Rezension zu Die Saat der Tränen

    Der Autor (nach Krimi-Couch und Klappentext): Daniel Picouly, ein Pariser Autor und TV-Moderator französisch-karibischer Abstammung, wurde 1948 in Villemomble als elftes von dreizehn Kindern eines Flugzeugschlossers von den Antillen und einer Mutter aus dem Morvan geboren. Als Schüler ein Faulenzer, träumte er davon, Box- oder Fußballweltmeister zu werden. Tatsächlich wurde er Lehrer an einem Pariser Gymnasium. Er studierte Jura und Betriebswirtschaft in Paris und lehrte Marketing an der Universität, bevor er sich ganz dem Schreiben zuwandte. Mit zwanzig schrieb er seinen ersten Roman, einen bislang unveröffentlichten Krimi. Er veröffentlichte in Frankreich zwei Kriminalromane und ein Kinderbuch, ehe ihm mit seinem autobiografischen Roman „Le Champ de Personne“ (Fängt ja gut an, das Leben) 1995 der Durchbruch gelang. Für seinen historischen Roman „L’enfant léopard“ (Der Leopardenjunge) erhielt er den Prix Renaudot.
    Werke (Auswahl): Das Licht der Irren (La lumière des fous, 1991), Nach mir die Sintflut (Nec, 1992), Die Saat der Tränen (Les larmes du chef, 1994), Schwimmstunde mit Marilyn (Fort de l’eau, 1999), Der Leopardenjunge (L’enfant léopard, 1999), Paulette et Roger (2001), La treizième mort du chevalier (2003), La Donzelle (2004), Le cœur a la craie (2005), Un beau jeudi pour tuer Kennedy (2006), 68 mon amour (2008), La Nuit de Lampedusa (2011).
    Die Originalausgabe des Romans erschien 1994 unter dem Titel „Les larmes du chef“ in der Série Noire bei Gallimard, Paris. Die deutsche Übersetzung für den Rowohlt Taschenbuch Verlag besorgte im gleichen Jahr Stefan Linster.
    Ein wildes Buch, das sämtliche Genregrenzen mit Füßen tritt. Ein Thriller, dessen Ausgangsidee den meisten früh vergreisten Thriller-Lesern zu abgedreht und unrealistisch sein wird. Doch ist dazu Literatur nicht eben auch da: Abgedrehten Träumen hinterherzujagen? Dinge zu verwirklichen, die in der wirklichen Wirklichkeit nicht machbar wären? Auch Dinge zu kombinieren, die auf diese Weise selten oder noch nie dargeboten wurden? In diesem Fall meint das Heist-Thriller und soziale Randgruppen, traumatisiertes Kind und eine schöne Frau in Lebensgefahr, Ghetto-Drama und schwarzer Humor, Sportbegeisterung und Stammeskultur, blutige Morde und verrückte Killer, Selbstermächtigung und subversive Lebensträume.
    Es geht um aus der Gesellschaft gedrängte Menschen, die sich ihre eigene Gesellschaft errichten, Kleinkriminelle, antibürgerliche Träumer, Nomaden einer Parallelgesellschaft, sportbegeisterte Stadtindianer im 19. Arrondissement von Paris, die in einem ausrangierten Busdepot wie Besessene American Football spielen, mit selbst gezimmerten Tribünen und Light Show - und die jungen Kassiererinnen aus dem Viertel schwingen die Cheerleader-Puschel. Die Gang, die hier haust, schimpfte man einst Chiftirs, Lumpensammler - so ernannten sie sich selbst zu den „Chief Tears“, den „Häuptlingen der Tränen“. Ihr Traum ist es, einmal gegen richtige Football-Legenden anzutreten.
    Inhalt (Klappentext): Chrystal ist ein American-Football-Crack, der sich mit aller Macht den größten Traum erfüllen will: ein Match gegen das weltberühmte Team der „Dallas Cowboys“. Skrupellos verfolgt er seinen Plan und schreckt dabei vor nichts zurück. Chrystal will den amerikanischen Quarterback kidnappen, um den Rest der hochdotierten Mannschaft in einem leerstehenden Busdepot zum finalen Touch Down mit seiner Equipe „Chief Tears“ zu zwingen. Als die Spieler der „Dallas Cowboys“ bei einem Europatrip auf dem Flughafen Orly zur Zwischenlandung ansetzen, ist schon alles vorbereitet. Doch Chrystal hat nicht damit gerechnet, dass auch er sich im Fadenkreuz eines Verbrechens befindet. Das Spiel kann beginnen, nach allen Regeln der Kunst und mit aller Härte.
    Ein vielstimmiger Ensemble-Roman als großes, lautes Happening, den ich liebend gerne verfilmt sähe: Die Ereignisse nehmen rasch Fahrt auf und viele sehr unterschiedliche Personen tun verrückte Sachen: Der tablettensüchtige Kommissar Lomron, der den schweigsamen, zehn- bis zwölfjährigen Honda als Ziehsohn aufgenommen hat, der durch ein Verbrechen zur Waise wurde, immer in Sorge, dass die Dame vom Jugendamt ihm den Jungen wegnimmt, auf der anderen Seite der junge Gangster Chrystal, Hondas Idol, der sich auf den ersten Blick in Illema, die schüchterne Augenzeugin eines Mordes verliebt, die er nur kurz gesehen und gerochen hat, und von der er sich von einem jungen, muslimischen Ikonenmaler, der, wenn er seine Wohnung verlässt, stets ein unsichtbares Kamel an der Leine führt, ein Phantombild auf eine ausgehängte Badezimmertür malen lässt, außerdem Chrystals vor Eifersucht rasende Exgeliebte Rose, die manisch versucht, die umschwärmte Augenzeugin Illema zu ermorden, Roses Schwester Airwick, die als Nutte in einer City-Toilette anschafft und hofft, auf dieser Geschäftsidee demnächst ein Franchise-Unternehmen aufzubauen, die züchtige Ausstellungsleiterin mit strengem Dutt und Citroën 2CV, die sich im Laufe der Nacht an den Kommissar hängt und irgendwann das Gemälde eines nackten Zulu-Kriegers geschenkt bekommt, ein Gauner mit ständig wachsendem Klumpfuß, der sich genau so viel von seinem deformierten Fuß absäbelt, dass er in seine Lieblingssportschuhe passt, um beim „Großen Spiel“ wieder dabei zu sein, der also schnell aus dem Krankenhaus türmen muss, bevor die Tagesschicht ihren Dienst antritt, und Mona und Zobi, zwei aus Chrystals Bande, die kurz vor dem Showdown spontan heiraten und ihr subversives Eheversprechen statt auf die Bibel auf den Code Noir ablegen, den „Schwarzen-Kodex“, der alle Beziehungen zu Sklaven und Einwohnern französischer Kolonien regelte. Und das sind nur einige der vorkommenden Personen!
    Der Autor interessiert sich im Grunde nicht für gängige Handlungsverläufe (was für eine Wohltat!), sondern wählt im Notfall immer den überraschenden, interessanteren Weg. Würde man jetzt nicht viel lieber lesen, dass die verrückte Killerin ihrem sowieso nur nervenden Kompagnon die Acht-Zentimeter-Klinge in den Bauch rammt? Ja, dann passiert das einfach mal! Immer voller Pathos und sich großer Bilder bewusst. Wenn schon ein Mann zufällig während eines Einbruchs in einem Museum getötet wird, warum sollte dann nicht noch eine aus einem zerschossenen Aquarium entfleuchte Maräne sich in seinem abgetrennten Kopf verbeißen?
    Andererseits folgt der Roman auch reinrassigen Thriller-Schemata: Die schöne, junge Frau und Augenzeugin, die aus Eifersucht ermordet werden soll - und der Pflegesohn des Kommissars am besten gleich mit, der, weil er nachts nicht schlafen kann, aus dem Fenster blickend beobachten konnte, wie die junge Frau ins halb zugefrorene Hafenbecken geworfen wurde; bald sind sie Hand in Hand auf der Flucht vor den Killern (zuvor hat er sich von der Nachbarin noch Eier geliehen, um Illema und sich Crème brûlée zu machen). Derweil versucht der Kommissar eins und eins zusammenzuzählen, während die Bande ihre großangelegte Entführung vorbereitet, sich mit Hacker-Hilfe Zugang zu den Reiseplänen der „Dallas Cowboys“ verschafft, Chrystal diverse unsichere Kantonisten umbringen lässt, die sein Vorhaben zu gefährden scheinen, und sich die Bande schließlich mit diversen Tricks, Verkleidungen und Hintertürchen Zugang zum Mitarbeiterbereich des Flughafens verschafft, um den Quarterback der „Dallas Cowboys“ aus dem Transit-Bereich zu entführen und die restliche Mannschaft samt Bodyguards und Managern so zu einem „privaten Football-Spiel“ zu zwingen.
    All das ergibt ein sowohl überraschendes und ungewöhnliches, als auch stellenweise äußerst rasantes und wendungsreiches Buch, in dem Frauen und Kinder in Not geraten, sich die richtigen Leute selber oder durch Hilfe und Mitleid anderer aus großen Gefahren befreien können, viele ihr blaues Wunder erleben, etliche auf unangenehme und blutige Weise ins Gras beißen, das Leben einiger ein bisschen schöner wird, und die Träume der Ausgestoßenen eine märchenhafte Chance bekommen, verwirklicht zu werden. Bei aller Unlogik und Übertreibung ist „Die Saat der Tränen“ ein Roman, der lebendige Geschichten erzählt und sich dabei wirklich für das Schicksal und das Seelenleben seiner Figuren interessiert. Ein spannender Ghetto-Thriller unter Außenseitern, mit Stil, Haltung und Originalität, der nicht mit sozialromantischer Draufsicht nervt, sondern die Außenseiter als Helden geradeheraus durch eine zappelige, verdrehte, subversive, nicht zielgruppen-optimierte Geschichte peitscht.
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Ausgaben von Die Saat der Tränen

Taschenbuch

Seitenzahl: 217

Besitzer des Buches 1

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