Chonrad Stöckhlin und die Nachtschar

Buch von Wolfgang Behringer

Bewertungen

Chonrad Stöckhlin und die Nachtschar wurde bisher einmal bewertet.

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Rezensionen zum Buch

  • Rezension zu Chonrad Stöckhlin und die Nachtschar

    Der Autor (Quelle: Wikipedia): Wolfgang Behringer (* 17. Juli 1956 in München) ist ein deutscher Historiker mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit. Behringer hatte seit 1999 eine Professur für Neuere Geschichte an der University of York. Seit 2003 lehrt er als Professor für Frühe Neuzeit an der Universität des Saarlandes. Behringers Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit (1450–1800). Er forscht zu Klima und Umwelt, Krisenerfahrungen und ihrer Verarbeitung, Hexenverfolgung, Herausbildung der Nationalstaaten, Radikale Reformation, Hofkultur, Kommunikations- und Mediengeschichte.
    Klappentext (Quelle: Piper): Fastnacht 1578. Ein Rückkehrvertrag zwischen Freunden: Wer zuerst stirbt, soll dem anderen wieder erscheinen und berichten, „wie es in jener Welt beschaffen und gestaltet sei“. Schon eine Woche später ist es so weit. Und der Oberstdorfer Rosshirt Chonrad Stoeckhlin wird initiiert in eine Welt der Visionen, die Feenwelt der europäischen „Traumzeit“, die sich in den Alpen von Kärnten über Südtirol bis ins Wallis erhalten hat. Aber solche Vorstellungen werden von einer Obrigkeit nicht mehr akzeptiert, die neben dem Christentum nur noch den Teufel und seine Hexen sehen will. Spannender als jeder historische Roman, dabei rein aus den Prozessakten und anderen zeitgenössischen Quellen rekonstruiert, erzählt dieses Buch vom Denken der einfachen Leute in den Alpen des Allgäu, Österreichs, der Schweiz und Oberitaliens. Mit seinem Buch über „Chonrad Stoeckhlin und die Nachtschar“ ist Wolfgang Behringer ein Stück wirklicher Geschichtsschreibung und zugleich ein Exkurs über die menschliche Gesellschaft gelungen.
    Deutsche, amerikanische und tschechische Ausgaben:
    Die deutsche Originalausgabe erschien im September 1994 unter dem Titel „Chonrad Stoeckhlin und die Nachtschar. Eine Geschichte aus der frühen Neuzeit“ als Taschenbuch Nr. 2095 in der „Serie Piper“ im R. Piper Verlag in München und Zürich (201 Seiten). Die englische Übersetzung von H. C. Erik Midelfort erschien 1998 unter dem Titel „Shaman of Oberstdorf. Chonrad Stoeckhlin and the Phantoms of the Night“ in der Reihe „Studies in Early Modern German History“ in der University of Virginia Press in Charlottesville (203 Seiten). Die tschechische Übersetzung von Vladimír Cinke erschien 2018 als „Chonrad Stoeckhlin a „noční houf“. Příběh z raného novověku“ im Verlag Argo in Prag (204 Seiten).
    Inhalt:
    Hirten (8 Seiten)
    Fastnachtsgespräche (3 Seiten)
    Die Botschaft des Wiedergängers (5 Seiten)
    Ein Engel erscheint (5 Seiten)
    Die Nachtschar (5 Seiten)
    Das Nachtvolk (9 Seiten)
    Überirdisch schöne Musik (4 Seiten)
    Das Knochenwunder (8 Seiten)
    Die Gute Gesellschaft (26 Seiten)
    Wuotas (10 Seiten)
    Heilen und Wahrsagen (8 Seiten)
    Unholdenfahrt (10 Seiten)
    Heuberg (6 Seiten)
    Hexenverfolgung (13 Seiten)
    Bauernaufstand (10 Seiten)
    Volksglauben (15 Seiten)
    Schamanismus (4 Seiten)
    Bricolage (6 Seiten)
    Privatoffenbarungen (5 Seiten)
    Ende der Traumzeit (3 Seiten)
    Anmerkungen (28 Seiten)
    Register (4 Seiten)
    Meine Einschätzung:
    Der Historiker Behringer legt eine auf Prozessakten fußende mikrohistorische Studie über Hexenverfolgung, „unchristliche“ Volksreligion und außerkörperliche Erfahrungen im Alpenraum der frühen Neuzeit vor, in der vor allem die auf die Nordostschweiz und das Allgäu begrenzten Vorstellungen des Nachtvolkes bzw. der Nachtschar eine Rolle spielen. Dazu trennt er zunächst einige vielerorts vermengte Begrifflichkeiten voneinander, da die Nachtschar typologisch wenig mit der Wilden Jagd oder der Allgäuer Erscheinung des Wuotasheeres (auch: sWuotas) zu tun hat, die gemeinhin eher für Zerstörung sorgen und als Todesboten für denjenigen verstanden werden, der ihrer ansichtig wird. Die Nachtschar, mit der der Oberstdorfer Pferdehirt Chonrad Stoeckhlin viermal im Jahr in den Quatembernächten auf Seelenreise ging, während sein Körper wie schlafend zurückblieb, entspricht eher der „Guten Gesellschaft“: stellenweise engelsgleich vermittelte Visionen, die für Heilung und Zukunftsschau sorgen. Selbst wenn des Nachts wild gefeiert wird und die Nachtschar die Rinder der Bauern schlachtet, kocht, brät und verspeist, sorgen sie stets dafür, dass die getöteten fremden Tiere des Morgens dank Knochenwunder wieder lebendig werden; wozu die Haut und die Knochen der zerteilten Tiere sorgfältig aufgehoben werden müssen. Die Nachtschar hat insofern sogar lebensspendende Kräfte, was sie in den Augen der katholisch geprägten Obrigkeit natürlich sehr des Teufelsbundes verdächtig macht.
    Chonrad Stoeckhlin, der selbst als Wahrsager und Heiler agierte (wie viele Hirten seinerzeit), fällt der Obrigkeit (der Gemeinde Oberstdorf, der Regierung in Dillingen, dem Pfleggericht Rettenberg) wegen seiner Kraft als „Hexenfinder“ auf, dank der er auf die versteckte Hexenkraft mancher Gemeindemitglieder aufmerksam machen kann. Seine Berichte seiner Engelserscheinungen und außerkörperlichen Flugreisen mit der Nachtschar in Folge des Rückkehrvertrages mit dem befreundeten Ochsenhirten Jacob Walch, der, nachdem er kurz darauf verstarb, Stoeckhlin tatsächlich erschien und über das Jenseits berichtete (stets mit der starken Betonung, ein gottgefälliges Leben führen zu müssen), brachten Stoeckhlin endgültig "peinliche" Befragungen vor einem Gericht ein. Die Oberstdorfer Hexenprozesse werden etlichen Frauen und Männern das Leben auf dem Scheiterhaufen kosten.
    Mir gefällt, wie historisch gewissenhaft Behringer seine Quellen und Zitate verwendet; das Frühneuhochdeutsch wird jeweils auch im Original wiedergebeben. Interessant fand ich, wie Behringer fremdenfeindliche Züge der Allgäuer Hexenverfolgung herausarbeitet, die sich vor allem auf Eingewanderte bezog, auch wie Behringer europäische Motivlinien aufzeigt, die von schottischen Fairies und anderen europäischen Feenvorstellungen (vgl. die Fairy Tales, Märchen), über die Táltos-Schamanen in Ungarn, Heiler in Rumänien und andere Ekstatiker bis zu Diana-Kulten, den Saligen in Kärnten und den Donne di Fuori in Sizilien reichten. Außerdem spannt er den Bogen weiter bis zu späteren Bauernaufständen, in denen in vergleichbarer Weise bäuerliche Volkskulturen gegen die Obrigkeit aufmuckten wie in den lang tradierten volksreligiösen Bräuchen und Vorstellungen.
    Bemerkenswert finde ich obendrein, wie sehr das administrative, bürokratische, „staatliche“ Gepräge der Hexenverfolgung herausgearbeitet wird, hinter der nicht vor allem geifernde Priester und Bischöfe stehen, sondern die normale weltliche Verwaltung und Gerichtsbarkeit, auch wenn sie katholisch geprägt ist und sich der Hilfe kanonischer Rechtssammlungen und Gelehrter sowie theologischer Texte versicherte, die die Hexenverfolgung legitimierten. Hexenverfolgung ist nichts ohne Denunziation und Diffamation, erscheint oft fast als Verlängerung reiner Nachbarschaftsstreite.
    Gleichzeitig lässt Behringer die Zeit vormoderner und volksreligiöser Erklärungen der sichtbaren und unsichtbaren Welt lebendig werden, diese „Traumzeit“ Europas, in der Visionen, Engelserscheinungen, Hexenfahrten, Aksese, Meditation, Trancezustände und ekstatische Gefühlsüberschwänge als gangbare Wege der Erforschung des Bewusstseins viel stärker als später im Volksglauben verankert waren: Methoden, die Herrlichkeit der Schöpfung zu schauen, und manchmal als ketzerisch betrachtete Einblicke in die Verfasstheit des Dies- und Jenseits zu erhaschen.
    Ein faszinierendes, reichhaltiges und anregendes Buch über volksreligiöse Vorstellungen unserer Vorfahren und ekstatische Wahrnehmungsebenen jenseits der diesseitigen Naturebenen, das aufschlussreiche Einblicke in die Zeit der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung in Mitteleuropa gewährt.
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Ausgaben von Chonrad Stöckhlin und die Nachtschar

Taschenbuch

Seitenzahl: 201

Besitzer des Buches 2

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