Die Tagesordnung

Buch von Eric Vuillard

Bewertungen

Die Tagesordnung wurde insgesamt 10 mal bewertet. Die durchschnittliche Bewertung liegt bei 4,4 Sternen.

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Rezensionen zum Buch

  • Rezension zu Die Tagesordnung

    Vorweg: Dies ist eins der ungewöhnlichsten Bücher, die ich jemals gelesen habe. Éric Vuillard beweist, dass Literatur nach wie vor zu den Künsten gehört, und dass Autoren auch heute etwas noch nie Dagewesenes schaffen können.
    Ein Buch aus dem historischen Genre zweifelsohne, denn Gegenstand und Thema sind Hitlers Treffen mit den Größen aus Industrie und Wirtschaft am 20.2.1933, im weiteren Verlauf der Einmarsch in Österreich und wie es dazu kommen konnte; ein paar Mal fällt der Blick auf Nebenschauplätze wie England oder Frankreich.
    Es waren gesellschaftliche Größen und hoch angesehene Männer, die mit horrenden Summen aus ihrem Privatvermögen und ihren Firmen und Betrieben den Wahlkampf der NSDAP aktiv unterstützten. Während sich die Geschichtsforscher in der Bewertung dieses Treffens für Hitlers Ziele nicht vollkommen einige sind, ist Vuillards Standpunkt eindeutig.
    Er betrachtet das Ganze mit bösem Blick, satirisch, bewertend, verurteilend, mitunter scheint es, als könne er bis heute nicht glauben, was in den 1930/1940ern in Europa passierte. Wo Historiker noch versuchen, Verständnis für schwache, kleinmütige Politiker zu wecken (Schuschnigg), urteilt Vuillard gnadenlos, seziert die Untergrabung der Autorität und den Wankelmut der politischen Machthaber. Der Autor will keine sachliche Distanz, sondern emotionale Wahrhaftigkeit. Und dort, wo historische Details der Nachwelt nicht überliefert sind, z.B. bei nicht-protokollierten Vier-Augen-Gesprächen, bekennt er sich dazu, anhand der Konsequenzen und des Wissens um die folgenden Ereignisse zu spekulieren. Unbarmherzig und unerbittlich forscht er nach Beweggründen, die nicht nur die Mächtigen, sondern auch „das Volk“ dazu brachten, dort zu jubeln, wo Widerstand angebracht gewesen wäre.
    Dass Fake News nicht von den neuen Medien unserer Zeit erfunden wurden, beweist Vuillard eindrucksvoll. Denn was wir heute für Live-Mitschnitte von Veranstaltungen der NS-Zeit halten, ist zum Teil für die Wochenschau und die Propaganda mit einer Tonspur unterlegt worden.
    Und die Qualitätsmängel von militärischem Gerät und Fahrzeugen sind nicht erst seit Ursula von der Leyen zu beklagen.
    Einen Großteil der NS-Täter betrachtet Vuillard im Licht der Nürnberger Prozesse. Doch die Täter im Hintergrund, diejenigen, die sich am 23.2.1933 trafen und Hitler ein Vermögen zuschoben, gehörten trotz der deutschen Niederlage zu den Gewinnern: Einige ihrer Fabriken existieren bis heute.
    Doch die Historie allein wäre Vuillard vermutlich zu wenig. Daran ist nichts mehr zu ändern, auch wenn man sich bis heute fragt, wie um alles in der Welt es zu den Verbrechen des Dritten Reiches kommen konnte. Der Einfluss derer, die mit ihrem Geld die politische Richtung bestimmen, ist unverändert. Und Lehren aus der Geschichte zieht sowieso niemand, sonst könnten Rassismus und Antisemitismus in unserer Zeit nicht neu aufblühen.
    Teilnehmer und Summen sowie weitere Informationen über das Geheimtreffen findet man hier.
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  • Rezension zu Die Tagesordnung

    Original : Französisch, 2017
    Prix Goncourt 2017
    INHALT :
    20. Februar 1933: Auf Einladung des Reichstagspräsidenten Hermann Göring finden sich 24 hochrangige Vertreter der Industrie zu einem Treffen mit Adolf Hitler ein, um über mögliche Unterstützungen für die nationalsozialistische Politik zu beraten: Krupp, Opel, BASF, Bayer, Siemens, Allianz – kaum ein Name von Rang und Würden fehlt an den glamourösen runden Tischen der Vermählung von Geld und Politik.
    So beginnt der Lauf einer Geschichte, die Vuillard fünf Jahre später in die Annexion Österreichs münden lässt. Bild- und wortgewaltig führt er den Leser in die Hinterzimmern der Macht, wo in erschreckender Beiläufigkeit Geschichte geschrieben wird. Dabei erzählt er eine andere Geschichte als die uns bekannte : er zeigt den Panzerstau an der deutschen Grenze zu Österreich, er entlarvt Schuschniggs kleinliches Festhalten an der Macht, Hitlers abgründige Unberechenbarkeit und Chamberlains gleichgültige Schwäche.
    (Quelle : gekürzter Klappentext der deutschen Ausgabe)
    GLIEDERUNG :
    16 betitelte Kapitel von 6-20 Seiten Länge
    BEMERKUNGEN :
    Liest man das Buch unvoreingenommen fragt man sich eventuell anfangs über den « roten Faden », der zB das erste Kapitel über jene Versammlung der größten Industriekapitäne im Jahre ‘33 mit dem Folgekapitel verbindet : ein Besuch von Lord Halifax in Deutschland, über vier Jahre später. Daran schliessen sich Kapitel an, die sich vor allem mit Episoden des Anschlußes Österreiches beschäftigen (1938): ein Treffen des österreichischen Kanzlers Schuschnigg mit Hitler, die Schiebereien, um Nazis dort in Position zu bringen, etc.
    War all das unbekannt? Sichtbar, bzw lesbar, schöpft der Autor doch an historischen Quellen, die er ausführlichst studiert haben muss und hier auch manchmal zitiert : Archive, Briefe, Zeitungen, Tonbandaufnahmen, Aufzeichnungen vom Nürnberger Prozeß… Denn Vuillard ist präsent als Schreiber. Er präsentiert mE nicht einfach ein historisches Buch, eine Enthüllung mehr. Doch was vehikuliert er hier manchmal so leidenschaftlich, eindringlich und satirisch-spöttisch ? Ja, er stellt doch heraus, was und wer in der je seinen, ihren Rolle zum Aufstieg Hitlers und somit der Katastrophe beigetragen hat ! Sind es hier nicht vor allem die später gar entschuldigten und « unschuldigen » Personen, die sich eitel, selbstsüchtig, machtgierig, ängstlich etc zeigen ? Die Randpersonen oder Gestalten aus der ersten oder auch zweiten Reihe ? Insofern eben nicht allein die Geschichte eines Hitlers, sondern der Beitrag so mancher. Das Buch wird zur Beschreibung der unterlassenen Möglichkeiten als man hätte widerstehen sollen oder der geleisteten Hilfestellung, um seine Position abzusichern. « Nichts ist unschuldig », schreibt er, oder auch woanders : « Die allergrößten Katastrophen kündigen sich oft in den kleinen Schritten an. »
    Ein Werk über einen Abschnitt Geschichte, aber nicht ein Geschichtsbuch, Sachbuch, neutraler Bericht. Dazu ist Vuillard zu parteiisch und satirisch am Werke. Aber nicht beliebig, oder gar ein « historischer Roman », nein. Über die darüber wahrscheinlich auch in Deutschland ausbrechende Diskussion hinaus sollte oder kann man sich viel mehr fragen, ob der Wesenskern der Aussagen nicht zu lesen ist auf dem Hintergrund der heutigen kleinen geleisteten oder eben unterlassenen Schritte in brandaktuellen Fragen?
    Man kann kritisch hinterfragen, ob manches Urteil in seiner bissigen Eindeutigkeit und einer gewissen moralischen Überheblichkeit in der Situation selbst, im « Eifer des Gefechts », wirklich schon erkennbar war ? Aber es gab sie ja : jene, die widerstanden haben !
    Ich kann mir gut vorstellen, dass das Buch bei seinem Erscheinen im deutschsprachigen Raum Diskussionen auslösen wird. Gut so ?!
    AUTOR:
    Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er große Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründet, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu und dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet. 2017 bekam er für Die Tagesordnung den renommierten Prix Goncourt. Bei Matthes & Seitz Berlin erschienen bisher Ballade vom Abendland (2014), Kongo (2015) und Traurigkeit der Erde (2017) in der Übersetzung von Nicola Denis.
    (Quelle: Amaz. Und mehr hier: https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%89ric_Vuillard )
    Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
    Verlag: Matthes & Seitz Berlin; Auflage: 1 (30. März 2018)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3957575761
    ISBN-13: 978-3957575760
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Ausgaben von Die Tagesordnung

Hardcover

Seitenzahl: 128

E-Book

Seitenzahl: 92

Taschenbuch

Seitenzahl: 118

Hörbuch

Laufzeit: 00:02:57h

Die Tagesordnung in anderen Sprachen

  • Deutsch: Die Tagesordnung (Details)
  • Französisch: L'ordre du jour (Details)

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