Thorvald Berthelsen - Zeitsprünge und andere Spuren / Utidig i tide

  • Rückentext:
    Schwimmende Ablagerungen der Hoffnung


    Nackt auf dem Strand
    zwischen Tonscherben
    und den untersten Quadern
    von Mithymnas verwittertem Stadtstaat –
    wie Adern unter alter Haut, übergehend
    ins blassere Blau des Horizonts
    während sich die violetten Disteln
    um die Beine schmiegen,
    im umgedrehten Kegel der Abendsonne
    erstrecken sich die Schwimmstöße
    in die zahlreichen Spuren unseres Lebens
    als Lichtschimmer übers ganze Gesichtsfeld.
    Und die Hautabschürfungen am Felsengrund
    sind keineswegs ein Traum.


    Rezension:
    Schon die bloße Beobachtung und Registrierung eines Objekts oder Zustandes führt zu einer Veränderung in Raum und Zeit. Ein einziger Flügelschlag, dessen Luftwirbelspur, und seine Auswirkung auf das Geschehen an einem anderen Ort. Im übertragenen Sinne: die Kraft eines Gedichts, seine Auswirkung auf die Vorgänge in einem anderen Geist.
    Des Dichters Motivation und sein jeweiliges Motiv, das diesem oder jenem Text zugrunde liegt, befinden sich nicht unbedingt im Einklang mit dem Auffassungssystem des Lesers. Der Interpretationsraum dahingegen ist dem Text immanent und folglich ein Resultat des erdichteten Sinnbilds. Thorvald Berthelsens kurze Prosatexte, Gedichte und vor allem seine Haikus sind komprimierte, facettenreiche Gedankengebilde, die unsere Realität durch abstrakte Anschauungsweisen aus den Angeln heben und einen Gegenentwurf zum herkömmlichen Sprachgebrauch (mit seinen Phrasen und Worthülsen) bilden. Dem Sinn im Unsinn auf der Spur – und umgekehrt –, während des Dichters Odyssee durch menschliche Einöden und abwegige Geisteszustände. Von unbegreiflichen Prozessen wie der Zellteilung inmitten absurd anmutender Alltagsszenarien. Über die Krümmung der Zeit oder dem Strang des genetischen Codes als Urgrund allen Bestehens. Bis hin zu Schwarzen Löchern und dem Big Bang, mit dem das Dasein seinen Anfang nahm. Den weiträumigen Ausdrucksweisen zum Trotz, sind weder die große Geste noch ein allumfassender Pathos am Werk, wenn Thorvald Berthelsen in seiner Lyrik auf das Unmögliche verweist. Manchmal das Verbotene, schier Unerträgliche mit intuitivem Gespür für die unsichtbaren Zusammenhänge unseres Erlebens auslotet. All dies geschieht in einer an und für sich unfassbaren Welt. Seine An-Deutungen zeigen immer wieder in eine andere, noch unerforschte, bislang unbenannte Richtung. Fern von dem Befinden, das ein von Pragmatismus und Gewöhnung korrumpierter „Verstand“ als Normalzustand uns weiszumachen gedenkt. Thorvald Berthelsen hat Collagen entworfen – in Text und Bild –, um die Wechselwirkung zwischen Ideengefüge und weltlichem Schein, zwischen dem Unbewussten und der Intention, dem Ursprung und dem Begreifen zu veranschaulichen. Einigen seiner Haikus hat er eine bildliche Entsprechung zur Seite gestellt. Ein Aufgebot fiebriger Visionen, Szenen aus unserer heimischen Begriffswelt im hineinprojizierten Kontrast zum Wirrwarr aus Symbolen und kulturellen Archetypen. Abbildungen von Katastrophen und unbestimmbaren Motiven in optischer und augenscheinlicher Verfremdung. Wie festgefroren in einer Parallelwelt. Sie spiegeln wider, was seine Dichterstimme auf subtilere Art zum Ausdruck bringt: eine fremdartige Imagination. Der Versuch einer Ergründung des Rätselhaften, eines Eintauchens ins bodenlose Sein. Den Blick abwendend von tröstlichen Wiederholungen, die das Alltagsleben offeriert – mit seinen gemächlichen und gesättigten Lebensweisen. Auch deshalb, weil die „Rettungsbojen“ mit nichts als Luft gefüllt sind und ihn – zwangsläufig – zurückholen an die seichte Oberflächlichkeit. Was ihn umtreibt, ist keine Sehnsucht nach Himmel oder Hölle, seine Beweggründe sind anderer Natur. Indem er seine Verwunderung so kompromisslos entblößt, hält Berthelsen sich den Zugriff der Banalität vom Leib. An deren Stelle tritt etwas Wesentliches, etwas, das in seinen Texten als unmittelbare Erfahrung überliefert ist.


    Peter Pitsch