Hartmut Lange – Die Waldsteinsonate

  • Original : Deutsch, 1984


    5 Novellen, die « vom Zustand jener Unglücklichen erzählen, denen das Bewußtsein ein besonderes Verhängnis war ».


    Im Einzelnen :


    - « Über die Alpen » (24 S.): Turin im Januar 1889. Nietzsche zeigt Anzeichen von Fieber, Wahn, Halluzinationen, delirischen Vorstellungen. Er befindet sich in einer seltsamen Mischung von Stolz, Überheblichkeit, einer Selbstüberschätzung, einem « Messiasbewusstsein », und andererseits, einer enormen Einsamkeit, Traurigkeit. Von seinem Freund Franz Overbeck (siehe : https://fr.wikipedia.org/wiki/…miti.C3.A9_avec_Nietzsche ) wird er abgeholt…


    - « Die Waldsteinsonate » (19 S.) : Diese Novelle spielt am 1.5.1945 im Reichsbunker in Berlin. Magda Göbbels « soll » ihre Kinder umbringen. Franz Liszt erscheint hier als « Geist » und meint, die Situation durch das Spielen von Beethovens Waldsteinsonate ändern zu können. Dieser Kunst könne man sich nicht entziehen…, und liesse diesen Wahn der Propagandaministerfrau schon weichen !


    - « Im November » (21 S.) : Kutschfahrt von Berlin durch die Wälder… Kleist und Frau Vogel sind unterwegs und inszenieren ihre « letzte » Nacht und den Rahmen des Doppelselbstmordes… (siehe auch : http://www.moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/997026 )


    - « Seidel » (15 S.) : Alfred Seidel, ein Anarchist (siehe auch : http://www.gleichsatz.de/b-u-t/begin/ig/susman_seidel.html ) ist auf « freiwilliger Basis » interniert, fragt sich und seine Doktoren aber : « Werde ich wahnsinnig ? » Er schreibt an seinem Werk « Mit Christus gegen die Wahrheit ziehen ». Ein unendliches Grübeln ist in ihm. Welch Form des Bewusstseins kann man « ertragen » ? Wie gut, dass da eine Schlinge in einem Seitenhaus bereit ist…


    - « Die Heiterkeit des Todes » (7 S.) : Der Ich-Erzähler beobachtet am Grunewaldsee zwei Gestalten, Tote und Liebende, die eng miteinander verschlungen wandeln. Sie, die gemordete Jüdin, er der Mörder und SS-Mann… Wird tatsächlich auch der Mörder erlöst ?! Verwischt der Tod die Gegensätze und Unmöglichkeiten ? Ist da die Schuld beglichen ? Und wäre das überhaupt annehmbar ?


    Die Novellen haben Querverweise aufeinander, zeigen Parallelen auf, thematisch, aber auch in einzelnen Worten oder Zustandsbeschreibungen. Zumindest die vier ersten Novellen sind historisch eingebettet. Aber darüber hinaus verbindet anderes in mancher feiner Schattierung und Variation diese kleinen Werke : Wir stehen quasi immer am Nahe des letzten Schrittes (2,3,4) oder gar nach dem Tode (5). Verbunden damit immer eine Frage nach Wirklichkeit und Wahn. Elemente verweisen auf auf eine wachsende Ununterschiedenheit (was für eine tolle Wortschöpfung von Lange!), ein Auflösen der Grenzen oder des Bewußtseins. Halluzinationen, Wahn, Fieber, Leben und Tod etc.


    Ist der Selbstmord « Heil » oder Untergang, und « Niederlage » ?
    Wo liegt die Grenze zwischen Luzidität und Wahn ?
    Wo ist die Aufhebung jedweder « Grenze » , die Verwischung, Verlust der Identität ?
    ...
    Wer sich mit diesen Fragen auseinandersetzt, findet hier reichlich Materie. Man hat den Eindruck, dass trotz der zeitlichen Einbettung und also einer gewissen Historizität (der ersten vier zumindest), diese Novellen in uns etwas auslösen und weiterspinnen können. Sie bleiben insofern offen.


    Auch sprachlich ist das hier was ganz Feines. Für mich also eine schöne, interessante Entdeckung !


    AUTOR :
    Hartmut Lange wurde im März 1937 als Sohn eines Metzgers und einer Verkäuferin in Berlin-Spandau geboren. Seine Familie wurde nach Polen umgesiedelt, als er zwei Jahre alt war; 1946 kehrte seine Mutter mit ihm nach Berlin zurück. Lange studierte 1957–1959 Dramaturgie an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg. 1961–1964 war er Dramaturg am Deutschen Theater in Ost-Berlin. 1965 verließ Hartmut Lange die DDR über Jugoslawien. Er ging nach Westberlin, arbeitete für die Schaubühne am Halleschen Ufer, für die Berliner Staatsbühnen und am Schiller- und am Schlosspark-Theater. Er hat auch zwei Drehbücher geschrieben und in einem Film als Regisseur gearbeitet. Hartmut Lange wurde für seine Dramen, Essays und Prosa vielfach mit Preisen ausgezeichnet. Seit 1982 schreibt er vornehmlich Erzählungen und Novellen.


    Er hat einen Sohn (Robert) und lebt mit seiner Frau Ulrike, geb. Ritter in Berlin.
    (Quellen : amaz. ; wikipedia, Deutsches Filmportal)


    Taschenbuch: 112 Seiten
    Verlag: Diogenes Verlag; Auflage: 3 (28. Februar 2006)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3257214928
    ISBN-13: 978-3257214925

  • Vielen Dank für die gelungene Rezension! Sie erinnert mich daran, dass ich längst noch etwas von Hartmut Lange lesen wollte, nachdem ich vor einiger Zeit mit "Das Konzert" sehr zufrieden war. Gerade die fünfte von Dir genannte Novelle hat mich an seinen kurzen Roman erinnert: auch hier geht es um Schuld und Vergebung im Leben nach dem Tod (ebenfalls anhand Juden und SS-Mörder). Könnte Dir auch gefallen!

  • Vielen Dank für die gelungene Rezension! Sie erinnert mich daran, dass ich längst noch etwas von Hartmut Lange lesen wollte, nachdem ich vor einiger Zeit mit "Das Konzert" sehr zufrieden war. Gerade die fünfte von Dir genannte Novelle hat mich an seinen kurzen Roman erinnert: auch hier geht es um Schuld und Vergebung im Leben nach dem Tod (ebenfalls anhand Juden und SS-Mörder). Könnte Dir auch gefallen!

    Danke auch Dir!


    NACH der Einstellung meiner Rezi (ich hatte gesehen, dass ich alleiniger Besitzer dieses Buches zu sein schien), sah ich dann durch die Buchanzeigefunktion den Hinweis auf das von Dir rezensierte Buch. Ich dachte "typisch!", das passt ja (zu Nungesser und zum Thema)! Und las natürlich diese Rezi gestern Nachmittag! Und habe ebenfalls festgestellt, dass dieses Thema Lange zu beschäftigen scheint! Ich will Dir nicht die ganze fünfte Novelle erzählen, aber man könnte hier im Ich-Erzähler eben ein Alter Ego Langes vermuten: was wäre eine Aufhebung von Grenze und Schuld angesichts des Todes? Wirklich der "Gleichmacher"? Das alles gibt viel Stoff zum Nachdenken.


    Also gerade an Dich echte Leseempfehlung!

  • Dass ich mich an eine Rezension vom Januar 2015 nicht mehr erinnere, auch wenn sie mir gefiel, sei mir bitte verziehen. :uups: Auf jeden Fall wurde ich neugierig und habe in meiner Bücherei nach dem Autor geforscht. Ich fand nur das hier.


    Darum gehts:
    Der Roman "Die Selbstverbrennung" versetzt uns in ein Pfarrhaus in der DDR, nicht weit von der Elbe, also von der Grenze zum Westen. Die Pfarrersfamilie - Mann, Frau, Tochter, Schwager - lebt isoliert; da der Kirche in der DDR (zum Beispiel) Sozialarbeit untersagt ist, wird sie zum reinen Schauplatz von Glaubenskonflikten, zum Freiraum zugespitzt metaphysischer Fragen. Ein junger Mann, der von der Stadt aufs Land gekommen ist, um hier in Ruhe ein "Traktat", eine sowohl genialische wie vermessene Weltabrechnung, zu verfassen, gerät zufällig in den Bannkreis dieser einsamen und sich quälenden Menschen. Er wird krank, wird von der Pfarrerstochter gepflegt, erwidert ihre Liebe - und läßt sie, als er von ihrer unheilbaren Krankheit erfährt, im Stick, kopflos, herzlos. Im Stich läßt er auch die Arbeit an seinem Traktat, seine Flucht ist total, ist mehr als "Republikflucht", ist Aussicht auf ewige Ankunftslosigkeit. In diesem Exempel steckt die Kritik an der materialistischen Verballhornung aller Wunschinhalte und Menschenhoffnungen. Lange spricht zu uns in diesem Roman nicht von den tristen Fakten und Ergebnissen dieses Prozesses in Ost und West, sie sind ohnehin jedermann bekannt. Er spricht von dem Leid der Ausgesperrten, die sich in ihrer positiven Kraft, ihrem geschmähten Idealismus, verzehren, selbstlos, aber auch sinnlos, hoffnungslos. "Die Selbstverbrennung" findet im wörtlichen Sinne nicht statt. Doch ist am Ende keiner, der nicht zugrunde gegangen wäre als der, der er sein könnte und sein müßte, auch zum Wohle der anderen in der Gesellschaft. In einer beispielhaft beherrschten, geradezu klassischen Sprache werden die zahlreichen Konflikte in diesem Buch sinnlich und dramatisch. Der Dialog verrät den Stückeschreiber, die Anschaulichkeit des Schauplatzes macht das Geschehen real, packend.


    So richtig verlockend klingt das nicht, sondern ziemlich sperrig. Aber: 190 Seiten. Und als Leihgabe. Könnte ich mal versuchen. Auf meinen Büchereizettel habe ich es notiert.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Nu, @Marie, für mich klingt das doch sehr verlockend wegen Themenüberschneidungen usw. Da haben wir nun drei Bücher hier zusammengefunden, und ich glaube, da gibt's für mich einen Autoren mehr zu erforschen! Eieiei!
    @buechereule hat das Buch ziemlich positiv bewertet. Vielleicht ein paar Worte dazu, oder eine noch mögliche Rezi???