Klappentext:
In Brüssel laufen die Fäden zusammen – und ein Schwein durch die Straßen. Fenia Xenopoulou, Beamtin in der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission, steht vor einer schwierigen Aufgabe. Sie soll das Image der Kommission aufpolieren. Aber wie? Sie beauftragt den Referenten Martin Susman, eine Idee zu entwickeln. Die Idee nimmt Gestalt an – die Gestalt eines Gespensts aus der Geschichte, das für Unruhe in den EU-Institutionen sorgt. David de Vriend dämmert in einem Altenheim gegenüber dem Brüsseler Friedhof seinem Tod entgegen. Als Kind ist er von einem Deportationszug gesprungen, der seine Eltern in den Tod führte. Nun soll er bezeugen, was er im Begriff ist zu vergessen. Auch Kommissar Brunfaut steht vor einer schwierigen Aufgabe. Er muss aus politischen Gründen einen Mordfall auf sich beruhen lassen; »zu den Akten legen« wäre zu viel gesagt, denn die sind unauffindbar. Und Alois Erhart, Emeritus der Volkswirtschaft, soll in einem Think-Tank der Kommission vor den Denkbeauftragten aller Länder Worte sprechen, die seine letzten sein könnten. In seinem neuen Roman spannt Robert Menasse einen weiten Bogen zwischen den Zeiten, den Nationen, dem Unausweichlichen und der Ironie des Schicksals, zwischen kleinlicher Bürokratie und großen Gefühlen. Und was macht Brüssel? Es sucht einen Namen – für das Schwein, das durch die Straßen läuft. Und David de Vriend bekommt ein Begräbnis, das stillschweigend zum Begräbnis einer ganzen Epoche wird: der Epoche der Scham. (Suhrkamp-Verlagsseite)
Zum Autor:
Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und promovierte im Jahr 1980 mit einer Arbeit über den »Typus des Außenseiters im Literaturbetrieb«. Menasse lehrte anschließend sechs Jahre - zunächst als Lektor für österreichische Literatur, dann als Gastdozent am Institut für Literaturtheorie - an der Universität São Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen über philosophische und ästhetische Theorien ab, u.a. über: Hegel, Lukács, Benjamin und Adorno. Seit seiner Rückkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als Literat und kulturkritischer Essayist hauptsächlich in Wien. (Suhrkamp-Verlagsseite)
Allgemeine Informationen:
Abschnittweise aus verschiedenen Perspektiven der Haupzpersonen erzählt
Prolog, elf Kapitel, Epilog
459 Seiten
Träger des Deutschen Buchpreises 2017
Meine Meinung:
Natürlich sind wir froh, dass sich die europäischen Länder seit 1945 nicht mehr bekriegen und gegenseitig zu vernichten trachten. Natürlich sind wir froh, dass die europäischen Länder sich vertraglich zusammengeschlossen haben. Natürlich sind wir froh, Europäer zu sein.
Trotzdem leidet die EU unter dem Ruf, vor allem sich selbst zu verwalten.
Menasse bestätigt das Vorurteil: Konferenzen, Meetings, Termine – daraus besteht der Tagesablauf der meisten EU-Angestellten. Aufgaben werden von oben nach unten durchgereicht. Entscheidungen verzetteln sich zwischen nationalen Interessen. Was in den Kommissionen diskutiert und beschlossen wird, fällt im Parlament durch. Arbeit vertan, Energie vertan, Lebenszeit vertan.
Ein Schwein läuft durch Brüssel, verursacht einen Medienrummel. Besteht Gefahr für die Bevölkerung durch ein frei laufendes Schwein? Soll man ihm nicht einen Namen geben? Das Schwein generell – nicht nur dieses eine konkrete – wird zum wieder kehrenden Motiv des Romans.
Ein Mann wird in einem Hotel umgebracht, doch dem zuständigen Kommissar wird der Fall entzogen, denn es darf keinen Fall geben.
Derweil rüstet man sich in den europäischen Kommissionen für ein Jubiläum, um das angeschlagene Image bei der Bevölkerung zu retten. Fenia, die bei der Kommission für Kultur arbeitet, delegiert die Planung an den Österreicher Martin Susmann, von Hause aus Archäologe. Für die europäische Kultur arbeiten nur diejenigen, die es nicht in die wichtigen Sparten wie Wirtschaft oder Finanzen geschafft haben. Susmanns Bruder ist Vorsitzender im Schweinezuchtverband und will die Unterstützung der EU für seine Geschäfte mit China.
Man sollte sich beim Jubiläum an die unrühmliche Vergangenheit, v.a. den Holocaust erinnern und sich der heutigen besseren Zeiten freuen; schließlich ist die EU Garant für Frieden, Freiheit und Würde. Doch einer der letzten Überlebenden, David de Vriend, ist gerade ins Seniorenheim gezogen und kämpft gegen seine Demenz.
Alois Erhart, emeritierter Professor für Ökonomie, soll einen Vortrag vor einem Think-Tank halten.
Jeder Figur ordnet der Autor einen Handlungsstrang zu; diese Stränge laufen parallel, kreuzen sich einmal oder ständig und laufen am Ende lose zusammen oder bleiben offen.
Mit zwinkerndem Auge, oft bissig und mit ironischem Unterton erzählt Menasse. „Deutsche Unterwäsche ist das Beste für Auschwitz!“ – braucht Mann für eine KZ-Besichtigung im strengen Winter.
Oder, als Schrift auf einem Aschenbecher mit Afrikaner-Karikatur „Le Congo recoit la civilisation belge“ (der Kongo erhält die belgische Zivilisation).
Es sind die kleinen eingestreuten Sätze ebenso wie die großen Handlungszusammenhänge, die den Esprit des Buches ausmachen.
„Die Hauptstadt“ ist sicher kein leichtes Lesevergnügen. Aber ein Vergnügen ist das Buch. Und das ist mehr als man von vielen Prämierten des Deutschen Buchpreises sagen kann.