London, 1888 - Audrey Rose ist ein Mädchen aus gutem Elternhaus. Sie liebt schöne Kleider und wird von ihrem Vater gehütet wie sein Augapfel. Denn dieser hat für ihr liebstes Hobby so gar nichts übrig: in ihrer Freizeit assistiert die 17-Jährige nämlich ihrem Onkel bei der Obduktion von Leichen und wälzt dicke Fachbücher zu Pathologie und Forensik. Eines Tages lernt sie, als junger Mann verkleidet, in der Vorlesung ihres Onkels den mysteriösen, aber faszinierenden Thomas Cresswell kennen. Beide fühlen sich sofort voneinander angezogen, liefern sich aber gleichzeitig unerbittliche wissenschaftliche Diskussionen und Machtkämpfe. Der selbstverliebte Dandy und die freiheitsliebende junge Frau - das scheint so gar nicht miteinander vereinbar zu sein. Und dann liegt auch noch das erste Opfer des Rippers auf Onkels Seziertisch und Audrey Rose weiß auf einmal nicht mehr, wem sie noch trauen kann.
"Stalking Jack the Ripper" ist der Debutroman der Autorin Kerri Maniscalco und das erste Werk, das in James Pattersons Imprint "JIMMY Patterson" für junge Leser erschien. Um es gleich vorwegzunehmen: ich liebe den Roman! Die Charaktere muss man einfach gern haben. Vor allem Audrey Rose ist in ihren Ansichten so herrlich erfrischend und modern. Natürlich schlägt ihr stets eine Welle der Entrüstung entgegen, wenn sie ihrer Leidenschaft, der Wissenschaft, nachgehen will. Vor allem Audreys Vater würde seine Tochter am liebsten einsperren, hat er doch erst einige Jahre zuvor seine Frau, Audreys Mutter verloren. Nur denkt das Töchterchen gar nicht daran, sich in einen goldenen Käfig sperren zu lassen oder sich etwas nur aufgrund ihres Geschlechts verbieten zu lassen. Sofern man etwas nur fest genug will, kann man es auch erreichen - da ist Audrey Rose sich sicher. Überhaupt macht sie beim Öffnen eines Brustkorbs oder eines Schädels eine deutlich bessere Figur, als so mancher männliche Zeitgenosse. Einen ebenbürtigen Gesprächs-, aber auch Streitpartner findet sie in Thomas. Er wirkt zu Beginn etwas spröde, das Bild, das der Leser von ihm gewinnt, rundet sich aber nach und nach ab. Eine herrliche Nebenfigur ist Audreys Cousine Liza - äußerlich ein echtes Püppchen, innerlich eine kleine Feministin, die ihre Mutter gerne mal vor Wut rot anlaufen lässt.
Die Ripper-Morde benutzt Maniscalco als Hintergrund. Manches ist historisch korrekt, manches biegt sie im Sinne der Geschichte etwas zurecht. (Wie genau, das kann man alles im Nachwort nachlesen.) Die Atmosphäre des Romans ist spannend und mitreißend, man kann sich geradezu vorstellen, wie dunkle Gestalten durch die nächtlichen Straßen von London schleichen und der Nebel sich über der Themse erhebt. Vor allem der Ausflug nach Bedlam, die gefürchtete Psychatrie Londons, hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Die Auflösung am Ende hatte sich für mich zwar schon angedeutet, aber manchmal geht es ja nicht nur um das "Was", sondern auch um das "Wie" und "Warum". Fans von Jack the Ripper, London, der Forensik und starken Protagonistinnen werden hier hoffentlich auf ihre Kosten kommen. Die Liebesgeschichte nimmt keinen allzu großen Raum ein, die Kriminalhandlung bleibt stets im Vordergrund. In Band 2 bricht Audrey Rose übrigens nach Rumänien auf und ich bin schon mittendrin.