Daniel Kehlmann - Tyll

  • Wir müssen aufpassen, dass wir mit unsern Vorfahren nicht im Nachhinein praktisch dasselbe machen, wenn wir ihren (vermeintlichen) Aberglauben, ihre Zaubersprüche und "Erscheinungen" verachten….
    Ich habe diese Betrachtung keinem von Euch unterstellt, es war mir jetzt einfach nur wichtig, darauf hinzuweisen, weil dieses Herabsehen viel zu schnell passiert, wenn man es sich nicht bewusst macht.

    Ich weiß, dass Du mir das nicht unterstellen wolltest. :wink: Aber ich wollte auch ganz sicher mit meinem Post und der Bezeichnung "Aberglauben" nichts herabsetzen. Wenn man auch nur ansatzweise versucht sich vorzustellen, wie v.a. arme Menschen damals lebten, so ist einfach klar, dass dieser "Aberglauben" für sie essentiell war um mit ihrer harten Realität leben zu können, sich Schicksale, Seuchen, was auch immer zu erklären. Wir sind heute doch viel zu verweichlicht, um uns in damalige Verhältnisse hineinzudenken - und trotzdem suchen wir auch nach Erklärungen für Dinge, die wir nicht genau verstehen.

  • Wir sind heute doch viel zu verweichlicht, um uns in damalige Verhältnisse hineinzudenken - und trotzdem suchen wir auch nach Erklärungen für Dinge, die wir nicht genau verstehen.

    Besser hätte ich es nicht formulieren können :thumleft: Ich stimme dir da voll und ganz zu. Der Begriff Aberglaube ist ja oft negativ belastet, aber er ist heute doch noch immer ein fester Bestandteil unseres Lebens. Man hängt über den Jahreswechsel keine Wäsche auf, man klopft 3x auf Holz, um Unglück abzuwenden . .. und so ließen sich noch mehr Beispiele zu nennen.

    Gelesen in 2024: 9 - Gehört in 2024: 6 - SUB: 626


    "Wenn der Schnee fällt und die weißen Winde wehen, stirbt der einsame Wolf, doch das Rudel überlebt." Ned Stark

  • Trotz allem, was ich gestern gesagt habe: Die Toleranz, die ich gestern beschworen habe, hat eine Grenze, und die ist dort, wo Menschen (wegen eines Irrglaubens, wie wir heute wissen) getötet werden. Das ist mir klar geworden, als ich gestern vor dem Einschlafen vom Prozess gelesen habe, der mich bis in die Träume verfolgt hat.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Für mich stellt es sich ungefähr so dar: Kehlmann benutzt die Zeit des dreißigjährigen Krieges praktisch als dunkle Bühne. Dann nimmt er eine Anzahl von Archtypen und lässt diese immer wieder in Spotlights aufleuchten. In immer neuen Kombinationen und Situationen. Dadurch entstehen Gedankenbilder und Spinnereien, die dann im nächsten Bild entweder weitergeführt, verneint oder widerlegt werden. So spielt Kehlmann mit unserer Phantasie, lässt uns aber eben auch oft allein mit der dunklen Bühne. Dass die Figuren relativ real sind, gibt dem Spiel noch ein wenig Tiefe und eben eine historische Komponente, aber es bleibt eine Komponente. Denn natürlich beschreibt er nichts Überkommenes, denn das Handeln, Denken und Fühlen der Personen ist zeitlos, was wieder durch das Irrlichtern Tylls deutlich wird.

  • Kehlmann benutzt die Zeit des dreißigjährigen Krieges praktisch als dunkle Bühne.

    Das meinte ich, als ich den Großen Krieg als Hintergrundfolie bezeichnete.
    Es geht nicht um den Krieg, sondern um das Verhalten von Menschen.
    Der Begriff "Irrlichtern" gefällt mir gut, so sehe ich das auch, und
    zu diesem Irrlichtern passt dann auch die Gesamtkomposition: die Auflösung in
    einzelne Versatzstücke.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich habe das Buch nicht gelesen und es befindet sich bisher auch noch nicht auf meiner Wunschliste.
    Aber die Diskussion über den Roman finde ich ganz großartig @all, und ich verfolge sie sehr gerne.
    So müssen/sollen/können Gespräche über Literatur aussehen :thumleft: .

  • Mir geht es wie @SiriNYC es begeistert mich hier die unterschiedlichen Ansichten zu diesem Roman lesen zu können. Manchmal wird einem erst hinterher doch noch einiges bewusst, welches man beim lesen gar nicht so sehr in den Vordergrund stellte.
    Persönlich werde ich irgendwann das Buch von Clemens J. Setz lesen um zu erfahren wie er sich mit Till Eulenspiegel auseinander setzt.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Wenn Ihr das so positiv seht - dann trau ich mich nochmal :)


    Beim Aufräumen hatte ich heute das Buch von Ricarda Huch in den Händen: "Der Große Krieg in Deutschland",
    das dann später umbenannt wurde in "Der Dreißigjährige Krieg".
    Ein richtig altes Buch, kurz vor Ausbruch des I. Weltkriegs geschrieben.
    Die Hauptperson in Huchs Buch ist der "Generalissimus Tod", der bevorzugt die kleinen
    Leute heimsucht in Form von Marodeuren, von Hunger und Krankheit.
    Das hat mich an TYLL erinnert.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich habe jetzt 300 Seiten gelesen. Eine Frage beschäftigt mich: Warum hat Kehlmann den nicht in dieser Zeit lebenden Till Eulenspiegel als Zentralfigur eingesetzt? Hätte es nicht irgendein fiktiver Narr ebenso getan, den der Autor eigens für das Buch entwickelt hätte? :-k


    Hat jemand eine Idee? Ich lasse mich gern überzeugen, dass der Narr Eulenspiegel sein MUSS. :)

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  • Zum einen denke ich, dass Kehlmann ähnliche Gedanken hatte, als er in Tyll und nicht Till genannt hat. Dann glaube ich, dass er wollte, dass man sofort was hat, was man sich vorstellen kann, eine bildliche Vorstellung von so einem Narren. Zusätzlich hat er ja auch hier mit Versatzstücken gearbeitet, ich denke da an die Geschichte mit den Schuhen.
    Ein Quentchen PR mag auch dabei gewesen sein, dass man beim Titel direkt an etwas Schelmisches denkt. Ansonsten ist die Figur ja selbst entwickelt. - So reime ich es mir zusammen.

  • Ja, @Klaus V., das wäre eine Möglichkeit. So ganz zufrieden lässt sie mich nicht zurück, aber vielleicht wird der Autor selbst noch irgendwann etwas dazu sagen.


    Die Geschichte mit dem sprechenden Esel ist auch so ein Versatzstück.


    Dieses Buch habe ich in den Tiefen meines Regals gefunden. Ungelesen. "Marxistische Neubearbeitung" sagt ein Amazon-Rezensent.

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  • Hätte es nicht irgendein fiktiver Narr ebenso getan, den der Autor eigens für das Buch entwickelt hätte?

    Vielleicht deshalb, weil vermutlich so ziemlich jeder Deutsche mit dem Namen "Till Eulenspiegel" etwas anfangen kann, während ein Titel wie "Der Narr Eberhard" kaum dieselbe Aufmerksamkeit geweckt hätte wie "Tyll". Durch die modifizierte Schreibweise grenzt Kehlmann seinen Protagonisten gleichzeitig etwas vom (semi-?)historischen Vorbild ab.

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Ich habe jetzt 300 Seiten gelesen. Eine Frage beschäftigt mich: Warum hat Kehlmann den nicht in dieser Zeit lebenden Till Eulenspiegel als Zentralfigur eingesetzt? Hätte es nicht irgendein fiktiver Narr ebenso getan, den der Autor eigens für das Buch entwickelt hätte?

    Genau diese Frage werde ich Daniel Kehlmann nächste Woche bei der Lesung stellen, wenn er sie nicht von sich aus beantwortet.

    "Marxistische Neubearbeitung" sagt ein Amazon-Rezensent.

    Durchaus möglich bei Christa Wolf. Wäre aber vielleicht auch mal mehr als einen Blick hinein wert...

    Vielleicht deshalb, weil vermutlich so ziemlich jeder Deutsche mit dem Namen "Till Eulenspiegel" etwas anfangen kann, während ein Titel wie "Der Narr Eberhard" kaum dieselbe Aufmerksamkeit geweckt hätte wie "Tyll". Durch die modifizierte Schreibweise grenzt Kehlmann seinen Protagonisten gleichzeitig etwas vom (semi-?)historischen Vorbild ab.

    Er hätte ja auch einen ganz anderen Titel wählen können. Ich muss sagen, dass gerade die modifizierte Schreibweise für mich ein Hinweis auf die historische Person war. Wir schreiben ja heute viele Dinge anders als damals. Für mich war das (völlig gedankenlos) einfach die korrekte Schreibweise des Namens.

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  • Für mich war das (völlig gedankenlos) einfach die korrekte Schreibweise des Namens.

    Das müsste dann aber "Tyl" sein, soweit ich weiß? :-k
    Auf jeden Fall ist es gut, wenn Du Kehlmann direkt fragen kannst. Er müsste ja erklären können, was er sich dabei gedacht hat. :wink:

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  • Eine Frage beschäftigt mich: Warum hat Kehlmann den nicht in dieser Zeit lebenden Till Eulenspiegel als Zentralfigur eingesetzt?

    Ich glaube, weil die Figur Till Eulenspiegel so viel Negatives in sich vereint - jedenfalls im Original. Er entwickelt sich nicht, ist boshaft und zynisch, seine Streiche sind nicht wirklich lustig - er ist einfach negativ, so wie Krieg negativ ist. Da Kehlmann ihn in dem einen Artikel sogar als "Soziopath" bezeichnet, verkörpert er als Figur all die Grausamkeit des Krieges. Das kommt auch in dem anderen Artikel aus der Zeit zur Sprache, da sagt Kehlmann, dass Till für ihn den Krieg verkörpert und er das z.B. in der Szene mit Wolkenstein so auch gewissermaßen ausdrückt: er lässt Tyll sagen "Für Dich ist der Krieg nichts, Du bist zu weich. Aber für mich" (aus dem Gedächtnis zitiert). Auch äußerlich passt seine Beschreibung des Tyll, der ja stets hager, fast abgemagert ist, für mich dazu.
    @Hirilvorgul ich bin echt gespannt, was Kehlmann dazu sagt. :wink:


    Genau diese Frage werde ich Daniel Kehlmann nächste Woche bei der Lesung stellen, wenn er sie nicht von sich aus beantwortet.

    oh, gehst Du zur Lesung in Tübingen? Dann viel Spaß - mir ist das unter der Woche leider zu weit, aber der Rest meines Lesekreises geht auch hin *Neid*

  • oh, gehst Du zur Lesung in Tübingen?

    Ja :cheers: Diesmal hab ich mir auch rechtzeitig eine Karte besorgt. Bei Ursula Poznanski letztes Jahr in Nürtingen war ich zu spät.
    Ich glaube, ich werde es so machen wie du letztes Jahr bei Robert Corvus: einfach mal unsere Diskussion hier ausdrucken und mir die Fragen und strittigen Punkte anstreichen. Dann kann sich Herr Kehlmann mal warm anziehen :wink:

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  • einfach mal unsere Diskussion hier ausdrucken und mir die Fragen und strittigen Punkte anstreichen. Dann kann sich Herr Kehlmann mal warm anziehen

    gute Idee, dann geht auch nix vergessen :loool: hab ich das echt gemacht letztes Jahr? Ich werde alt, hab ich doch glatt schon wieder vergessen :uups:

  • Zumindest hattest du den ausgedruckten Thread dabei :lol:

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    "Wenn der Schnee fällt und die weißen Winde wehen, stirbt der einsame Wolf, doch das Rudel überlebt." Ned Stark

  • Hier tauchen immer neue Fragen auf zu diesem Roman. Ich habe euch ein sehr interessantes Gespräch anzubieten Gespräch mit Daniel Kehlmann (Man muss die Datei nicht unbedingt runterladen, sondern kann direkt angehört werden, auf jeden Fall ich habe es in dieser Form mir angehört)
    Insbesonders die Eingangsworte, sind sehr aufschlussreich.
    Freue mich sehr was für Antworten @Hirilvorgul mitbringen wird.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • weil die Figur Till Eulenspiegel so viel Negatives in sich vereint

    Echt jetzt? Meinst Du den Till Eulenspiegel, wie man ihn kennt, oder die Figur des Buches? :-k Ich besaß ein Kinderbuch mit Geschichten von Eulenspiegel und fand sie sehr vergnüglich.

    Diesmal hab ich mir auch rechtzeitig eine Karte besorgt.

    :mrgreen: NEID :mrgreen: Ich bin gespannt, was Du erzählen wirst. :bounce:

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