Marie-Hélène Lafon – Nos vies

  • Original : Französisch, 2017


    INHALT :
    « Meine Augen sind gut und ich vergesse so gut wie nichts. Und was ich vergesse, das erfinde ich. Ich habe das immer gemacht, das war meine Rolle in der Familie bis hin zum Tode von Großmutter Lucie, dem echten Tode, dem zweiten. Sie wollte keinen anderen ihr zu erzählen, sie sagte, dass sie mit mir besser sehe als vor dem Schlaganfall. »
    Ein Supermarkt in Paris. Sie sind zu dritt : die Betrachterin ; Gordana, die Kassiererin und der noch junge Mann, der dabei bleibt, jeden Freitag bei Kasse 4, bei Gordana, durchzugehen. Die Erzählerin ist Jeanne Santoire. Durch sie belebt sich hier alles. Sie stellt sich vor, nimmt an, was das Leben der anderen ist, heute, morgen oder in der Vergangenheit. Und dann erzählt sie auch aus ihrem eigenen Leben, immer und immer wieder : Tochter von Kaufleuten in der Provinz, hatte sie eine blinde Großmutter. Sie arbeitete als Buchhalterin und hatte einen Mann geliebt, der sie verlassen hat.
    (Quelle: franz.Verlagstext von Buchet-Chastel, Behelfsübersetzung von mir, leicht gekürzt)


    BEMERKUNGEN:
    Die meisten bisherigen Romane (alle?) der Autorin spielen im ländlichen Bereich, dem sie sehr verbunden bleibt (ich hatte hier : Marie-Hélène Lafon – Joseph schon mal einen kommentiert). Hier sieht es zunächst anders aus : Paris! Die Hauptstadt! Pulsierendes Leben ! Aber was wäre, wenn Menschen, wie eben die Ich-Erzählerin Jeanne, hier eigentlich gelandet sind, aber ursprünglich auch aus einem anderen Rahmen kommen ? Jeanne ist den Gegenden nahe vertraut, die andere Romane von Lafon prägen, und letztlich auch ihre eigenen Ursprünge. Jeanne hat auch einen Nachnamen, der an einen Fluss aus der Heimat von Lafon erinnert ! Rentnerin, alleine lebend, ohne Kinder, ist sie wie ein seltener Fremdkörper, wenn sie ab und zu die Brüder und ihre Familien besucht. Doch da ist ihre unglaubliche Fähigkeit, nicht einfach zu fabulieren, aber die lückenhaften Eindrücke vom Leben anderer zu füllen und auszumalen : In Gordana, der thronenden, imposanten und schweigenden Kassiererin - ziemlich sicher am Ende des Eisernen Vorhangs irgendwo im fernen Osten Europas geboren - sieht sie eine ganze Geschichte. Kleinste Informationen und Eindrücke nähren ihre Vorstellung von dem, was jener Lebenslauf wohl war und ist. Und so ist es auch mit jenem regelmässigen Einkäufer jeden Freitags, der stets gerade und wohl absichtlich bei Gordana seine Waren bezahlt. Jeanne unterscheidet in ihnen gewisse Sehnsüchte, aber auch Schmerzen, Einsamkeiten. Ist diese Form der Vorstellungskraft aber quasi krankhaft, oder nicht vielmehr ein Zeichen tiefster Empathie ? Wie ziehen wir die anderen so unbewusst, oder eben bewusst, aus ihrer Anonymität heraus, verleihen ihnen ein Gesicht, eine Geschichte, eine Identität?


    Man könnte auch erahnen, dass die Sensibilität von Jeanne aus den eigenen Wunden herrührt. Da, wo sie – sicherlich näher dran an konkreten Tatsachen und Gewußtem – dann im Wechsel zu dem « Erdachten » aus ihrem eigenen Leben erzählt oder denen der ihr Nahestehenden, erweist sie sich wirklich als gute Beobachterin und beschreibt manchmal ein Wesensmerkmal eines Menschen in einigen guten Bemerkungen.


    Ein Werk über städtische Einsamkeit, ja, aber auch über eine Form der Sensibilität, die nicht so sehr Neugier und Sensationslust ist als vielmehr Aufmerksamkeit ?!


    AUTORIN:
    Marie-Hélène Lafon wurde 1962 in Aurillac (Cantal) in einer Bauernfamilie geboren.Sie lebte dort bis zu ihrem 18. Lebensjahr, und war Pensionärin in einem von Ordensschwestern geleiteten Internat. Dann ging sie zum Studium nach Paris. Sie ist eine französische Schriftstellerin und unterrichtet derzeit Klassische Literatur in einem Pariser Vorort, wo sie auch lebt.


    Inzwischen hat sich diese Autorin schon ein schönes Werk erschrieben und ist in Frankreich recht anerkannt (natürlich nicht ungeteilt). Sie erhielt bereits verschiedene Preise und sollte mal so langsam den Weg in die deutsche Verlegerlandschaft finden.


    (Weitere Infos auch auf der Autorenseite ihres französischen Verlages : http://www.buchetchastel.fr/fiche-auteur146 )


    Broché: 192 pages
    Editeur : Buchet-Chastel (24 août 2017)
    Collection : LITT FRANCAISE
    Langue : Français
    ISBN-10: 2283029767
    ISBN-13: 978-2283029763

  • Auch nach dem Lesen des Buches hallt eine Atmosphäre nach. Man erzählt ja nie alles in einer Rezi, doch von einem wollte ich noch schreiben. Auffällig ist: die Gegenwart der alltäglichen (oder auch -jährlichen) Rhythmen, Festtagen, die Wiederholungen mancher Gewohnheiten, der Gesten des Alltags wie auch zB von Besuchen etc. Bei Lafon ist dies überhaupt nicht verbunden mit häßlichen Abnutzungserscheinungen, der Langeweile der Personen oder einer Flucht ins Schemahaftige. Wir finden bei ihr das Beruhigende, Sanfte, ja Zärtliche und Festartige manchen wiederkehrenden Tuns. Als Kontrapunkt zu jeglicher Feindschaft und Ablehnung zu einer gewissen Form der Routine sehr interessant, und mehr noch: schön!


    Es liegt eine Sanftheit in den Routinen, mit denen man die Zeit verbringt, die Schmerzen, das Leben. Die Morgengesten zB, die allerersten, wenn man vom Bett aufsteht, das Radio im Hintergrund,, der Gürtel des Bademantels, das runde Blau der Gasflamme unter dem Kessel, die abgenützten Spitzen der Pantoffeln, die mit den Fingern sich entwirrenden Haare… Die Gesten des Morgens lassen uns in den Tag eintreten, sie ordnen die Welt, sie fehlten, wenn etwas sie verhindern würde und man wäre gestört. Und mehr als alle anderen ist es schwer, sie (mit) zu teilen.
    Marie-Hélène Lafon – Nos vies (Behelfsübersetzung von mir)