George Saunders - Lincoln im Bardo / Lincoln in the Bardo

  • Kurzmeinung

    Mojoh
    Ein sehr interessanter, innovativer und spannender Stil. Tolles Buch, traurig und fröhlich zugleich.
  • Kurzmeinung

    Farast
    Das Buch feiert das Leben! Leichter zu lesen wie es der erste Eindruck war.
  • Klappentext von der Verlagsseite:


    The American Civil War rages while President Lincoln’s beloved eleven-year-old son lies gravely ill. In a matter of days, Willie dies and is laid to rest in a Georgetown cemetery. Newspapers report that a grief-stricken Lincoln returns to the crypt several times alone to hold his boy’s body.


    From this seed of historical truth, George Saunders spins an unforgettable story of familial love and loss that breaks free of realism, entering a thrilling, supernatural domain both hilarious and terrifying. Willie Lincoln finds himself trapped in a transitional realm – called, in Tibetan tradition, the bardo – and as ghosts mingle, squabble, gripe and commiserate, and stony tendrils creep towards the boy, a monumental struggle erupts over young Willie’s soul.


    Unfolding over a single night, Lincoln in the Bardo is written with George Saunders‘ inimitable humour, pathos and grace. Here he invents an exhilarating new form, and is confirmed as one of the most important and influential writers of his generation. Deploying a theatrical, kaleidoscopic panoply of voices – living and dead, historical and fictional – Lincoln in the Bardo poses a timeless question.

    Autoreninfo von der Verlagsseite:


    George Saunders is the author of nine books, including the No. 1 New York Times bestselling novel Lincoln in the Bardo and the short story collection Tenth of December, which was a finalist for the National Book Award, won the inaugural Folio Prize (for the best work of fiction in English) and the Story Prize (best short-story collection). He has received MacArthur and Guggen­heim fellowships and the PEN/Malamud Prize for excellence in the short story, and was recently elected to the American Academy of Arts and Sciences. In 2013, he was named one of the world’s 100 most influential people by Time magazine. He teaches in the creative writing program at Syracuse University.

    Erster Satz:


    On our wedding day I was forty-six, she was eighteen.


    Meinung:


    George Saunders „Lincoln in the bardo“ ist anders als die von mir gewohnten Romane. Er schreibt klar und strukturiert, was auch ein Genuss ist. Es ist verständlich und in vielen Stellen auch melodisch.
    Dennoch hat es mich überrascht, das keine wörtliche Rede vorkommt. Kenntlich gemacht, wer spricht, wird nicht durch die von mir geliebten Anführungszeichen, sondern durch die Namensnennung am Ende des Satzes. Somit hat „Lincoln in the bardo“ den Stil eines Theaterstücks.


    Aber nicht nur dies ist ungewöhnlich, sondern auch die &-Zeichen, die immer wieder anstatt das ausgeschriebene Wort vorkommen. So etwas irritiert mich und ich werte es unter künstlerische Freiheit.
    Ein stückweit überlege ich mir immer noch wohin die künstlerische Leistung von George Saunders liegt, denn ein Buch soll nicht nur kurios aufgemacht sein, sondern auch für mich in meinen Augen einen Mehrwert haben. Worauf ich hinaus will ist, dass neben den Theaterstückelementen, noch viele Zitate angefügt werden, die ganze Kapitel ausmachen und damit den Großteil der Handlung ausmachen. So hatte stellenweise, das Gefühl, eine wissenschaftliche Biographie zu lesen, anstatt einen Roman.


    So hat „Lincoln in the bardo“ für mich keine richtige Gattungszuordnung. Er ist etwas Theaterstück, dann Sachbuch, wobei es wirklich eine Aneinanderreihung der Zitate ist.
    Die literarische Leistung von George Saunders sehe ich im Theaterstückelement, welches wirklich gelungen ist. Darin beschreibt er die Zwischenwelt, der Übergang zwischen Leben und Tod. Dieser Teil ist melodisch und man erlebt mit wie William Lincoln, der Sohn von Abraham Lincoln, in die Zwischenwelt übergeht. Dieser Teil ist tiefsinnig und auch traurig, wenn die Geister von ihrem früheren Leben und dann von ihrem Leben in der Zwischenwelt erzählen, und weshalb sie noch nicht in die andere Welt übergegangen sind. Ich musste öfters schlucken. Das waren dann die Moment, in denen mich das Buch überzeugt hat. Tja, und dann kam wieder ein Wechsel.


    Die beiden Stilelemente wechseln sich immer ab. Wenn man gerade glaubt, noch eine Weile in der Zwischenwelt verbleiben zu können und Williams weiteren Weg mit Rückblicken auf sein junges kurzes Leben zu verfolgen, wechselt schon wieder der Stil. Dann wird es wieder sachlich und ich erfahre, wie Abraham Lincoln mit dem Tod seines geliebten Sohnes umgeht und trauert. Das wird leider durch den Sachbuchstil sehr distanziert geschrieben und hat mich zwar neugierig gemacht und ich habe es auch sehr interessiert gelesen, aber es hat mich nicht so mitgenommen auf die literarische Reise wie die Zeit in der Zwischenwelt.


    Zusammengenommen liegt in meinen Augen, die literarische Leistung in der Verknüpfung von zwei Gattungselementen zu einem Roman. Wer sich auf abrupte Wechsel einstellen kann und dies auch mag, sich ebenso für Abraham Lincoln interessiert, demjenigen kann ich das Buch empfehlen. Wer glaubt einen Roman zu lesen, der im Erzählstil gehalten ist, dem muss ich allerdings abraten das Buch zu erwerben, denn dann folgt eine Enttäuschung.


    Fazit


    Enttäuscht hat mich „Lincoln in the bardo“ nicht, aber es hat mich auch nicht so beeindruckt, wie ich es erwartet hätte, wenn es für einen so wichtigen Literaturpreis nominiert wird und ihn schließlich auch bekommt.


    Bewertung:

    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    Liebe Grüße von der buechereule :winken:


    Im Lesesessel


    Kein Schiff trägt uns besser in ferne Länder als ein Buch!
    (Emily Dickinson)



    2024: 010/03.045 SuB: 4.302

    (P/E/H: 2.267/1.957/78)

  • Danke für Deine Eindrücke!


    Ich hatte schon vor einiger Zeit ein paar Besprechungen zu dem Buch gelesen und den Eindruck gewonnen, dass es sehr künstlerisch-gewollt daherkommt. Du machst mir jetzt Mut, es vielleicht doch mal damit zu probieren, zumal ich das Thema sehr interessant finde.

  • Zitat von buechereule

    Die literarische Leistung von George Saunders sehe ich im Theaterstückelement, welches wirklich gelungen ist

    Die Struktur, die Du schilderst, macht mich sehr neugierig. Ich habe gerade gegoogelt: Voraussichtlich im Mai 2018 soll es den Roman auf Deutsch bei Luchterhand geben.

  • Die Struktur, die Du schilderst, macht mich sehr neugierig. Ich habe gerade gegoogelt: Voraussichtlich im Mai 2018 soll es den Roman auf Deutsch bei Luchterhand geben.

    Dann bin ich mal auf die Übersetzung gespannt, wie sie das Umsetzen. Gerade der Theaterstückteil ist toll gemacht. Wirst du es dann lesen?

    Liebe Grüße von der buechereule :winken:


    Im Lesesessel


    Kein Schiff trägt uns besser in ferne Länder als ein Buch!
    (Emily Dickinson)



    2024: 010/03.045 SuB: 4.302

    (P/E/H: 2.267/1.957/78)

  • Danke für Deine Eindrücke!


    Ich hatte schon vor einiger Zeit ein paar Besprechungen zu dem Buch gelesen und den Eindruck gewonnen, dass es sehr künstlerisch-gewollt daherkommt. Du machst mir jetzt Mut, es vielleicht doch mal damit zu probieren, zumal ich das Thema sehr interessant finde.

    Den Eindruck hatte ich zu Beginn auch. Was habe ich mich am Anfang geärgert und habe es ja auch in der Besprechung gesagt, aber es ist halt doch gut gemacht. Zumindest der Theaterteil. Das andere ist für mich ein zu starker Wechsel.

    Liebe Grüße von der buechereule :winken:


    Im Lesesessel


    Kein Schiff trägt uns besser in ferne Länder als ein Buch!
    (Emily Dickinson)



    2024: 010/03.045 SuB: 4.302

    (P/E/H: 2.267/1.957/78)

  • Zitat von buechereule

    Dann bin ich mal auf die Übersetzung gespannt, wie sie das Umsetzen. Gerade der Theaterstückteil ist toll gemacht. Wirst du es dann lesen?

    Ja, das habe ich auf jeden Fall vor. Ich setze die englische Ausgabe auf meine Wunschliste, damit ich es nicht vergesse :) .

  • Ja, das habe ich auf jeden Fall vor. Ich setze die englische Ausgabe auf meine Wunschliste, damit ich es nicht vergesse :) .

    Dann bin ich auf deine Meinung gespannt, vor allen Dingen auf die Arbeit des Übersetzers.

    Liebe Grüße von der buechereule :winken:


    Im Lesesessel


    Kein Schiff trägt uns besser in ferne Länder als ein Buch!
    (Emily Dickinson)



    2024: 010/03.045 SuB: 4.302

    (P/E/H: 2.267/1.957/78)

  • Bin schon sehr gespannt auf den ersten Roman von George Saunders. Bisher habe ich 3 Bücher mit seinen Kurzgeschichten gelesen und bin ein absoluter Fan dieses Autors.
    Ich kenne keinen anderen Autor der dermaßen verrückte, surreale, groteske Geschichten erzählt. Er seziert die kaputte amerikanische Gegenwart regelrecht in seinen, manchmal nur eine Seite langen, Stories. Da gibt es Eltern die ihren Babys Sprachmasken aufsetzen um mit ihnen sprechen zu können. Menschen die in Freizeitparks Urzeitmenschen spielen und in ihrer Höhle per Fax mit ihren Angehörigen kommunizieren und kurz vor dem Verhungern sind. Es kommen, wie selbstverständlich, Unterhaltungen mit Geistern vor. Total gestörte Menschen, die ihre niedersten Instinkte ausleben und und und. Genau das also was ich unter guter Unterhaltung verstehe und leider viel zu selten zu lesen bekomme.

    Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away. PKD

  • Bin schon sehr gespannt auf den ersten Roman von George Saunders. Bisher habe ich 3 Bücher mit seinen Kurzgeschichten gelesen und bin ein absoluter Fan dieses Autors.
    Ich kenne keinen anderen Autor der dermaßen verrückte, surreale, groteske Geschichten erzählt. Er seziert die kaputte amerikanische Gegenwart regelrecht in seinen, manchmal nur eine Seite langen, Stories. Da gibt es Eltern die ihren Babys Sprachmasken aufsetzen um mit ihnen sprechen zu können. Menschen die in Freizeitparks Urzeitmenschen spielen und in ihrer Höhle per Fax mit ihren Angehörigen kommunizieren und kurz vor dem Verhungern sind. Es kommen, wie selbstverständlich, Unterhaltungen mit Geistern vor. Total gestörte Menschen, die ihre niedersten Instinkte ausleben und und und. Genau das also was ich unter guter Unterhaltung verstehe und leider viel zu selten zu lesen bekomme.

    Das klingt vielversprechend! Erinnert mich inhaltlich an den sehr guten, obwohl (oder besser weil) extrem verstörenden Kurzgeschichtenband "Das Spukhaus" von Joyce Carol Oates.

  • Ich habe Eure Kommentare gelesen und hier nun mein Senf dazu!


    Produktinformation:

    448 Seiten, gebundene Ausgabe

    Luchterhand Literaturverlag

    14.05.2018

    Originaltitel: Lincoln in the bardo

    Übersetzung: Frank Heibert

    Klappentext:

    Während des amerikanischen Bürgerkriegs stirbt Präsident Lincolns geliebter Sohn Willie mit elf Jahren. Laut Zeitungsberichten suchte der trauernde Vater allein das Grabmal auf, um seinen Sohn noch einmal in den Armen zu halten. Bei George Saunders wird daraus eine allumfassende Geschichte über Liebe und Verlust, wie sie origineller, faszinierender und grandioser nicht sein könnte.

    Im Laufe dieser Nacht, in der Abraham Lincoln von seinem Sohn Abschied nimmt, werden die Gespenster wach, die Geister der Toten auf dem Friedhof, aber auch die der Geschichte und der Literatur, reale wie erfundene, und mischen sich ein. Denn Willie Lincoln befindet sich im Zwischenreich zwischen Diesseits und Jenseits, in tibetischer Tradition Bardo genannt, und auf dem Friedhof in Georgetown entbrennt ein furioser Streit um die Seele des Jungen, ein vielstimmiger Chor, der in die eine große Frage mündet: Warum lieben wir überhaupt, wenn wir doch wissen, dass alles zu Ende gehen muss?


    Mein Leseeindruck:

    Der erste Eindruck betrifft die Erzählform. Eine Aneinanderreihung von Zitaten? Kein Roman, sondern ein Drama? Als Leser däumelt man das Buch durch und sieht: das bleibt so. Man staunt. Es gibt keinen Erzähler. Stattdessen gibt es eine unüberschaubare Menge an Personen, die zitiert werden. Alles sauber belegt, aber keine Bibliografie im Anhang? Ich habe darauf verzichtet, die angegebenen Quellen zu verifizieren, denn darum geht es in dem Buch nicht.


    Aus der Fülle der Zitate setzt sich die Geschichte zusammen. Eine Kritik bei amazon bezieht sich darauf, dass diese Art zu erzählen dem Leser einiges abverlangt. Das finde ich wiederum nicht; die Geschichte erschließt sich problemlos. Der eigentliche Plot ist schnell erzählt und historisch verbürgt. Die Geschichte spielt auf dem Oak Hill- Friedhof in Washington, in einer einzigen Nacht im Februar 1862 (20.02.1862), mitten im Sezessionskrieg. Abraham Lincoln, republikanischer Präsident, Gegner der Sklavenhaltung, verliert durch Typhus seinen 11jährigen Sohn Willie, den er offensichtlich besonders liebte. Nach der Beisetzung kehrt Lincoln daher in die Gruft zurück, um seinen Sohn noch einmal in den Armen zu halten und sich von ihm zu verabschieden.


    Hier setzt nun Saunders an. Der Friedhof ist alles andere als friedlich. Ein vielstimmiger Chor erhebt sich: Verstorbene aus allen Zeiten, allen Schichten, allen Ethnien, die sich im Bardo befinden. Bardo ist ein Begriff aus dem tibetanischen Totenbuch und bezeichnet die buddhistische Vorstellung eines Zwischenreichs zwischen dem physischen Tod und dem Jenseits, wobei dieses Zwischenreich sich wiederum in vielerlei Bewusstseinsstufen aufteilt. Allen Geistern (des Buchs) gemeinsam ist die Tatsache, dass sie ihr Leben noch nicht abgeschlossen haben, sie klammern sich an ihr Leben, bejammern versäumte Gelegenheiten und unerfüllte Wünsche an das Leben in der vormaligen Welt. Sie wiederholen sich ihre Biografien und befinden sich ihrer Ansicht nach in „Krankenkisten“ in der Hoffnung, wieder in das Leben zurückkehren zu können.


    Kindern gelingt es schnell, dieses Zwischenreich zu verlassen, ihnen bleibt die Verzweiflung erspart, sie trennen sich leichter vom Leben. Umso verwunderlicher ist es, dass sich der kleine Willie im Bardo aufhält: er klammert sich an das Versprechen seines Vaters zurückzukommen und wartet auf ihn: „Mein Vater war hier und hat versprochen zurückzukommen. … Ich versuche durchzuhalten.“


    Die Geister können in den trauernden Vater hineinfahren und geben seine Gedanken wieder, und so erfahren wir, dass Lincoln nicht nur den Tod seines Sohnes beweint, sondern auch den Tod so vieler anderer Söhne durch den Sezessionskrieg. Mit großer Empathie gelingt es Saunders, Lincolns Seelenlage zu spiegeln: nicht nur seine persönliche Trauer, sondern auch seine Zweifel an seinen politischen Entscheidungen, mit denen er viel Leid über viele Familien gebracht hat. Ein sehr anrührendes Kapitel, in dem die Geister den trauernden Vater mit dem Sohn im Schoß beschreiben, eine männliche Pieta...


    Hier fügt Saunders Zitate aus Briefen, Zeitschriften etc. ein, die zeigen, welcher Kritik der Präsident damals ausgesetzt war. Er nutzt die Gelegenheit und lässt in wenigen Zitaten ein Panorama der Zeit und der Gesellschaft entstehen. Am Rande sei hier angemerkt, dass Saunders durch die Aneinanderreihung teils widersprüchlicher Aussagen zu ein und demselben Thema auf die Subjektivität der Geschichtsschreibung verweist. Ein witziges Detail zum Schluss: Lincoln nimmt, quasi aus Versehen, die Seele eines Schwarzen mit: „Das hatten wir geschafft, wir alle, weiß wie schwarz, hatten ihn trauriger gemacht mit unserer Traurigkeit. … Lasst uns los, Sir, lasst uns ran, lasst uns zeigen, was wir können.“ Lincoln selber erlebte die Aufhebung der Sklaverei nicht mehr, er wurde drei Jahre nach dem Tod seines Sohnes ermordet und neben ihm bestattet.


    Aus dem Chor ragen drei zentrale Geister heraus, die die Handlung vorantreiben und dafür Sorge tragen, dass Lincoln den Tod seines Sohnes annehmen, ihn loslassen und Willie einen anderen Bewusstseinszustand annehmen kann. Über sie erfährt der Leser auch mehr. Saunders lässt sie das Schicksal und den Seinszustand anderer Toten kommentieren, er lässt sie nachdenken über ihren eigenen Tod und ihr Leben, und er stattet sie mit Merkmalen aus, die ihre unerfüllten Lebenswünsche dokumentieren (teilweise peinlich-witzig…).


    Das Buch hat durchaus seine witzigen Seiten. Die Figuren sind phantasievoll ausstaffiert, ihre kurzen Gesprächsfetzen sind oft sarkastisch, sie widersprechen und streiten sich, aber sie rufen sich auch liebevoll zur Ordnung. Und immer wieder sorgt Ironie dafür, dass der Ernst des Themas (das einen nachdenklich zurücklässt) nicht überhandnimmt. Auch Neologismen wie "flitzschweben" sorgen für Heiterkeit.

    Kurz: ungebremste Lesefreude und Entdeckerfreude in diesem ungewöhnlichen Buch.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: (mehr geht leider nicht)






    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich liebe es Literatursendung sowohl zu hören wie zu sehen. Somit sah ich heute morgen Das literarische Quartett im ZDF.

    Unter andern wurde dieses Buch besprochen. Die Kritikerrunde waren sich so was von einig, eine ganz spezielle Geschichte gelesen zu haben. Ein tolles Buch. Und nach dem zusätzlichen lesen der Rezension von drawe freue ich mich auf die Lektüre.


    Hört rein in die Sendung, welche dieses Mal sehr entspannt und mit interessanten Vorstellungen aufwartete. Sogar Martin Schulz ist erträglich :wink:

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Unter andern wurde dieses Buch besprochen

    Ich habe die Sendung auch gesehen, im Nachhinein,

    und was meinst Du, wie ich mich gefreut habe, dass

    dieses Buch so gut wegkam! Thea Dorn bezeichnete die

    Lektüre als "Pfingstwunder".

    Ich habe es inzwischen zum 2. Mal gelesen und müsste meine Rezension oben ergänzen:

    das Buch feiert das Leben und die Schönheit der Welt.


    Und, stimmt, ja: Martin Schulz hat mir mit seinen Anmerkungen und Beurteilungen gut gefallen.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Squirrel

    Hat den Titel des Themas von „George Saunders - Lincoln in the bardo“ zu „George Saunders - Lincoln im Bardo / Lincoln in the bardo“ geändert.
  • Ein unglaublicher Ansatz: Die Handlung wird von Figuren getragen, die tot sind, aber in ihrem irdischen Leben etwas Unvollendetes zurück gelassen haben, von dem sie sich nicht lösen können. So erleben sie sich nicht als tot, sondern als krank und glauben, auf eine Rückkehr zu warten.

    Diese Figuren sind keine Gespenster, keine Zombies, keine Untoten, sondern Menschen, die nicht mehr leben.


    Es sind vor allem drei Figuren im Mittelpunkt; es gibt keinen Erzähler; der gesamte Ablauf wird von Sätzen, Kurzdialogen und knappen Schilderungen der drei vorangebracht. Chapeau Mr Saunders, dass und wie das funktioniert!


    Abraham Lincoln ist zwar die elementare Figur, aber im Grunde ein Statist. Um ihn herum wirbelt das „tote Leben“; er ist starr in seiner Trauer.

    Insofern herrscht trotz der Stille auf dem Friedhof ein unbeschreiblicher Lärm. Auf dem Höhepunkt des wilden Reigens entwickelt sich ein Totentanz wie man ihn von Gemälden und alten Stichen kennt.


    Doch damit nicht genug. Saunders schafft obendrein noch einen Blick in die Politik. In einer Ecke des Friedhofs sind Schwarze in einem Massengrab verscharrt, viele von ihnen auch im Bardo unterwegs, melden sich zu Wort. Der Sezessionskrieg tobt seit zwei Jahren und fordert viele Opfer: Lincoln weiß, dass deren Eltern ebenso trauern müssen wie er selbst. Unumstritten ist er als Präsident nicht, und er muss ein gespaltenes Land im Krieg regieren, während er als Vater schon wieder den schlimmstmöglichen Verlust erleidet. Bereits 12 Jahre zuvor hatte er seinen zweiten Sohn verloren.

    So viele Themen in einem Roman anzuschneiden, geht oft schief. Hier nicht.


    Saunders gelingt in diesem Roman vieles, was an anderen Büchern missfällt: Eine x-fache Ich-Perspektive ausschließlich als wörtliche Rede, nicht verifizierbare Zitate über Lincoln, Wortschöpfungen; zusammenfassend: Eine Erzählung aus einem für Menschen nicht nachvollziehbaren, sinnlich nicht erlebbaren „Lebens“umfeld. Und Humor, der hilft, das Ganze für Leser erträglich zu machen.


    Welch ein Buch! Welch ein Autor! Bis jetzt Nr.1 auf meiner Bestenliste 2018.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Es freut mich, dass Dich das Buch auch so begeistert.

    Die Nähe zum ikonografischen Totentanz war mir auch aufgefallen, und zwar nach der Lektüre von Seethalers "Das Feld",

    siehe hier. Und beim Schreiben fällt mir Goethes Ballade "Der Totentanz" ein: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Totentanz


    Im Nachhinein wurde mir erst klar, dass gerade der demokratische Aspekt dieses Totentanz-Motives von Saunders so

    unauffällig-schön-elegant betont wird. Ist das nicht eine gute Idee, dass eine der schwarzen Seelen quasi aus Versehen

    Lincoln in die Welt hinein (hinaus?) begleitet?


    Ich habe das Buch zweimal gelesen, und das will was heißen. Erst nach dem zweiten Lesen und dann auch im Vergleich mit dem Seethaler-Buch habe ich die Schönheit der Saunderschen Sprache richtig wahrgenommen. Jede Seele hat ihre eigene Sprache - während bei Seethaler eigentlich keine großen Unterschiede

    auffallen. Sogar der arabische Gemüsehändler spricht (na gut, etwas blumiger ist er schon) wie sein Autor.


    Mich hat schon lange kein Buch mehr so beeindruckt wie dieses, ist mir so nach- und nahegegangen.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich habe das Buch zweimal gelesen, und das will was heißen.

    Ich werde mir das Buch, auch wenn ich es jetzt schon gelesen habe, selbst kaufen, kann aber warten, bis das Taschenbuch auf den Markt kommt. Zwar habe ich mir vorgenommen, kein Buch mehr zu kaufen, das ich bereits gelesen habe, weil trotz des großen Hauses die Regale überquellen, aber hier muss ich eine Ausnahme machen.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • So, hier nun noch meine Meinung.



    Zur Form:

    Im erstem Kapitel habe ich mir noch die Mühe gemacht und nachvollzogen, ob es sich bei dem Zitaten um historisch belegte Quellen handelt. Alle genannten Bücher, Tagebuchaufzeichnungen etc. existieren wirklich.

    Es entsteht ein interessanter Effekt, wie schon drawe schrieb: Erinnerungen sind subjektiv und Erinnerungen täuschen. Während z.B. der eine Zeitzeuge Lincolns Augen als blau und klar in Erinnerung hat, beschreibt sie der Nächste als braun und sanft. Mal schien der Mond in jener Nacht, mal heißt es, es sei wolkenverhangen gewesen.


    Zu diesen vielen realen Stimme der Geschichtsschreiber kommen in anderen Kapiteln die vielen Stimmen der Toten. Jeder Tote hat seine eigene Färbung, je nachdem, wann und unter welchen Umständen er gestorben ist. Manche reden derben Slang, manche feinstes Schriftamerikanisch, manche reden nur in Bruchstücken, manche überschlagen sich regelrecht.


    Zusätzlich verwenden die Toten viele Wortschöpfungen, wie „Krankenkiste“ statt „Sarg“ , „Krankengestalt“ statt „Leiche“, „flitzschweben“, „trabschweben“, „gehschweben“ für ihre verschiedenen Arten der Fortbewegung oder auch den schönen Begriff „Verschmierklecksung“.


    Inhalt:

    Gruselig, schaurig :-?. Diese Zwischenwelt, in der die Toten leben, die sich nicht vom Leben trennen können und die nicht einsehen wollen, dass sie tot sind (und daher nie die Worte „Sarg“ und „Leiche“ benutzen), ist schauderhaft. So schauderhaft - schön, dass ich im Wechsel dachte „Oh, nein.“ und „Mehr, mehr!“. Denn jeder von ihnen trägt sein Thema, das er im Leben nicht verarbeitet hat, mit sich. Es ist ihnen sogar in ihre Gestalt hineingeschrieben, so dass hier keine schönen Geister einen Reigen tanzen, sondern ein Tummelplatz von grotesken Erscheinungen entsteht.

    Ganz schlimm trifft es die Kinder, die sich nicht trennen können. Ihre Metamorphose ist schrecklich. Marie , drawe bzw. wer das Buch sonst noch frisch in Erinnerung hat: Wie habt ihr diese Szenen empfunden, mit Willie und der kleinen Traynor?


    Es gibt dennoch auch viele humorvolle Sequenzen und natürlich kommt die Politik nicht zu kurz. In einem Kapitel sind Auszüge aus Briefen zusammengefasst, die Lincoln nach den ersten schweren Verlusten im Bürgerkrieg erreichten: Shitstorms gab es damals schon.


    Zitat von Marie

    Bis jetzt Nr.1 auf meiner Bestenliste 2018.

    Ebenso!


    PS:

    Dies ist übrigens ein Buch, das sich m.E. sehr gut für einen Lesekreis eignet.

    Ich hätte zwischendurch auch immer wieder Redebdarf gehabt, besonders wegen der Art und Weise wie Saunders Sterben und Tod beschreibt.

  • Dies ist übrigens ein Buch, das sich m.E. sehr gut für einen Lesekreis eignet.

    Ich hätte zwischendurch auch immer wieder Redebdarf gehabt, besonders wegen der Art und Weise wie Saunders Sterben und Tod beschreibt.

    Da stimme ich Dir zu. Mich hat dieses Buch emotional sehr gepackt und dadurch auch Folge-Lektüren ausgelöst. Vor allem die verschiedenen Bewusstseinszustände haben mich direkt verstört, dieses Vegetativ-Werden, wenn man sich nicht weiterentwickelt, und da hätte ich gerne andere Meinungen gehört.

    Es hindert uns ja niemand, wenn wir uns hier austauschen - ich werde die Stellen mit den Kindern nochmals nachlesen.

    Hast Du die Seitenzahlen parat?

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Zitat von drawe

    Es hindert uns ja niemand, wenn wir uns hier austauschen - ich werde die Stellen mit den Kindern nochmals nachlesen.

    Hast Du die Seitenzahlen parat?

    Wenn wir immer brav spoilern, wo es nötig ist O:-).


    Die erste Begegnung zwischen Willie und Traynor, Seiten 50 - 54,

    Der Beginn von Willies Metamorphose, Seite 140 - 146

    und am Ende Seite 427 ff - da bekomme ich jetzt nochmal Gänsehaut, ein Wahnsinn, so etwas zu Papier zu bekommen.

  • Zusätzlich verwenden die Toten viele Wortschöpfungen, wie „Krankenkiste“ statt „Sarg“ , „Krankengestalt“ statt „Leiche“, „flitzschweben“, „trabschweben“, „gehschweben“ für ihre verschiedenen Arten der Fortbewegung oder auch den schönen Begriff „Verschmierklecksung“.

    Ja, ein besonderer Applaus für Frank Heibert, den Übersetzer. :pray: Genial, wie er Worte erfindet und neu zusammensetzt und damit die Bilder im Kopf des Lesers bewegt. "Gehschweben" sieht in meiner Phantasie ganz anders aus als gehen oder schweben.


    Der "Aufenthalt" im Nicht-Totenreich ist bedrückend geschildert: Es bewegt sich nichts, es kann sich nichts mehr entwickeln, es geht weder vorwärts noch rückwärts.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)